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Vorwort von Beate Klarsfeld

Mehr als eine Million Menschen sind in Auschwitz-Birkenau ums Leben gekommen, neun Zehntel wurden ermordet, weil sie Juden waren. Gelungene Fluchten aus dem deutschen Todeslager gab es nicht viele. Die Flucht von Rudolf Vrba und Alfréd Wetzler aus Auschwitz-Birkenau ist die zweifellos berühmteste. Getrieben von dem Ziel, die ungarischen Juden vor den bevorstehenden Deportationen in den Tod zu warnen und die Welt über die Todesfabrik Auschwitz-Birkenau zu informieren, flohen die beiden Häftlinge aus dem Lager und erstatteten Ende April 1944 dem slowakischen Judenrat ausführlich Bericht.

Der Vrba-Wetzler-Bericht fand seinen Weg nach London und Washington und in den Vatikan, wo er als authentisch anerkannt wurde. Die Alliierten wurden über die »Endlösung der Judenfrage« in Kenntnis gesetzt, sie bekamen eine Vorstellung davon und mussten nun ihr Gewissen sprechen lassen.

Es ist ganz außergewöhnlich, dass dieser detailgenaue Bericht über die Vernichtung der europäischen Juden von zwei jungen slowakischen Juden erstattet wurde, die eine zweijährige Erfahrung im Vernichtungslager Auschwitz gemacht hatten. Ebenso außergewöhnlich sind Vrbas 1963 nach dem Jerusalemer Eichmann-Prozess niedergeschriebene Erinnerungen, die hier in einer gründlich annotierten Neuübersetzung endlich wieder erscheinen.

Rudolf Vrba kam mit einem der ersten Transporte in diesem unermesslichen Schlachthof für Juden an. Es war am 30. Juni 1942. Die Gaskammern, die zur Ausmerzung der Juden errichtet wurden, liefen noch nicht auf Hochtouren, und bis zum Datum seiner außergewöhnlichen Flucht durchlief er alle wichtigen Stationen auf diesem neuen teuflischen Planeten. Dieser Planet war das Werk einer totalitären Ideologie, getragen vom Hitlerschen Antisemitismus. Als ihm die Häftlingsnummer 44070 tätowiert wurde, hatte er schon die Kunst des Überlebens erlernt. Es gelang ihm, sämtliche Hürden zu überwinden, die sich vor ihm aufbauten: die Lagerhäuser der SS, das Schleppen der schweren Zementsäcke auf der Baustelle der I.G. Farbenindustrie AG, die Selektionen, Krankheiten wie Typhus, den Handel in »Kanada«, die Knüppelschläge, die oft den Tod bedeuteten, die zermürbende Arbeit auf der Judenrampe, auf der die deportierten Juden in Empfang genommen wurden. Bei ihrer Ankunft wurde ein Fünftel zum Arbeitseinsatz abkommandiert, die anderen kamen sofort in die Gaskammern. Vrba musste auch das Raubgut in die Waggons verfrachten. Er wurde Zeuge der Vernichtung der Juden, die aus dem Ghetto Theresienstadt kamen. Zu ihnen zählte ein junges hübsches Mädchen, Alice, mit der er seine erste Liebesnacht verbrachte, bevor sie am nächsten Tag vergast wurde.

Mich erinnert Rudolf Vrbas Schicksal an das seines Leidensgenossen Primo Levi, der elf Monate in der letzten Phase in Auschwitz verbrachte, während Vrba dort fast zwei Jahre lang Grauenhaftes erdulden musste. Die »Evakuierung« von Auschwitz mit den Todesmärschen in Eiseskälte und Schnee und die Befreiung des Lagers erlebte Rudolf Vrba nicht mehr. Zu dieser Zeit kämpfte der Auschwitz-Überlebende mit der Waffe in der Hand gegen die deutschen Besatzer in der Slowakei. Die beiden Berichte von Primo Levi und Rudolf Vrba ergänzen sich, doch führt uns Vrba literarisch tiefer in die menschliche Natur der Täter ein als Levi, denn er selbst war in engerem und alltäglichem Kontakt mit der SS-Hierarchie. Auch diese Erkenntnisse haben Vrba erlaubt, so lange zu überleben, und er ist eines der wenigen Opfer, die im Sommer 1942 im Lager ankamen und bis zum Augenblick seiner Flucht im April 1944 noch überlebten.

Er war in enger Berührung mit den unbarmherzigsten der SS-Männer und lernte sie kennen. Er hatte eine große Verachtung für die Kapos, die sich willfährig zu Handlangern der SS machen ließen. Aber er begegnete auch Häftlingen, die sich ihre Menschlichkeit bewahrt hatten. Er hatte sich am Schwarzmarkt beteiligt, der die Raffgierigen befriedigte, aber auch Solidarität mit den anderen ermöglichte. Er musste mit ansehen, wie die Arbeitsunfähigen im Lager am 29. August 1942 liquidiert wurden, und in acht Monaten verfolgte er die Ankunft von über 200 Transporten auf der Judenrampe. Er war bei der Öffnung der Massengräber zugegen, wo die Leichen verbrannt wurden, und er sah die noch glühenden Knochen der Tausenden von Kindern, die lebendig ins Feuer gestoßen wurden. Rudolf Vrba nahm auch am Widerstand im Lager teil und konnte beobachten, wie die Kämpfer den Mut aufbrachten, lieber Selbstmord zu begehen, als unter der Folter die Kameraden zu verraten.

Tag für Tag, vom Hunger aufgezehrt, ließ er dennoch nie in seiner Wachsamkeit nach, um nicht seiner körperlichen Schwäche zu erliegen. Rudolf Vrba verlor nie die Hoffnung und auch nicht den Willen zur Flucht. Er korrigierte ständig seine Fluchtpläne, und endlich gelang ihm der Ausbruch aus dieser Hölle mit seinem Freund Fred.

Ihr Bericht hat es ermöglicht, dass Zehntausende von Juden der Deportation entkommen konnten, dank der zahlreichen Interventionen beim ungarischen Reichsverweser Horthy. Rudolf Vrba beendete den Krieg in den Reihen des slowakischen Widerstands mit der Waffe in der Hand, wie er es sich immer gewünscht hatte.

Seine Erinnerungen dokumentieren auch sein Bestreben, gegen die in der späteren BRD straffrei lebenden NS-Verbrecher auszusagen. Vrbas Brief an den Frankfurter Staatsanwalt, dem er sich als Zeuge im Auschwitz-Prozess anbot, und Fotos, unter anderem von seinem Aufenthalt in Deutschland aus dieser Zeit, werden hier erstmals veröffentlicht.

Es hatte lange gedauert, und viele spektakuläre, teils illegale Aktionen waren nötig, um die deutsche Öffentlichkeit aufzurütteln und die Staatsanwaltschaften zu veranlassen, sie überhaupt vor Gericht zu stellen, Verfahren gegen sie zu eröffnen und sie zu Gefängnisstrafen zu verurteilen. Unsere Organisation, die Söhne und Töchter der deportierten Juden aus Frankreich, darunter Auschwitz-Überlebende wie Rudolf Vrba, hat sich all dies zum Ziel gesetzt: Die Verurteilungen gegen die in Frankreich tätigen NS-Verbrecher wie Kurt Lischka, Herbert Hagen und Ernst Heinrichsohn sind nur ihrem endlosen Einsatz für Gerechtigkeit zu verdanken.

Rudolf Vrba war ein außergewöhnlicher junger Mann, der einen außergewöhnlichen Weg eingeschlagen hatte in einer außergewöhnlichen, kriminellen Welt. Seinem starken Willen ist es zu verdanken, dass die zivilisierte Welt über die Shoah aufgeklärt und auch aufgeschreckt wurde. Wir verdanken ihm sehr viel, und es ist notwendig, seinen Bericht und dieses Buch zu lesen. Er ist der beste Wegweiser durch diesen verteufelten Ort, verteufelt durch seine Henker, aber heilig geworden durch das Leiden der Opfer.

Paris, 2010

Vorwort des Autors

Die Ereignisse, um die es in diesem Buch geht, liegen heute mehr als fünfzig Jahre zurück. Aus der Erinnerung heraus habe ich 1963 zu beschreiben versucht, wie die Deutschen es schafften, mich gegen meinen Willen aus meinem Heimatland, der Tschechoslowakei, in die Todeslager von Majdanek und Auschwitz zu verschleppen, was ich von Juni 1942 bis April 1944 als Häftling in diesen Todeslagern erlebte, wie ich am 7. April 1944 mit meinem Mithäftling Alfréd Wetzler1 aus Auschwitz floh und was nach unserer Flucht geschah.

Zunächst aber ein paar Bemerkungen dazu, wie und warum es zum Aufschreiben dieser Erinnerungen kam. Nach Ende des Krieges 1945 zog ich nach Prag, in die Stadt, die mir zu einem wahren Zuhause wurde, bis ich 1958 das Land verließ. Dort studierte ich Chemie und Biochemie und begann meine wissenschaftliche Karriere auf dem Gebiet, auf dem ich bis heute beruflich tätig bin.

Ich kann mich nicht entsinnen, dass mich in all den Jahren, die ich in Prag lebte, irgendwann einmal irgendjemand gefragt hat, was eigentlich in Auschwitz war. Ich weiß nicht, ob das an mangelndem Interesse lag oder daran, dass das Thema tabu war. Auschwitz spielt ja in der Geschichte der tschechischen und slowakischen Länder keine geringe Rolle: Nie zuvor wurden so viele Bürger, die auf tschechischem Territorium ansässig waren, auf einmal ermordet, doch dieses Geschehen, das gleichzeitig Teil meines eigenen Lebens ist, wird vielleicht zum ersten Mal in meinem Buch beschrieben.2

Sicher, schon in den fünfziger Jahren organisierte der Bund Antifaschistischer Kämpfer3 in Prag einen jährlichen Auschwitz-Gedenkabend, und als ich einmal sogar dorthin gegangen bin, habe ich viel über die heldenhaften tschechischen Kommunisten gehört. Dutzende von ihnen starben – wie Hunderte anderer tschechischer Bürger eben auch (Ehre ihrem Andenken!) – in Auschwitz, weil sie Widerstand gegen die Nazis geleistet hatten. Bei der erwähnten Gedenkveranstaltung sprach allerdings niemand von dem Mord an vielen Tausenden Tschechisch sprechender jüdischer Kinder, die kaltblütig in Auschwitz umgebracht und, ob sie wollten oder nicht, nationale Märtyrer wurden. Niemand sprach überhaupt vom Schicksal der Juden. Allerdings erkannte ich auf dem Podium ein paar jüdische Ex-Häftlinge aus Auschwitz. Doch als nach der Veranstaltung ein verdächtig gut gekleideter Herr auf mich zukam und mich fragte, ob mir aufgefallen sei, dass auf dem Podium lauter Juden gesessen hätten, schwieg ich. Es war die Zeit der antisemitischen Slánský-Prozesse4 im Jahr 1952, und ich wollte mein Schicksal nicht herausfordern.

Von 1958 bis 1960 arbeitete ich in Israel und verbrachte viele Stunden in Rechovot in der Bibliothek des nach Chaim Weizmann benannten berühmten Weizmann-Instituts. Jahrzehnte vor und während des Zweiten Weltkrieges war er einer der führenden Zionisten. Vielleicht war er ja sogar, wie bisweilen behauptet wurde, der Führer aller Juden und wurde deshalb bei Gründung des jüdischen Staates 1948 dessen erster Ministerpräsident. Mit Interesse las ich seinen Bericht über sein Leben und seine herausragenden Aktivitäten. Seine Autobiografie trägt den bescheidenen Titel Trial and Error; in ihrem Index ist Rechovot mehr als ein Dutzend Mal aufgeführt.5

Ich freilich war neugierig, wie oft wohl Auschwitz vorkam, schließlich starben dort hunderte Male mehr Juden, als je in Rechovot lebten. Zu meiner Überraschung musste ich feststellen, dass das Wort »Auschwitz« in den Lebenserinnerungen dieses modernen jüdischen Führers nicht einer einzigen Erwähnung für wert befunden wurde. Ich weiß nicht, ob das die Interesselosigkeit Weizmanns und seines Kreises widerspiegelt oder ob das Wort Auschwitz zur Zeit der Niederschrift vielleicht auch in Israel ein Tabu war – wenn auch aus ganz anderen, nicht genannten Gründen.

1960 wurde mir in England eine Stelle als Forschungsmitarbeiter im British Medical Research Council angeboten. Der Council war ein Mekka für Wissenschaftler, mit Freuden zog ich nach England und nahm schon bald englische Angewohnheiten an: Ich wurde zum leidenschaftlichen Teetrinker und Zeitungsleser.

Im Jahre 1960 wurde auch Adolf Eichmann verhaftet und plötzlich in fast allen Sonntagszeitungen die Vernichtung der europäischen Juden diskutiert. Das Wort Auschwitz tauchte ständig auf und war bald in aller Munde. Einer meiner neuen Freunde, Alan Perry, ein BBC-Journalist, redete gern mit mir über das Thema, allzumal, als er merkte, dass ich mehr darüber wusste, als er je in den Zeitungen lesen würde. Und als eines der damals wichtigsten, heute nicht mehr existierenden Blätter, der vom Dachverband der Gewerkschaften herausgegebene Daily Herald, immer noch keinen ausführlichen Bericht über Eichmanns Taten gebracht hatte, meinte Alan, angesichts meiner persönlichen Kenntnisse sei man dort wahrscheinlich bereit, einen Artikel von mir zu bringen.

»Rede doch mal mit ihnen darüber«, sagte er.

Ich hörte auf seinen Rat und stattete schon bald dem Daily Herald einen vormittäglichen Besuch ab. Dort merkte ich allerdings schnell, dass man nicht mal einfach so mit einem Redakteur sprechen konnte. Die Fleet Street, Zentrum des britischen Zeitungswesens, hatte ihre eigenen Regeln. Weil ich keine genaue Wegbeschreibung hatte, landete ich schließlich in einem Raum voller Journalisten, die an einem riesigen, mit Papieren, Teetassen, Aschenbechern und Milchflaschen überhäuften Holztisch Tee tranken. Unaufhörlich klingelten Telefone; dichter Zigarettenqualm erfüllte den Raum. Teetasse in der einen, Zigarette in der anderen Hand, kam ein etwa vierzigjähriger Journalist auf mich zu und betrachtete mich, den Eindringling, höchst interessiert. Musterte meine randlose Trotzki-Brille, die ich mir vor Jahren während einer Vorlesungsreise in Moskau hatte machen lassen, nahm meinen italienischen Regenmantel zur Kenntnis, den ich auf dem Weg von Israel nach London gekauft hatte, und warf einen Blick auf meine guten alten Schuhe aus Prag mit ihren fünf Zentimeter hohen Sohlen, die in den Fünfzigern in der CSSR, aber sicher nicht mehr in London Mode waren. Er fragte mich, wo ich herkäme, und staunte nicht schlecht, als ich »aus der Tschechoslowakei« sagte. Auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges verirrten sich nicht viele Leute aus diesem Land in ein Redaktionszimmer in der Fleet Street. Noch einmal musterte er meine Garderobe und erkundigte sich dann ganz direkt, ob ich ein Spion sei. Ich sagte ja, bat ihn aber nachdrücklich, es nicht weiterzuerzählen, weil es vertraulich sei. Er versicherte mich seiner Diskretion und stellte sich als Alan Bestic vor, freiberuflicher irischer Journalist, der seit seinem dritten Lebensjahr in London lebte.

Als ich ihm vom Zweck meines Besuchs und von dem Thema erzählte, über das ich für den Daily Herald schreiben wollte, fand er es wenig aussichtsreich, den zuständigen Redakteur so unkonventionell anzusprechen, und schlug vor, dass wir stattdessen den Artikel in der üblichen Form zusammen schrieben und ihn dann dem Redakteur anböten. Dann gingen wir in den nächsten Pub etwas trinken. (Damals gab es viele Pubs in der Fleet Street.) Zum Schluss lud mich mein neuer Freund übers Wochenende in sein Haus in Surrey ein, wo wir den Artikel verfassten.

An dem Wochenende tranken wir viele Tassen Tee und diskutierten stundenlang, was ich in den einundzwanzig Monaten und sieben Tagen als Häftling in Auschwitz erlebte hatte. Wir redeten über meinen Ausbruch (zusammen mit meinem Freund Alfréd Wetzler), darüber, wie wir unseren Bericht über das Vernichtungslager zu Protokoll gegeben hatten und was unmittelbar danach geschehen war. Hocherfreut sah ich, dass Bestic schneller stenografierte, als ich sprach. Als er das Ganze auf seiner klapprigen alten Schreibmaschine abtippte, klang es wie Maschinengewehrfeuer, und eine Seite nach der anderen wurde, fast ohne jeden Tippfehler, voll.

Doch dann meinte Bestic, wir bräuchten mehr als einen Artikel, damit die Geschichte lebendig und verständlich würde. Stirnrunzelnd fügte er allerdings hinzu, dass es beim Daily Herald nicht üblich sei, Artikel zu einem Thema in mehr als zwei Folgen zu bringen. Aber er tippte drei Texte von jeweils eintausend Wörtern und hoffte, dass er sich mit dem Redakteur auf zwei einigen würde. Eine Woche später rief er mich an und bat mich erneut zu einem Wochenende in Surrey. Der Redakteur hatte den vorgeschlagenen Artikel gelesen und wollte zu Bestics Überraschung nun fünf Teile von mir, die im Laufe einer Woche, von Montag bis Freitag, erscheinen sollten. Und so schilderten wir meine Geschichte in fünf Folgen, jede etwa eintausend Wörter lang.

Eine Woche danach lud mich Bestic wieder zu sich nach Hause ein, diesmal, um zu feiern, dass sein Redakteur unseren fünfteiligen Artikel von fünftausend Wörtern angenommen hatte. Ich unterzeichnete einen Vertrag, der dem Daily Herald das Recht einräumte, meinen Text zu veröffentlichen, und Alan gab mir einen Scheck, als Vergütung für »die Zeit, die ich für den Daily Herald aufgewendet hatte«. Ein Blick auf den Scheck, und ich sah, dass die Summe, die darauf stand, meinem (und nicht nur meinem) Jahresgehalt als Mitarbeiter des Medical Research Council entsprach. Später hörte ich gerüchteweise, dass der Redakteur bei einer Party mit Journalistenkollegen nicht nur stolz die Geschichte einer schon betagteren Dame zum Besten gab, die mit dem Gemälde eines alten Meisters ihre Küchentür aufzuhalten pflegte und das Kunstwerk für fast nichts an den ersten Bieter verkaufte, der dessen wahren Wert erkannte, sondern sich auch damit brüstete, dass er sogar noch ein besseres Geschäft mit einem verrückten Doktor aus der Tschechoslowakei gemacht habe, der sicherlich viel über den Holocaust wisse, aber nichts über die Geschäftsgepflogenheiten in der englischen Presse. Die Auflage des Daily Herald stieg in der Märzwoche 1961, als meine fünf Artikel vor Beginn des Eichmann-Prozesses erschienen, um vierzig Prozent!6

Mein Leben und meine Arbeit in London verliefen unterdes weiterhin angenehm. Jeden Morgen, bevor ich zur Arbeit ging, stellte ich eine leere Milchflasche mit einem Zettel vor die Haustür, auf dem vermerkt war, wie viel Eier, Butter, Milch und Sahne ich an dem Tag brauchte. Das war die dritte meiner neu erworbenen englischen Angewohnheiten. Abends stand das Gewünschte auf meiner Schwelle. Samstagmorgens, wenn die meisten Leute zu Hause waren, klopfte der Milchmann, eine dicke Kladde in der Hand, an meine Tür, las vor, was er mir in der vergangenen Woche geliefert hatte, und nannte mir die Summe, die ich ihm schuldete. Dann gab ich ihm einen Scheck, und er ging zu seinem kleinen dreirädrigen Lieferwagen zurück. Er war klein, hinkte stark, war aber sehr beweglich. Als ich ihm kurz nach Erscheinen meiner Artikel im Daily Herald bei seinem üblichen Samstagmorgenbesuch meinen Scheck gab, zögerte er ein paar Sekunden, obwohl er sonst stets kurz angebunden, aber höflich war, und sagte fast entschuldigend: »Verzeihung, Sir, haben Sie wohl ein paar Minuten Zeit? Ich würde gern über etwas Privates mit Ihnen sprechen.«

»Natürlich, bitte, kommen Sie herein«, erwiderte ich.

Wir setzten uns in mein Esszimmer, und er kam umgehend zur Sache. »Es geht um Ihre Artikel im Daily Herald von dieser Woche. Also, ich bin seit über dreißig Jahren Mitglied der Gewerkschaft und immer Abonnent des Daily Herald gewesen und glaube deshalb, ich habe das Recht, zu sagen, dass mir Ihre Artikel überhaupt nicht gefallen haben. Sie sollen Hass auf die Deutschen hier unter uns in England schüren. Ja, um ehrlich zu sein, glaube ich, dass Sie aus der Tschechoslowakei in dieses Land gekommen sind, um mit der Verbreitung von unglaublichen Lügen über die Deutschen unsere guten Nachkriegsbeziehungen zu Deutschland zu stören.«

Ich war überrascht, wie vorwurfsvoll und unverblümt er mir das alles sagte, doch er hatte natürlich nur wenig Zeit; er musste seine Waren ausliefern und die Schecks einkassieren. »Warum glauben Sie, dass ich lüge?«, fragte ich.

Meine sachliche, ruhige Frage entwaffnete ihn. Wieder sagte er beinahe entschuldigend: »Bitte, glauben Sie nicht, dass ich auch so ein Faschist bin. Im Gegenteil, ich bin Mitglied der Labour Party und habe gegen die Deutschen gekämpft, als es nötig war.« Bei diesen Worten klopfte er sich auf sein rechtes Bein, den Grund seines schweren Humpelns. Es klang nach Holz. Nach kurzer Pause fuhr er fort: »Ich habe bei unserer Landung in Frankreich 1944 als britischer Soldat mein Bein verloren. Dass ich besonders deutschenfreundlich bin, kann man mir sicherlich nicht vorwerfen. Aber jetzt haben wir Frieden, und die Deutschen sind unsere Verbündeten. Heutzutage besteht für antideutsche Propaganda kein Grund mehr. Sie können mir glauben, dass ich in der Hitlerzeit keine Illusionen über die Deutschen hatte. Doch was Sie heute in Ihren Artikeln sagen, ist nur bösartig und unglaubwürdig.«

»Warum halten Sie es für unglaubwürdig?«, fragte ich.

Einen Moment lang schwieg er, dann sagte er: »Ich will Ihnen etwas über mich erzählen. Ich bin verheiratet und habe drei Kinder.« Ich hörte zu. Er beugte sich ein wenig zu mir vor und redete jetzt in leiserem, vertraulicherem Ton. »Und von Mann zu Mann möchte ich Ihnen sagen, dass meine Frau zwar sehr nett, aber sehr einfach ist – ein bisschen schlicht gestrickt. Ich würde sogar sagen, sie ist ziemlich dumm.« Wieder schwieg er kurz.

Was wollte er mir damit sagen? Als er meine fragende Miene sah, hob er die Stimme und rief zunehmend aufgeregt: »Aber erzählen Sie meiner Frau, jemand wolle unseren Kindern ein Leid antun! Dann würde sie sofort zur Axt oder zum Küchenmesser greifen, und an unsere Kinder käme man nur über ihre Leiche. Dumm oder nicht, ist völlig unerheblich! Sie jedoch wollen mir erzählen, dass all die schlauen Juden überall in Europa ihre Kinder an die Hand genommen und sie, hunderte Meilen entfernt, in irgendwelche gruseligen Gaskammern in Oberschlesien gebracht haben! Nein, das kann ich nicht glauben!«

Ich begriff sofort, dass ich in meinen Artikeln im Daily Herald recht gut erklärt hatte, was den Juden in Auschwitz letztendlich widerfahren war. Doch ich hatte nicht gut genug erklärt, wie umsichtig das alles von der perfiden deutschen Regierung organisiert worden war.

Und ich begriff, dass ich ein Buch schreiben musste, um einem denkenden Menschen zu vermitteln, was ich in Auschwitz erlebt hatte. Ich musste den raffinierten Betrug der Deutschen detailliert beschreiben; manche Leute nennen ihn ja aus Mangel an besseren Worten »den verschlungenen Weg nach Auschwitz«.7 Doch diese elegante Wendung gibt die ausgebufften, tückischen, niederträchtigen Methoden, mit denen die Deutschen nicht nur die Juden, sondern die gesamte zivilisierte Welt täuschten, nicht im Entferntesten wieder. Außer in ihrem erbarmungslosen Kampf gegen die Juden wandten die Nazis rasch, aber hemmungslos gegen alle Menschen Gewalt an, die ihren Gesetzen und ihrer Ordnung nicht gehorchten. Und für die Drecksarbeit hielten sie sich immer eine ausreichende Zahl von Helfershelfern, die sich hinterhältig, aber allzeit bereit, gnadenlos und mit erstaunlicher Grausamkeit auf ausgewählte Opfer stürzten. Das war ein wichtiger Teil der Maschinerie des Massenmordes, der die Erfahrung und Vorstellungskraft meines Milchmannes ganz offensichtlich bei weitem überstieg.

Ein Jahr später bekam ich einen Brief aus Deutschland, unterzeichnet von einem Dr. Düx, Untersuchungsrichter am Landgericht Frankfurt/Main.8 Man bat mich, nach Deutschland zu kommen, um bei der Vorbereitung des Prozesses gegen etwa ein Dutzend SS-Offiziere mitzuwirken, die man in Auschwitz begangener Verbrechen anklagen wollte. Dr. Düx hatte mich lange gesucht, weil er von den tschechoslowakischen Behörden meine Adresse nicht bekommen hatte. Doch als meine Artikel im Daily Herald erschienen waren, fand die deutsche Staatsanwaltschaft heraus, dass ich in England lebte, und setzte sich mit mir in Verbindung. Es war der Beginn meiner mehr als dreißig Jahre währenden Zusammenarbeit mit den deutschen Behörden bei der Verfolgung einiger deutscher Verbrecher, die direkt am Holocaust mitgewirkt hatten. Doch selbst während ich diese Zeilen schreibe, laufen immer noch etliche von ihnen frei herum. Bei meinem ersten Besuch in Deutschland nach dem Krieg, im Jahr 1963, zeigte mir Dr. Düx in seinem Büro eine große Sammlung dicker brauner Aktenbände auf einem riesigen Regal. »Hier habe ich achtzig volle Bände mit schriftlichen Zeugenaussagen und weiß immer noch nicht alles über Auschwitz«, sagte er.

Kurz nach meiner Rückkehr von meiner ersten Deutschlandreise meinte Alan Bestic, dass die britische Öffentlichkeit während des bevorstehenden Auschwitz-Prozesses vielleicht daran interessiert sei, mehr von meinen Erfahrungen zu lesen. Denn nach Erscheinen meiner Artikel im Daily Herald wurde ich häufig in Fernsehen und Radio über Probleme der Verfolgung der SS-Verbrecher aus Auschwitz interviewt und mein Name über meine beruflichen Kreise hinaus in London bekannt. Alan fand schon bald einen Verleger, der bereit war, ein Buch über meine persönlichen Erfahrungen zu veröffentlichen, wenn es nicht länger als zweihundert Seiten lang würde. Als ich dann während meines Sommerurlaubs im August 1963 Zeit hatte, mich von der Arbeit freizumachen, fing ich damit an. Alan besuchte mich jeden Tag. Jeden Tag schrieb er nach meinem Diktat in Kurzschrift ein Kapitel, tippte es über Nacht, korrigierte sprachliche Mängel und lektorierte es nach bestem Wissen und Gewissen.

Doch schon bald war uns klar, dass wir all die Informationen, die wir bringen wollten, nicht auf zweihundert Seiten packen konnten; und nach längeren Verhandlungen bekamen wir grünes Licht für maximal dreihundert Seiten.

Noch vor Ende meines dreiwöchigen Urlaubs gaben wir das Manuskript dem Verleger. Das Buch erschien noch im selben Jahr und wurde extrem gut aufgenommen. Es war wahrscheinlich das erste Buch zum Thema, das sich an ein allgemeines Publikum und nicht an Experten richtete. Es richtete sich auch an meinen netten Milchmann. Er sollte wissen, dass er sein Bein im Kampf gegen das Naziregime nicht umsonst verloren hatte. Wie wir alle wissen, hat es harte Arbeit, Blut, Schweiß und Tränen gekostet, den schlimmsten Feind der Menschheit zu besiegen – den Nationalsozialismus.

Obwohl das Buch seit seinem Erscheinen in vielen Sprachen durchgängig lieferbar war, ist es in Großbritannien seit vielen Jahren vergriffen. Deshalb freue ich mich ganz besonders, dass nun eine Ausgabe für eine neue Generation erscheint. Ich habe das Buch voller Dankbarkeit für all jene geschrieben, die zur Niederschlagung des Nationalsozialismus beigetragen haben. Ich hoffe nur, dass auch ich nach bestem Wissen und Gewissen diesem Ziel gedient habe und dass es hilft, möglichst vielen die Augen zu öffnen und zu verhindern, dass sich die bestialischen Kräfte, die wir für endgültig besiegt halten, je wieder regen.

Rudolf Vrba
Vancouver, Kanada
Mai 2002

Anmerkungen

1 Alfréd Wetzler (1918–1988) war im April 1942 aus der Slowakei nach Auschwitz deportiert worden. Ihm wurde die Nummer 29162 in den linken Unterarm tätowiert. Unter anderem war Wetzler im »Leichenträgerkommando« und als Blockschreiber in Auschwitz-Birkenau eingesetzt. Zu Wetzlers Veröffentlichungen siehe das Nachwort der Herausgeber.

2 Die nach der Abtrennung des Sudentenlandes in der so genannten Rest-Tschechei (im März 1939 von der deutschen Wehrmacht besetzt und als »Protektorat Böhmen und Mähren« ausgerufen) lebenden Juden wurden in ihrer überwiegenden Mehrheit seit Herbst 1941 ins Ghetto Theresienstadt verbracht. Tausende starben dort an Hunger und Krankheiten, Zehntausende wurden »nach dem Osten« in die Vernichtungslager deportiert und ermordet. Über 77000 tschechische Juden fielen der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik zum Opfer.

3 Der 1951 gegründete Verband Svaz Protifašistických Bojovníků (SPB) war eine Vereinigung von ehemaligen tschechischen und slowakischen Widerstandskämpfern gegen das NS-Regime.

4 Rudolf Slánský (19011952), von 1945 bis 1951 Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei (KSČ), wurde in einem antisemitisch motivierten Schauprozess wegen angeblichen Hochverrats zum Tode verurteilt und hingerichtet.

5 Die Erinnerungen von Weizmann (1874–1952) erschienen 1949. Unter dem Titel Memoiren. Das Werden des Staates Israel (aus dem Engl. von Thea-Maria Lenz, Zürich: Phaidon-Verlag) wurden sie 1953 in deutscher Übersetzung publiziert.

6 Der Prozess gegen Adolf Eichmann (1906–1962) vor dem Bezirksgericht in Jerusalem begann am 11. April 1961 und endete am 15. Dezember 1961 mit der Verkündung des Strafmaßes. Eichmann wurde zum Tode verurteilt und nach der Bestätigung des Urteils durch den Obersten Gerichtshof Israels Mitte 1962 gehängt.

7 Vrba spielt an auf das Werk von Karl A. Schleunes: The Twisted Road to Auschwitz. Nazi Policy towards German Jews 1933–1939. Urbana, Ill.: University of Illinois Press, 1970.

8 Landgerichtsdirektor Heinz Düx (*1924) führte seit August 1961 die gerichtliche Voruntersuchung im ersten Frankfurter Auschwitz-Verfahren. In den Akten des zweiten Auschwitz-Prozesses (1965–1966) findet sich ein Schreiben Vrbas vom 1. Januar 1963 an die Staatsanwaltschaft beim Landgericht Frankfurt am Main. In dem Brief verwies Vrba auf seine Artikelserie von 1961 und bot sich der Ermittlungsbehörde als Zeuge an. Düx nahm das Angebot im Rahmen der von ihm geführten gerichtlichen Voruntersuchung zum zweiten Frankfurter Auschwitz-Prozess (LG Frankfurt am Main, 4 Ks 3/63) an. Am 11. und 12. März 1963 wurde Vrba in Frankfurt am Main von Düx richterlich vernommen. Siehe das Vernehmungsprotokoll, in: Staatsanwaltschaft Frankfurt am Main, 4 Ks 3/63, Hauptakten, Bd78, Bl14724–14735. Auf Grund seiner Vernehmung wurde Vrba zum ersten Frankfurter Auschwitz-Prozess geladen und am 30. November 1964 gehört.