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Inhalt

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Titel

François Truffaut: Wiederbegegnung mit Henri-Pierre Roché

I - Jules und Jim

I - Jules und Jim

II - Jim in München

III - Die drei Schönen

IV - Gertrude

V - Jules und Lucie

VI - Lucie und Jim

VII - Magda

VIII - Odile

IX - In den Dünen

X - Lucie in Paris

XI - Lucie und Odile

XII - Lucies Reisen

XIII - Das archaische Lächeln

XIV - Die Krähen

II - Kathe

I - Kathe und Jules

II - Der Sprung in die Seine

III - 1914: Krieg. 1920: Die Villa

IV - Albert. Das Lagerfeuer

V - Kathe und Jim. Annie 122

VI - Die Lokomotive. In der Stadt

VII - Gilberte. Albert. Fortunio

VIII - Das Edgar-Poe-Häuschen

IX - Der schwarze Spaziergang

III - Bis ans Ende

I - Bruch?

II - Der weiße Pyjama. Im Lande Hamlets

III - Vergeltungsakte. Venedig

IV - Die Ostseeinsel

V - Das Zimmer des Glücks

VI - Paul

VII - Knirschen und Krachen

VIII - Zerrissenheit

IX - Der klirrende Schlüssel

X - Der zweite Sprung in die Seine

XI - Das Krematorium

Autorenporträt

Übersetzerporträt

Über das Buch

Impressum

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François Truffaut

Wiederbegegnung mit Henri-Pierre Roché1

Den Roman Jules und Jim von Henri-Pierre Roché habe ich 1955 entdeckt, unter lauter Sonderangeboten, die vor der Buchhandlung Stock an der Place du Palais-Royal in einer Kiste auslagen.

Das Buch war zwei Jahre zuvor erschienen, doch ohne Beachtung zu finden: Man hatte es weder gepriesen noch verrissen, Rezensionen waren Mangelware, wie so oft bei Autoren, die noch keiner kennt. Was mir ins Auge stach, war der Titel: Jules und Jim! Der Klang dieses doppelten Js gefiel mir auf Anhieb. Und als ich das Exemplar umdrehte, weil ich den »Waschzettel« lesen wollte, stellte ich fest, dass der Verfasser, Henri-Pierre Roché, 1879 geboren und Jules und Jim sein erster Roman war. Na so was, dachte ich, dieser literarische Anfänger ist nun 76 Jahre alt! Was mag ein Mann dieses Alters wohl für einen Debütroman vorlegen?

Von den ersten Zeilen an habe ich mich rettungslos in die Prosa von Henri-Pierre Roché verliebt. Damals war Jean Cocteau mein Lieblingsschriftsteller, wegen seiner temporeichen Sätze, ihrer trügerischen Härte und der Genauigkeit seiner Bilder. Mit Henri-Pierre Roché entdeckte ich einen Autor, der auf mich noch eindrücklicher wirkte als Cocteau, weil er mit einem sparsameren Vokabular eine vergleichbare Art von poetischer Prosa erzeugte, indem er aus alltäglichen Wörtern ganz knappe Sätze bildete. Rochés Stil ruft gerade durch die Aussparung Emotionen hervor, durch Lücken, durch jedes Wort, das er sich versagt – durch die Ellipse an sich. Als ich später Manuskriptseiten von Henri-Pierre Roché unter die Lupe nahm, wurde mir klar, dass sich sein vermeintlich naiver Stil dem gewaltigen Anteil an gestrichenen Wörtern und Sätzen verdankt. Auf einer ursprünglich komplett mit seiner runden Schuljungenschrift bedeckten Seite ließ er schließlich nur sieben oder acht Sätze stehen, die ihrerseits um zwei Drittel gekürzt waren. Jules und Jim ist ein Liebesroman im Telegrammstil, aus der Feder eines Dichters, der seine Bildung vergessen machen will und seine Worte und Einfälle genau so setzt, wie es ein wortkarger und bodenständiger Bauer tun würde.

Kein Wunder, dass sich meine Begeisterung für Jules und Jim auch auf die Figuren und ihre Abenteuer erstreckte. Ich lebte ausschließlich für das Kino und zog den Büchern Filme vor, jede Woche sah ich mir rund sechzehn bis zwanzig an. Als Filmkritiker der Wochenzeitschrift Arts, Spectacles hatte ich das Glück, meine Leidenschaft ausleben zu können. Bei der Lektüre von Jules und Jim hatte ich das Gefühl, genau mit dem Fall konfrontiert zu sein, an dem die Filmkunst regelmäßig scheiterte: Zwei Männer lieben dieselbe Frau, ohne dass die »Zuschauer« für eine bestimmte Figur Partei ergreifen können, weil ihnen alle drei gleichermaßen ans Herz wachsen. Vor allem diese Unvoreingenommenheit hat mich an der Geschichte berührt, die der Verlag als »reine Liebe zu dritt« präsentierte.

Als ich mir ein paar Monate später ein amerikanisches B-Movie ansah, das mich ebenfalls begeisterte, The Naked Dawn von Edgar Ulmer, einen Western, der Innenwelten sichtbar macht, musste ich wieder an Jules und Jim denken, und so schrieb ich in meiner Filmrezension: »Einer der schönsten Gegenwartsromane, die ich kenne, ist Jules und Jim von Henri-Pierre Roché, er erzählt uns von einer Liebe, die ein Leben lang währt, zwischen zwei Freunden und ihrer gemeinsamen Gefährtin, zärtlich und beinahe reibungslos, dank einer neuartigen, ästhetischen Vorstellung von Moral, die immer wieder abgewogen wird. The Naked Dawn ist der erste Film, der mir zeigt, dass eine filmische Version von Jules und Jim durchaus denkbar ist.«

Eine Woche später erhielt ich diesen Brief: »Lieber François Truffaut. Ihre paar Zeilen über Jules und Jim haben mich sehr berührt, vor allem die Stelle ›… dank einer neuartigen, ästhetischen Vorstellung von Moral, die immer wieder abgewogen wird‹. Hoffentlich finden Sie in Die beiden Engländerinnen und der Kontinent dieselbe Vorstellung wieder, sogar in noch stärkerem Maße, ich lasse Ihnen das Buch demnächst zukommen. Henri-Pierre Roché.«

Ich antwortete ihm, und von da an wechselten wir ziemlich regelmäßig Briefe, bis zum Tod von Henri-Pierre Roché, also drei Jahre lang. Zwei- oder dreimal besuchte ich ihn zu Hause in Meudon. Der Zug fuhr direkt an seinem Garten vorbei. Henri-Pierre Roché war inzwischen 77 Jahre alt. Er war sehr groß und schlank, hatte die gleiche Sanftmut wie seine Figuren und eine starke Ähnlichkeit mit Marcel Duchamp, auf den er ständig zu sprechen kam. Die Malerei war Henri-Pierre Rochés große Leidenschaft gewesen. Er hatte André Derain gekannt, Francis Picabia, Henri Rousseau, Max Ernst, Georges Braque (gegen den er im Ring geboxt hatte), er war mit Marie Laurencin liiert gewesen, er hatte den Amerikanern Picasso nahegebracht, vierzig Jahre danach hatte er Wols entdeckt und sein Leben lang Marcel Duchamp bewundert, den er im Übrigen zum Helden seines dritten Romans Victor gemacht hatte (der Roman wurde nie vollendet, aber 1977 vom Centre Pompidou veröffentlicht).

***

Kehren wir ins Jahr 1956 zurück. In einem meiner ersten Briefe schreibe ich Roché, sollte ich eines Tages Filme machen, würde ich gern Jules und Jim drehen. Ihm gefällt diese Idee. Wir kommen überein, dass ich zu gegebener Zeit das Drehbuch entwerfe und er die Dialoge verfasst, und zwar »locker und dicht«, wie er selbst sagt. Am 23. November 1956 schreibt er mir: »Haben Sie Mein Liebhaber heiratet von Thora Dardel gelesen? Es ist großartig, vermutlich nirgends aufzutreiben. Ich leihe es Ihnen gern. Ich habe es 1905 übersetzt, und auch ein russisches Theaterstück, Onkel Wanja, von Tschechow. Damals war ich meiner Zeit voraus. Keiner wollte es machen. So war es auch 1906 mit Schnitzlers Reigen

Im Dezember 1957, mit 78 Jahren, nimmt Henri-Pierre Roché die Fahrt auf sich, um meinen ersten Kurzfilm zu sehen, Die Unverschämten, und verfasst spontan einen kurzen Text, den er in Arts veröffentlichen möchte, aber ich traue mich nicht, ihn drucken zu lassen, weil ich der Filmkritiker dieser Zeitschrift bin. Ich erkläre Henri-Pierre Roché, dass es immer noch mein sehnlichster Wunsch ist, Jules und Jim zu verfilmen, dieses Vorhaben mir für einen Anfänger aber zu schwierig erscheint und ich daher zunächst Sie küssten und sie schlugen ihn drehen will. Obwohl er das nachvollziehbar findet, schickt er mir am 28. Dezember einen Brief, dem ich als egoistischer Fünfundzwanzigjähriger nicht die gebührende Beachtung schenke: »Ich würde mich freuen, den Tag noch zu erleben, an dem Sie Jules und Jim in Angriff nehmen. Ich möchte alles hautnah verfolgen. Melden Sie sich, wenn Sie einen Anlass oder einen Vorwand für ein Treffen finden.«

Weil ich meine, zwischen Rochés Weisheit und Jean Renoirs abgeklärter Haltung eine Verbindung zu erkennen, schicke ich ihm eine alte Ausgabe der Cahiers du Cinéma. In seinem Brief vom 18. März 1958 schreibt er mir: »Vielen Dank für Ihr ›Gespräch mit Jean Renoir‹. Für mich ist das eine Offenbarung. Es ist so klug, lehrreich, bewegend, mitreißend, menschlich, aufrichtig.« Dann berichtet er mir von seinem Sohn Jean-Claude, der ihn mit wachsendem Stolz erfüllt: »Mein Sohn arbeitet in der Camargue. Seine ersten Filmversuche haben ihm bereits Einladungen ins Ausland und Erfolge beschert, unter Biologen (Jean Rostand, Jean Painlevé), aber auch wegen ihrer puren Schönheit, den Farben und der leidenschaftlichen Beobachtungsfreude (denkwürdige Paarungsrituale bei Insekten). Er würde sie Ihnen sehr gern zeigen.«

Als er mir ein Exemplar von Die beiden Engländerinnen und der Kontinent widmete, fügte Roché einen Satz ein, den ich aus der Erinnerung zitiere – sollte dieser zweite Roman ebenso erfolglos bleiben wie Jules und Jim, werde er der Literatur entsagen. Dennoch schrieb er mir am 22. Oktober 1958: »Dann muss ich eben ein drittes Buch schreiben, das sich schließlich durchsetzt! Tatsächlich habe ich schon damit angefangen, manches könnte Ihnen vom Rhythmus her durchaus zusagen, aber ich habe den Grundgedanken noch nicht gefunden, der das Ganze zusammenhält.« Es handelte sich natürlich um den bereits erwähnten Roman Victor, der zunächst Totor heißen sollte.

Dann kommt der Winter 1958–59. Ich drehe Sie küssten und sie schlugen ihn. Jean-Claude Brialy erscheint für einen einminütigen freundschaftlichen Gastauftritt, in einer Nachtaufnahme an der Rue du Faubourg-Montmartre, und bringt als Überraschung Jeanne Moreau mit, die ich bereits in einer Theaterinszenierung von Die Katze auf dem heißen Blechdach bewundert habe.

Und so improvisieren wir eine kleine Szene, aufgrund von Regen und Kälte ist sie schnell gedreht. Ich bin von dieser Schauspielerin hingerissen und schicke Henri-Pierre Roché vier Fotos, um seine Meinung einzuholen. Am 3. April 1959 antwortet er mir: »Mein lieber junger Freund, so ein schöner Brief! … Herzlichen Dank für die Fotos von Jeanne Moreau. Sie gefällt mir. Ich bin froh, dass sie Kathe mag! Ich würde sie gern einmal kennenlernen, ja, Sie können mich jederzeit besuchen, ich erwarte Sie.«

Diesen Brief bekomme ich am 5. April, vier Tage später stirbt Henri-Pierre Roché, auf sanfteste Weise, aufrecht in seinem Bett, während man ihm eine ganz alltägliche Spritze setzt.

***

1961 brachte ich es endlich fertig, Jules und Jim zu drehen. Der Autor war nicht mehr da, um seine »lockeren und dichten« Dialoge zu verfassen, aber Jean Gruault und ich gaben uns alle Mühe, ihm treu zu bleiben, und so ist Jules und Jim wahrscheinlich der einzige Film der Nouvelle Vague, der einen so ausführlichen Erzählerkommentar enthält; aus dem Off gelesen, ist er fast zur Gänze direkt aus dem Buch entnommen.

Beim Drehen und Schneiden des Films kam es immer wieder vor, dass ich das Drehbuch beiseiteschob, meine Romanausgabe aufschlug und mir diesen oder jenen fabelhaften Satz notierte, den es »unbedingt zu erhalten«, also in die Tonspur aufzunehmen galt.

Weil dieses Vorwort ja dazu dient, den Autor von zwei wunderbaren Romanen einem größeren Publikum vorzustellen, werde ich mich hier nicht über die von Angst und freudigem Überschwang geprägte Atmosphäre während der Dreharbeiten zu Jules und Jim auslassen. Ich möchte lediglich festhalten, dass Jeanne Moreau mir jedes Mal wieder Mut machte, wenn mich Zweifel überkamen. Ihre herausragenden Eigenschaften als Schauspielerin und als Frau ließen Kathe – nun in Catherine umbenannt – vor unseren Augen Gestalt annehmen, glaubhaft, verrückt, maßlos, hingebungsvoll, vor allem jedoch anbetungswürdig, im wahrsten Sinne des Wortes. Die Rolle Jules’ hatte ich mit dem österreichischen Schauspieler Oskar Werner besetzt, der sie meisterlich interpretierte. Jim wurde von dem Debütanten Henri Serre verkörpert, einem großen, schlanken Schauspieler, redlich und sanft. Ich hatte ihn wegen seiner Ähnlichkeit mit Henri-Pierre Roché ausgewählt.

Der vollendete Film kam Anfang 1962 in die Kinos, mit dem schönen Kurzwerk Vies d’Insectes von Jean-Claude Roché als Vorfilm, in dem gezeigt wird, wie Libellen sich paaren. Jules und Jim wurde auf Anhieb zum Erfolg, was mich in doppelter Hinsicht freute, weil der Roman neun Jahre nach seinem Erscheinen nun endlich zum Bestseller und bald ins Englische, Spanische, Italienische und Deutsche übersetzt wurde.

Jeanne Moreau und ich erhielten unzählige Briefe, beileibe nicht nur aus Frankreich. Überall gaben junge Mütter ihren Neugeborenen die Namen Jim, Jules oder Catherine. Und jetzt, achtzehn Jahre später, darf ich mir wohl die Freiheit nehmen, aus dem wichtigsten dieser Briefe zu zitieren, ich habe ihn von einer alten Dame erhalten, die unter dem Namen Kathe die wahre Heldin von Jules und Jim gewesen ist, ihr galt die lange währende Liebe, die beide Freunde verband:

»Als ich im dunklen Kinosaal saß und anfänglich mit einer Maskerade rechnete, mit mehr oder weniger irritierenden Ähnlichkeiten und Parallelen, wurde ich sehr bald von der Magie mitgerissen, die Sie und Jeanne Moreau entfalten. Damit erwecken Sie eine Geschichte wieder zum Leben, die ursprünglich blindlings vollzogen wurde. Dass Henri-Pierre Roché unsere Erlebnisse zu dritt so wirklichkeitsgetreu zu schildern vermochte, ist nicht weiter verwunderlich. Aber was hat Sie im Innersten dazu befähigt, unsere intimsten Regungen so sensibel zu erfassen – allen unvermeidbaren Abweichungen und Kompromissen zum Trotz? Was das anbetrifft, bin ich Ihre einzige qualifizierte Kritikerin, denn die beiden anderen Zeugen sind nicht mehr imstande, Ihnen ihre Zustimmung zu bekunden.«

Beim Betrachten des Films fühlte sich Jean Cocteau wieder an Henri-Pierre Roché erinnert, und er schrieb mir: »Ich habe den Autor dieses Buchs, das du da verfilmt hast, sehr gut gekannt. Er war der feinsinnigste, edelmütigste Mensch, den man sich denken kann.«

Ich hatte also die Anerkennung der realen Catherine, aber ich dachte vor allem an den realen Jim. Henri-Pierre Roché konnte die Früchte seines eigenen Baums nicht mehr ernten, was mir immer mehr zusetzte. Ich war überzeugt, ich wäre zu jung, um mit der Kamera das zu vollbringen, was Roché mit seinem Kugelschreiber erreicht hatte. Was mich bei der Lektüre am meisten beeindruckt hatte, waren ja genau diese fünfzig Jahre Abstand zwischen dem Erlebten und dem Bericht des Erzählers. Dabei war mir ein solches Gefühl durchaus nicht unvertraut, denn ich hatte in meiner Jugend, hauptsächlich während der deutschen Besatzung, schmerzliche und bedrückende Dinge erlebt, die mich zehn Jahre später im Rückblick zum Lächeln brachten. Beim Dreh von Jules und Jim war ich noch keine dreißig, und ich hatte mich keineswegs bemüht, einen jungen Film zu machen, sondern ganz im Gegenteil einen Greisenfilm, und ich wusste nicht recht, ob mir das gelungen war!

***

Die Jahre vergingen, ich dachte oft an Henri-Pierre Roché zurück und las Die beiden Engländerinnen und der Kontinent mindestens einmal jährlich wieder, aus reinem Vergnügen. Ich kam gar nicht auf die Idee, diesen Roman zu verfilmen, weil es sich dabei nicht um eine lineare Erzählung handelt, sondern um eine Reihe von unterschiedlichen fiktiven Texten, die als reale Zeugnisse ausgegeben werden: Tagebucheinträge, Briefe, Selbstgespräche. An mehreren Stellen teilt Roché die Seite in zwei Spalten ein, um die Tagebucheinträge der einen oder anderen Schwester den Einträgen von Claude, dem Helden (der natürlich mit dem Autor identisch ist), gegenüberzustellen. Wie bei Jules und Jim ist auch hier der Stoff autobiografisch, und Denise Roché hat mir eines Tages verraten, dass die Anne aus dem Buch später Bühnen- oder Kostümbildnerin für die Ballets Russes von Serge Diaghilev geworden war.

Dieser Roman ist zwar nach Jules und Jim entstanden, aber die Handlung spielt davor. Claude ist noch kaum erwachsen, während Jim ein reifer Mann war. Weil die Protagonisten aus Die beiden Engländerinnen jünger sind als die von Jules und Jim, klingt in ihrer Geschichte etwas Schmerzlicheres, Akuteres an. Der große zeitliche und räumliche Abstand, der die Erzählweise von Jules und Jim so besonnen und gelassen macht, fehlt in den Beiden Engländerinnen, deren Liebesgeschichten in einem fiebrigen, herzzerreißenden Stil vor unseren Augen wieder aufleben.

Den großen Unterschied zwischen beiden Romanen bringt Henri-Pierre Roché selbst sehr klar zum Ausdruck, wenn er in seinem Begleittext zu den Beiden Engländerinnen schreibt: »Dieser Roman ist verdienstvoller als Jules und Jim. Die Tagebucheinträge sind durch und durch ehrlich.«

Mit der Zeit gelangte ich zu dem Schluss, dass die Beiden Engländerinnen als Werk noch gelungener war als Jules und Jim, aber ich hielt es nach wie vor für unverfilmbar, weil die drei Hauptfiguren praktisch nie zusammen auftreten und ihre stärksten Empfindungen nicht unmittelbar zeigen, sondern über Briefe vermitteln.

1971 erlitt ich meine erste Depression, einen Nervenzusammenbruch, der mir einen Klinikaufenthalt zwecks Schlafkur bescherte. Ich hatte nur ein einziges Buch dabei, die Beiden Engländerinnen, und las darin, wann immer ich aufwachte! Ich fing an, mir Randnotizen zu machen, wie bei jedem meiner Filmvorhaben, und irgendwann hatte ich die Entscheidung getroffen: Ich würde diese unselige Klinik verlassen, mich mit meinem Freund Jean Gruault einschließen und mich an die Arbeit machen.

Uns schwebte ein Film vor, der sinnlicher wäre als Jules und Jim, ein Film, der nicht die körperliche Liebe zeigte, sondern ein »körperlicher Film über die Liebe« sein sollte. Mit Jean-Pierre Léaud und zwei jungen englischen Schauspielerinnen – Kika Markham und Stacey Tendeter – als Darstellern wurde aus den Beiden Engländerinnen ein Film; in Frankreich fiel er zunächst mehr oder weniger durch, aber ich glaube, dass er im Lauf der Jahre an Ansehen gewonnen hat. Jedenfalls habe ich den Eindruck, beim Dreh sehr viel gelernt zu haben, über das Filmemachen, aber auch über das Leben, die Liebe, die Übermacht der Gefühle und über die grausamen Schläge, die sich Liebende ohne jede böse Absicht gegenseitig zufügen können.

***

Als Henri-Pierre Roché am 9. April 1959 starb, gab es nur wenige Nachrufe, in der Regel nicht mehr als ein paar Zeilen lang, weil dieser außergewöhnliche Mann keine Berühmtheit gewesen war. Trotzdem hat Georges Auric ihm erst vor Kurzem in seinem Buch Quand j’étais là … (In meinem Beisein …) ein Kapitel gewidmet, und die Überschrift dieses Kapitels lautet: »Das verborgene Leben von Henri-Pierre Roché«.

Nachdem sein Vater sehr jung gestorben war, wurde Henri-Pierre Roché von seiner Mutter so streng wie liebevoll erzogen. Er schrieb sich an der Hochschule für Politikwissenschaft ein, da er sich aber eher zur Malerei als zu einer Beamtenlaufbahn hingezogen fühlte, studierte er dann Zeichnen an der Académie Julian und gab schließlich auf, weil er sich nicht talentiert genug fand. Er begann, Gemälde zu sammeln, und übersetzte chinesische Gedichte, die von Georges Auric, Albert Roussel und Fred Barlow vertont wurden.

Roché ist sein Leben lang ein Dilettant geblieben, weil er die Werke von anderen stets seinem eigenen Werk vorzog, so hat er voll und ganz den Rat beherzigt, den ihm Albert Sorel, sein Professor an der Hochschule für Politikwissenschaft, erteilt hatte, und der Wort für Wort in die Verfilmung von Jules und Jim eingegangen ist:

»Was wollen Sie werden?«

»Diplomat.«

»Sind Sie sehr vermögend?«

»Nein.«

»Haben Sie eine halbwegs legitime Möglichkeit, sich mit einem berühmten oder illustren Namen zu schmücken?«

»Nein.«

»Also verzichten Sie besser auf die Diplomatie.«

»Aber was soll ich dann werden?«

»Ein Neugieriger.«

»Das ist doch kein Beruf.«

»Das ist noch kein Beruf. Bald wird es einer sein. Die Zukunft gehört den berufsmäßig Neugierigen. Die Franzosen haben sich allzu lange hinter ihren Grenzen verschanzt. Sie müssen reisen. Es wird sich immer eine Zeitung finden, die Ihre Eskapaden finanziert.«

Die meistzitierte Tatsache im Zusammenhang mit Roché, das, was allgemein und vielleicht in erster Linie von ihm selbst als seine Glanzleistung angesehen wird, ist die Begegnung, die er – vermutlich um 1910 herum – zwischen Gertrude Stein und Picasso arrangierte. Damals wurde er auch Berater und Einkäufer von John Quinn, einem amerikanischen Kunstsammler; ihre Zusammenarbeit und Freundschaft währte bis zu Quinns Tod im Jahr 1925.

Bei der Mobilmachung 1914 wurde Roché für untauglich erklärt und fiel dann einer anonymen Denunziation zum Opfer. Weil er im Verdacht stand, für Deutschland zu spionieren – und das nur, weil er seit Jahren regelmäßig Post von jenseits des Rheins erhielt –, wurde er verhaftet und zwei Wochen lang eingesperrt. Dieses Abenteuer sollte ihm den Stoff für sein erstes Buch liefern, ein schmales Bändchen von 50 Seiten, in dem bereits sein lebhafter, heiterer Stil zu erkennen ist: Deux semaines à la Concièrgerie pendant la bataille de la Marne (Zwei Wochen im Gefängnis der Concièrgerie während der Schlacht an der Marne, Attinger Frères Éditeurs, Paris 1916).

Ich glaube allerdings, dass Roché generell dazu neigte, starke Gefühle zu verbergen, und dass er unter anderem wegen dieses Unrechts fast umgehend in die USA reiste, wenn auch im Auftrag des französischen Hochkommissariats in Washington. In New York traf er seinen Freund Marcel Duchamp wieder, der gerade an seinem Hauptwerk arbeitete: La Mariée mise à nu par ses célibataires, même.

Während dieser Phase des Ersten Weltkriegs wimmelte es in New York von emigrierten Künstlern, die die dortige Kunstszene gründlich aufmischten und mit ihrem Ungestüm für Aufsehen sorgten. Dazu gehörten Francis Picabia und seine Frau, die Musikerin Gabrielle Buffet, Edgar Varèse und der extravagante Dichter-Boxer Arthur Cravan, der möglicherweise mit Oscar Wilde verwandt war und nach 1918 unter mysteriösen Umständen in Mexiko verschollen ist.

Nach dem Tod von John Quinn setzte Roché seine Tätigkeit als Entdecker und Käufer von Gemälden fort, doch diesmal im Auftrag einer legendären Persönlichkeit, des Maharadschas von Indore, sodass er oft und lange in Indien unterwegs war. 1920 sollte er, von Jules Laforgue und seinen Legendenhaften Moralitäten inspiriert, die er stets bewundert hatte, sein zweites Buch veröffentlichen, Don Juan, bei den Éditions de La Sirène, wo Cocteau im selben Jahr La Noce massacrée (Die verhunzte Feier) herausbrachte. Don Juan ist eine Sammlung von achtundzwanzig kurzen Erzählungen, Variationen über die Verführungskunst (Don Juan und die Reisende – Don Juan und Denise – Don Juan und die Baronin etc.). Kurz vor der Veröffentlichung stieß Roché bei seiner Mutter auf Widerstand und entschloss sich aus Rücksicht, dieses Werk unter dem Pseudonym Jean Roc zu publizieren.

Der Zweite Weltkrieg und die Besatzung Frankreichs durch die deutsche Wehrmacht zwangen Roché zu einem angepassteren Verhalten. Er ließ sich endlich auf ein Eheleben ein, bekam einen Sohn – Jean-Claude – und arbeitete in der Drôme als Lehrer für Französisch, Zeichnen, Schach und Gymnastik, denn er hatte in Dieulefit ein Haus gekauft. Vermutlich fing er damals mit der Niederschrift von Jules und Jim an, auch wenn der Roman erst 1953 erschien. Nach dem Krieg verfasste Roché Artikel über Kunst und besprach Ausstellungen. Picasso und Duchamp standen damals im Zenit ihres Ruhms, und Roché wurde oft um eine Stellungnahme zur französischen Malerei seit Beginn des 20. Jahrhunderts gebeten.

Was er über seinen Freund Marcel Duchamp schrieb, trifft ebenso gut auf ihn selbst zu: »Sein schönstes Werk ist das, was er mit seiner Lebenszeit angestellt hat.« Tatsächlich hat Henri-Pierre Roché sein Leben den Frauen gewidmet. Um seiner Mutter Kummer zu ersparen, die ihn über alles liebte, war er sehr lange ledig geblieben. Er wohnte zwar allein, aber stets mit drei festen Freundinnen in Reichweite, emotional wie körperlich, hinzu kamen fast täglich flüchtige Eroberungen. Aus diesem Liebesleben hat er ein literarisches Werk gemacht, denn er führte von 1905 bis zu seinem Tod, also über fünfzig Jahre lang, regelmäßig und methodisch ein Tagebuch, in dem er seine Affären aufzählte, manchmal ging er so weit, einzelne Einträge auf Englisch oder Deutsch zu schreiben, um der eifersüchtigen Neugier seiner jeweiligen Gefährtin zu entgehen.

Nach Rochés Tod habe ich, mit dem Einverständnis und in Zusammenarbeit mit seiner Witwe Denise, einen Großteil dieses Tagebuchs abschreiben lassen, um es vor der Vernichtung zu bewahren, aber die Sekretärin, die wir eigens dafür angestellt hatten, warf nach zwei Jahren unablässigen Tippens lieber das Handtuch, weil die »gewissenlose Grausamkeit«, die sie im Verhalten dieses Don Juan des 20. Jahrhunderts zu erkennen glaubte, sie zutiefst verstörte und schockierte.

Von allen Zeugnissen, die es über ihn gibt, gefällt mir vor allem das seines Freunds Jean Paulhan, der sich für die Veröffentlichung von Jules und Jim bei Gallimard eingesetzt hatte: »Ja, er war groß, mit einer sinnlichen Ausstrahlung. Er war eine Spur zu treuherzig, zu bescheiden. Statt andere in Erstaunen zu versetzen, bezauberte er sie. Er brachte den Menschen viel Liebe entgegen. Er fand jeden bewundernswert.«

Nach dieser langen Vorrede wird es Zeit, dass Sie Henri-Pierre Roché und seine zuweilen erschreckende Sanftmut für sich entdecken. Nun werden Sie ihn in Ihr Leben eintreten lassen, werden sich mit ihm anfreunden, werden ihn hoffentlich lieben lernen.

1 Übersetzt nach François Truffaut: Henri-Pierre Roché revisité (Avant-propos), in: Henri-Pierre Roché, Carnets. Les Années Jules et Jim. Marseille; André Dimanche Éditeur 1990. Dieses Vorwort erscheint hier in Patricia Klobusiczkys neuer Übersetzung erstmals vollständig auf Deutsch.

I

HENRI-PIERRE ROCHÉ,
JULES UND JIM

I

JULES UND JIM

Es war um 1907.

Der kleine, rundliche Jules, noch fremd in Paris, hatte den großen, schmalen Jim, den er nur flüchtig kannte, gebeten, ihm Zugang zum bal des Quat’z’Arts zu verschaffen, woraufhin Jim ihm eine Karte besorgt und ihn zum Kostümverleiher geführt hatte. In dem Moment, als Jules behutsam in den Stoffen wühlte und sich für ein schlichtes Sklavenkostüm entschied, keimten in Jim die ersten freundschaftlichen Gefühle für Jules. Sie nahmen im Lauf des Künstlerballs zu, dem Jules still beiwohnte, mit kugelrunden Augen voller Humor und Zärtlichkeit.

Am nächsten Tag führten sie das erste richtige Gespräch. In seinem Pariser Leben vermisste Jules eine Frau. Jim hatte mehrere. Er stellte ihm eine junge Musikerin vor. Der Anfang schien vielversprechend. Eine Woche lang war Jules ein bisschen verliebt, sie ebenfalls. Danach fand er sie zu verkopft, und sie fand ihn abgeklärt und scharfzüngig.

Jules und Jim trafen sich jeden Tag. Bis spät in die Nacht brachten sie sich gegenseitig ihre Sprache und Literatur bei. Sie zeigten einander ihre Gedichte und übersetzten gemeinsam. Sie plauderten in aller Ruhe, und bisher war keiner der beiden auf einen aufmerksameren Zuhörer gestoßen. Die Stammgäste der Bar unterstellten ihnen bald gewisse Neigungen, ohne dass sie es bemerkten.

Jim führte Jules in literarische Cafés ein, in denen Berühmtheiten verkehrten. Dort fand Jules Anerkennung, zur Freude von Jim. In einem dieser Cafés hatte Jim eine Kumpanin, eine hübsche, lässige kleine Frau, die in den Halles länger durchhielt als die Dichter, bis sechs Uhr in der Frühe. Hochmütig verteilte sie ihre kurzlebige Gunst. Bei allem bewahrte sie sich eine anarchische Freiheit und eine Schlagfertigkeit, die stets ins Schwarze traf. Mit ihr gingen die beiden gemeinsam aus. Sie brachte Jules aus der Fassung, den sie für nett, aber dümmlich hielt. Ihm kam sie bemerkenswert, aber schrecklich vor. Sie brachte für Jules eine einfältige Freundin mit, die er in der Tat einfältig fand.

Jim konnte Jules also nicht behilflich sein. Er brachte ihn dazu, es allein zu versuchen. Jules scheiterte jedes Mal, vielleicht, weil sein Französisch noch nicht perfekt war. Jim sagte zu Jules: An der Sprache liegt es nicht.

Dann legte er ihm einige Grundsätze dar.

»Da könnten Sie mir genauso gut Ihre Schuhe borgen, oder Ihre Boxhandschuhe«, sagte Jules. »Das ist mir alles zu groß.«

Entgegen Jims Rat nahm Jules Kontakt zu gewerblichen Damen auf, ohne Befriedigung zu finden.

Fortan begnügten sie sich mit ihren Übersetzungen und Gesprächen.

II

JIM IN MÜNCHEN

In dieser Zeit reiste Jules’ recht betagte, noch springlebendige Mutter aus Mitteleuropa an, um ihren Sohn in Paris zu besuchen. Das machte Jules einigen Kummer. Sie nahm seine Wäsche in Augenschein und beharrte darauf, dass kein Knopf fehlen dürfe. Sie führte Jules und Jim zum Abendessen in die besten Restaurants aus, aber sie erwartete, dass beide Gehrock und Zylinder trugen. Eine gehörige Anstrengung für Jules. Sie reiste wieder ab.

Drei Monate später, an einem regnerischen Abend, improvisierte Jules in seinen zwei möblierten Zimmern ein Essen für sie beide. Als Jim zufällig die Klappe des Keramikofens öffnete, fand er Jules’ Zylinder darin vor, ohne Hülle und mit einer feinen Rußschicht bedeckt. Jules sagte mit Genugtuung: »So ist er mir nicht im Wege, und der Ruß schützt ihn.« Jim antwortete: »Ich bin nicht Ihre Mutter, Jules.«

Sie aßen in kleinen Bistros. Zigarren ließen sie sich einiges kosten. Einer suchte für den anderen die beste aus. Sie besuchten das Concert Mayol und die Gaîté-Montparnasse, wo damals Colette auftrat.

Jules erzählte Jim ausführlich von seinem Heimatland und den jungen Frauen dort. Eine liebte er, Lucie, und hatte vergebens um ihre Hand angehalten. Daher war er nach Paris gekommen. Nach sechs Monaten wollte er sie nun wieder besuchen.

»Es gibt noch eine andere«, sagte Jules. »Gertrude, sie hat ein freies Leben und ein schönes Kind. Sie versteht mich, und sie nimmt mich nicht ernst. Das ist sie.«

Jules entnahm seiner Brieftasche ein Foto von Gertrude: Sie lag nackt am Strand, von einer kleinen Brandungswelle umspült, der einjährige Sohn saß nackt auf dem Hintern seiner Mutter, mit Blick aufs offene Meer, wie auf einer Festung – Eros.

»Und es gibt noch eine, Lina, die ich vielleicht lieben würde, wenn ich nicht Lucie liebte. Hier: So sieht sie aus.«

Und dann kritzelte er mit kleinen, bedächtigen Strichen ein Gesicht auf den runden Marmortisch.

Jim plauderte weiter, während er das Gesicht betrachtete, schließlich sagte er zu Jules: »Ich komme mit.«

»Um sie alle zu sehen?«

»Ja.«

»Bravo!«, sagte Jules.

Jim wollte den Tisch kaufen, aber der Barbesitzer war nur bereit, ihm alle zwölf Tische auf einmal zu verkaufen.

III

DIE DREI SCHÖNEN

Um alles vorzubereiten, traf Jules acht Tage vor Jim in München ein, wo er zwei Jahre in Gesellschaft der drei Frauen verbracht hatte.

Er mietete für Jim zwei große Zimmer bei anständigen Leuten und kündigte ihn seinen Freundinnen an, auf jeweils so unterschiedliche Weise, dass sie völlig verwirrt waren, als sie sich untereinander darüber austauschten.

Jules stellte Jim gleich nach seiner Ankunft Lina vor, sie kannte die Geschichte mit dem Tisch bereits.

Zu Jules’ Verblüffung waren sich Lina, ein schönes, schelmisches Kind, und Jim über folgende Punkte einig, noch ehe das ganze Teegebäck vertilgt war:

a) Jim ähnelte kaum dem Mann, den Jules Lina beschrieben hatte.

b) Lina ähnelte ganz und gar nicht der Zeichnung auf dem runden Tisch.

c) Beide gefielen einander sehr, doch um keine Zeit zu verschwenden, weder die von Jules noch ihre eigene, erklärten sie einstimmig, dass es nicht, wie erhofft, zwischen ihnen funken würde.

»Wie ich euch um diese Entschlussfreudigkeit beneide …«, sagte Jules.

Lucie und Gertrude führte er Jim beide auf einmal vor, bei einem späten Abendessen in der modernsten Bar der Stadt.

Kaum hatten sie sich ihrer Abendmäntel entledigt, zeigte sich, wie gegensätzlich beide Frauen waren. Sie nahmen an einem Tisch aus hellem Holz Platz, der sogleich mit einem Tuch und seltsamen Gläsern eingedeckt wurde.

Ein seliges, scheues Lächeln umspielte die Lippen von Jules und teilte den anderen mit, dass er sie in sein Herz geschlossen hatte.

Es herrschte eine vollkommen entspannte Stimmung.

»Wie stellen Sie es nur an, Jules«, dachte Jim laut nach, »zwei Frauen zusammenzubringen, die so unterschiedlich und so …«

Er führte den Satz nicht zu Ende. An seiner statt sprach die Stille das Wort »schön«. Die Frauen hörten es.

Jules wurde rot vor Freude. Er wollte gerade antworten, als Gertrude ihm mit erhobener Hand Einhalt gebot und sagte: »Jules ist unser Vertrauter, unser Regisseur. Er hat eine rege Vorstellungskraft, eine Engelsgeduld. Er fügt uns in all seine Romane ein. Er tröstet, er neckt uns. Er macht uns den Hof. Er erhebt keinen Anspruch auf uns. Er vergisst nur eins: sich selbst.«

»Was für eine wunderbare Lobrede!«, sagte Jim.

»Und so kommen wir, wenn er uns ruft«, sagte Lucie und hob leicht den Kopf.

Jules erzählte ihnen auf seine unnachahmliche Weise, wie die Sache mit Lina gescheitert war, wobei Lina es Lucie und Gertrude bereits am Telefon berichtet hatte.

»Es liegt doch auf der Hand«, sagte Gertrude, »Lina und Monsieur Jim passen nicht zusammen. Lina ist ein verzogenes Kind, das mag Monsieur Jim nicht.«

»Was mag er denn?«, fragte Jules.

»Das werden wir ja sehen«, sagte Lucie ungerührt.

Zum zweiten Mal traf der Klang ihrer tiefen Stimme Jim. Es war ihm fast lästig, zwischen diesen zwei Frauen zu sitzen, am liebsten hätte er beide gleichzeitig betrachtet.

Es fing an wie ein Traum.

Jules schlug kraft seiner Vollmacht als Organisator bald vor, mit seinem Lieblingswein Brüderschaft zu trinken, um das ewige Monsieur, Mademoiselle und Madame ein für alle Mal abzuschaffen, und dabei unter dem Tisch zu füßeln, um das traditionelle, allzu sichtbare Einhaken der Arme zu vermeiden. Und so machten sie es auch. Jules, der sich von seiner Freude hatte mitreißen lassen, zog seine Füße rasch wieder zurück.

Jim berührte mit seinen noch eine Weile den Fuß von Gertrude auf der einen und den von Lucie auf der anderen Seite. Lucie rückte als Erste behutsam von ihm ab.

Sie war eine gotische Schönheit mit länglichem Schädel, sie ließ sich bei allem Zeit, und der Wert, den sie selbst jedem Augenblick beimaß, gewann allgemein Geltung. Lucies Nase, Mund, Kinn und Stirn waren der ganze Stolz jener Provinz, die sie als Kind während eines Kirchenfestes verkörpert hatte. Sie entstammte dem Großbürgertum und studierte Malerei.

Gertrude war dreißig, eine griechische Schönheit und geborene Sportlerin. Selbst ohne Training gewann sie bei jedem Skiwettlauf. Sprang aus der fahrenden Tram und landete auf den Füßen, ohne das Gleichgewicht zu verlieren. Man hätte gern ihre Muskeln befühlt. Sie hatte einen vierjährigen Sohn, ohne Vater dazu. Sie glaubte nicht an Väter. Sie lebte von ihrer Illustrationskunst, mal besser, mal schlechter. Die Adelskaste, der sie entsprang, hatte sie ausgestoßen, dafür wurde sie von den Künstlern geachtet und verhätschelt.

nein