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Inhalt

[Cover]

Titel

Mann in der Ferne

Das Algonquin lag …

Bergab gehen hat …

Er öffnete die Tür …

»Please come in« …

»Später kannst du …

Sehnsucht nach Kapstadt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Autorenporträt

Übersetzerporträt

Über das Buch

Impressum

[Leseprobe – STERN GEHT]

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Mann in der Ferne

Das Algonquin lag wie eine kleine Insel in New York. »Namen von Städten und kleinen Inseln sind weiblich«, kam ihm bei diesem Vergleich in den Sinn. Es war eine Regel der lateinischen Grammatik, die sich nach Jahren wieder meldete. Sein Vater und er hatten die Grammatik mehr als einmal durchgenommen. Stunden, in denen sie einander gegenübergesessen hatten, Wochen des Abhörens, und alles, was übrig blieb, waren ein paar Ausnahmen.

Er saß in der Halle des Hotels, als eine Frau die schweren Vorhänge vor der Schwingtür zur Seite drückte. Sie war ein wenig außer Atem. Über die Zeitung hinweg, die er sich desinteressiert genommen hatte, sah er, dass sie sich suchend umblickte. Ihm fiel auf, wie hübsch ihr Gesicht war. Der Mann an dem Tischchen neben ihm versuchte sie auf sich aufmerksam zu machen und rief leise einen Namen. Sie ging auf ihn zu, umarmte ihn und blieb so einen Augenblick stehen. Dann hörte er sie zögernd sagen: »Ich konnte es kaum aushalten. Du warst so verlegen, und die letzten Straßen bin ich gerannt.«

Nicht nur Städte und kleine Inseln waren weiblich.

Er hätte sie beide berühren können, so nah standen sie neben ihm. Die Ecken seiner Zeitung streiften ihren Mantel. Der Mann strich ihr über die Wange, nahm ihr die Tasche aus der Hand und winkte einem Kellner. Die Frau lehnte ihren halb zusammengefalteten Schirm gegen einen Stuhl. Draußen schneite es. Hinter seiner Zeitung verborgen, betrachtete er ihr Gesicht. Es war von einer unversehrten Schönheit, es leuchtete, naiv und rein. Der Kontrast zum Gesicht seines Vaters drängte sich ihm auf. Das war eine Ansammlung von Schönheitsfehlern gewesen, Folgen einer Hautkrankheit mit ständig wechselnden Symptomen. Er wusste nicht mehr, wie oft er ihn in Krankenhäusern besucht und wie viele Ärzte er an seinem Bett hatte stehen sehen. Eine komische Episode war der Magnetiseur gewesen, der einmal pro Woche die Treppe hinaufschlurfte. Sein Vater versteckte ihn mehr oder weniger, verschwand mit ihm in einem Zimmer, wo er wahrscheinlich schweigend die Rituale an sich vollziehen ließ, um den Magier nach einer Viertelstunde wieder heimlich zu verabschieden und erleichtert die Tür hinter ihm zu schließen.

»Ich hätte gern einen Tee, geht das?«

Es ging nicht. Gegen fünf Uhr nachmittags begann sich das Algonquin mit Leuten zu füllen, die Drinks in hohen Gläsern bestellten. Tee passte nicht in diesen Zirkel. Er bat um Perrier und verstummte wieder. Seit dem Augenblick, in dem er die Halle zum ersten Mal betreten hatte, fühlte er sich hier zu Hause. Ein Hotel wie ein Buch, aufgeschlagen auf einer Seite, die nie umgeblättert worden ist. Überall waren dunkle Vertäfelungen angebracht, im Raum verteilt standen hochlehnige Stühle aus Walnussholz und Sofas, die vor dem Krieg modern gewesen waren. In kleinen Nischen hingen abgenutzte Telefone und Lampen mit verfärbten Schirmen. Am Fenster verkaufte ein Mann Zeitungen, die in Ständern aus Teakholz steckten, Zeitschriften und Bücher hatte er in antiken Schränkchen ausgelegt. Man reservierte dort Plätze fürs Theater – Broadway, Off-Broadway, Off-off-Broadway, Laute, die er kannte, aber nicht verstand, Signale einer eleganten, vergangenen Welt.

»Wohin gehen wir heute Abend?«

In ihrer Stimme lag eher etwas Herausforderndes als Neugier.

»Equus«, antwortete sein unbekannter Nachbar, ohne zu überlegen. Equus, lateinisch für Pferd, ein Wort, so vertraut, dass es wehtat. Er hatte das Plakat gesehen, es war das erfolgreichste Stück der Saison. Er hatte keine Ahnung, wovon es handelte, wollte es auch nicht wissen.

Ins Theater ging er ohnehin selten. Die starke Spannung, die er empfunden hatte, als er in seiner Schulzeit selbst einmal auf der Bühne stand, fand er in Theatern nicht mehr.

Haimon war er gewesen in der griechischen Tragödie Antigone, ausgesprochen gymnasial das Ganze. Haimon, Sohn eines übermächtigen Vaters, Geliebter einer sehr radikalen Frau. Tragisches häufte sich, Tod, Verfluchung, Liebe und Wahnsinn im Übermaß. Die Worte, die er sprechen musste, waren kopflastig, aber er jonglierte mit ihnen, als wären es seine eigenen. Besonders auf eine Szene kam es ihm an, die Konfrontation mit seinem Vater Kreon. Sie standen einander direkt gegenüber, Kreon, ein Junge von achtzehn, als Mann von fünfzig zurechtgeschminkt. Er, Haimon, musste Antigone retten. Er musste und würde seinen Vater überzeugen, dass ihrer aller Leben verloren war, wenn man Antigone tötete. Er drohte, er flehte, er klagte ihn an. Das Pathos war aus dem Text verschwunden, an keiner Stelle war seine Stimme unsicher, sie waren zeitlos, wie sie dort standen, aneinandergeschmiedet. Er sah, wie seinem Gegenspieler Tränen in die Augen traten, wie die Farbe unter seinen Wimpern verlief. Der Saal lag als dunkles Schweigen zu ihren Füßen, ein Vakuum der Aufmerksamkeit. Sein eigener Vater saß irgendwo zwischen den Menschen dort, unsichtbar, die Ohren verbunden, er hatte eine Operation hinter sich.

Aufführung im Palace, einen schöneren Euphemismus für so ein Provisorium aus den fünfziger Jahren hatte es sicher nirgends gegeben. Aber die Bühne war groß und hing voller Seile und Vorhänge und Eisengewichte. Das Leben sollte nie mehr eine solche Weite haben wie auf diesen schäbigen Brettern. Als er seinen Vater nach dem Ende des Stücks die Treppe hinter der Bühne heraufkommen sah, spürte er einen Kloß im Hals und musste sich zusammennehmen, um nicht zu weinen. Von diesem Augenblick an bedeutete ihm alles weniger. Er war Haimon gewesen, hatte eine merkwürdige Freiheit besessen, als er ihn spielte, mit Worten, die nicht seine eigenen waren und dennoch seltsam vertraut. Er hatte seinen Anteil gehabt an einem Drama von Liebe und Verhängnis und Tod. Zum Lachen wahrscheinlich für Eltern, die sahen, wie ihre Kinder sich mit Begriffen aus einer unvorstellbaren Vergangenheit abquälten, deren Gewicht sie überforderte. Und doch sollte er später fast nichts mehr so intensiv erleben. Die Geburt seiner Kinder, den Tod seines Vaters, zwischen den Ereignissen und ihm selbst schien plötzlich eine Entfernung zu liegen, die er nicht mehr überbrücken konnte. Später. Zwanzig Jahre lagen jetzt schon zwischen der Halle des Palace mit ihrer leicht abfallenden Tanzfläche, an deren Rand, halb auf der Bühne, eine Dixielandband spielte, und dem Algonquin-Hotel, wo Steve Ross, »the best barpianist in town«, am Klavier melancholisch vor sich hin sang. Wenn er zu wählen hätte, würde er sich für das Palace entscheiden, für Antigone, für seinen Vater. War das Sentimentalität, Sehnsucht nach verlorener Jugend? Nein. Nie und nirgends hatte er sein Leben so intensiv gelebt, war er so unerträglich glücklich gewesen.

An den Tagen vor der Aufführung hatte es zu frieren begonnen. Der Keller, in dem sie probten, war eiskalt. Beim Verladen der Dekorationen waren sie alle von weißlichem Dunst umgeben. Ihre Konzentration auf das Spiel war so streng wie der Frost. Die Schule existierte nicht mehr, Lehrer und Hausaufgaben hatten ihre Ansprüche verwirkt. Sie bezweifelten, dass noch jemals irgendwo auf der Welt so glänzend gespielt werden würde. Es war im Übrigen auch kein Spiel, sie selbst waren es, die verbannt wurden, getötet und gekrönt.

Er ging mit seinem Vater durch die Kulissen zur Garderobe, die Erregung der gerade beendeten Vorstellung tobte noch in seinem Inneren. In den Spiegeln sah er den Verband, den sein Vater trug.

»Sollen wir morgen eine Tour machen? Im Alblasserwaard ist alles zugefroren.«

Er zeigte auf den Spiegel: »Geht das denn mit deinen Ohren?«

»Kommt morgen um acht Uhr ab.«

Bei Kinderdijk hatten sie das Auto abgestellt. Es herrschte klirrender Frost. Die Sonne drang langsam durch den Nebel, und hoch oben sah man schon ein wenig Blau. Sie waren zu dritt, sein Bruder, sein Vater und er. Alle drei gute Eisläufer, sein Vater der Routinier mit den ausgreifendsten Schritten. »Gleite, solange du kannst, lass die Schlittschuhe arbeiten.« Sein Bruder und er hatten den Stil übernommen. Ihre Regeln waren: keine Schnelllaufschlittschuhe, nur die klassischen mit Holzkufen. Wenn es sehr kalt war, ein paar Zeitungen unter den Pullover, aber nie eine Jacke. Handschuhe nur, wenn es unbedingt notwendig war.

Sie kletterten den Deich zum Kanal hinunter, zogen die Riemen fest und verließen das Ufer. Festgefrorenes Schilf an den Rändern zwang sie in die Mitte des fast schwarzen Eises. Sie bildeten eine Reihe, sein Bruder vorne, dann sein Vater, dann er. Alle Viertelstunde würde der zweite die Führung übernehmen und der erste sich hinten anschließen. Es musste kein Wort gesprochen werden, der Rhythmus ergab sich von selbst. Eigentlich überraschte ihn ihre Geschwindigkeit. Ein Schritt folgte mühelos dem anderen, sie sausten über das Eis. Immer wieder Dörfer, an denen sie vorbeiglitten, Streefkerk, Groot-Ammers, Ottoland, Brandwijk, ab und zu mussten sie bremsen, wenn das Eis gefegt wurde oder ein kleines Stück Land zu überqueren war.

Die Sonne hatte jetzt mehr Kraft, der letzte Nebel war verschwunden, die Temperatur lag knapp unter dem Gefrierpunkt. Manchmal setzten Eisläufer, die ihnen entgegenkamen, ein paar Schritte aus, um ihnen zuzusehen. Diszipliniert und wild, erfüllt von einem eigenartigen Stolz, liefen sie dahin, unabhängig von allen, unabhängig von Einschränkungen und Gesetzen. Vor sich sah er den gebeugten Rücken seines Vaters mit den entspannt ineinander gelegten Händen. Er wollte nur eines: mit ihm Schritt halten. Der Horizont war zwischen ihnen. Noch in der Ferne konnte man über dem flachen Land Türme sehen, Höfe, Mühlen, der Alblasserwaard lag bis in seine letzten Winkel offen und ungeschützt da. Sein Bewusstsein zog sich auf einen Punkt zusammen und gewann an Tiefe. In dem glasklaren Licht konzentrierte er sich auf seinen Vater. Dies war er wirklich, so würde er sich immer an ihn erinnern. Nicht an den Mann in den Krankenhäusern, den Mann mit der Zusatzversicherung, den Salben, den immer wieder neuen Diäten. Dies war sein Vater, der Eisläufer vor ihm mit seinen beinahe eleganten Schritten, seinen subtilen Bewegungen. Wenn er wollte, konnte er seine Hände greifen, ihre Geschwindigkeit war so gleichmäßig, dass der Rhythmus sich nicht verändern würde. Aber die Nähe war schon deutlich genug zu spüren.

Genauso stark wie am vergangenen Abend, als ihn auf der Bühne Gefühle und Sehnsüchte überwältigten, fühlte er sich von dieser Tour gefordert, sie nahm ihn vollkommen in Anspruch. Hatte sein Vater begriffen, was ihm Antigone und Haimon und Kreon bedeutet hatten, und hatte er ihn deshalb an einen Ort mitgenommen, wo es nichts als Weite gab?

Stunde um Stunde liefen sie, ruhten hier und da einmal aus, bis zum späten Nachmittag waren sie unterwegs. Die Sonne war untergegangen, und unbemerkt hatten sich an diesem windstillen Tag anthrazitgraue Wolken über ihnen zusammengezogen, die nach Schnee aussahen. Als sie wieder in Kinderdijk waren, schnallten sie die Schlittschuhe ab und gingen mit gewöhnungsbedürftig leichtem Schritt am Deich entlang. Dann plötzlich fiel der Schnee. Es war fast dunkel, die Flocken fielen senkrecht. Sie sprachen nicht, stampften leicht mit den Füßen, und nirgendwo in dem ganzen gottverlassenen Alblasserwaard gab es drei, die so von Entzücken erfüllt waren wie sie.

Equus, überall hingen die Plakate, Fifth Avenue und Broadway, in Buchhandlungen und modischen Restaurants. In den schneebedeckten Straßen von Greenwich Village und im Büro des New Yorker, wo er mit einem Redakteur gesprochen hatte, der schon ein Jahr an einem Artikel über die flämische Literatur arbeitete. Der New Yorker war das snobistischste Blatt von Amerika, das niemand las, aber jeder zitierte. Beim Versuch, zu diesem Walhala des amerikanischen Journalismus vorzudringen, war er in einem Gebäude gelandet, das wie ein altes Lagerhaus aussah. Gläserne Verschläge mit engen Durchgängen dazwischen erweckten den Eindruck, dass man sich hier Schrauben, Nägel und anderes Material besorgen könne. Äußerlich ähnelte der Mann, mit dem er gesprochen hatte, auch wirklich einem Lagerverwalter, nur der Kittel fehlte. Sie hatten sich schon bald in ein eigenartiges Gespräch verwickelt. Er war erstaunt darüber, dass jemand Lust hatte, sich ein volles Jahr mit der flämischen Literatur zu beschäftigen. Der Lagerverwalter hatte protestiert.

»Die flämische Literatur ist in vieler Hinsicht wesentlich interessanter als die niederländische. Ich spüre deutlich den Unterschied zwischen der blutleeren Prosa der Holländer und dem Überschwang der Flamen. Mir ist zwar aufgefallen, dass die Flamen weniger gut schreiben, aber sie schreiben mit Leidenschaft. Fast niemand in den Niederlanden wagt sich an etwas Ernsthaftes. Mir scheint, man fürchtet dort Ernst und Gefühl wie der Teufel das Weihwasser. Die Holländer haben, glaube ich, so viel Angst vor ihrem eigenen Ernst, dass sie sich in Ironie flüchten, in Konstruktionen, Experimente. Sie haben Angst vor ihrer eigenen Sprache und kennen die Bedeutung ihrer Wörter nicht mehr. Flamen vergessen manchmal zu schreiben, aber ihr Werk strömt Begeisterung aus, es hat eine Seele, es lebt.«

Viel entgegenhalten konnte er dem nicht. Er wusste, der Mann hatte recht. Er hatte ihn falsch eingeschätzt. Er war ganz und gar kein Snob und gewiss kein Lagerverwalter – er war ein wirklicher Literaturliebhaber, ein Flame sozusagen.

Als er wieder im Hotel war, fiel ihm der Unterschied zwischen dem Haus des New Yorker und dem Algonquin auf: das eine kahl und asketisch, das andere plüschig und warm. Sonderbar hartnäckig ging er immer wieder in die Hotelhallen, um festzustellen, dass es eigentlich kahle Büros waren, die er suchte.

Suchte er irgendetwas? Eigentlich nicht. Er hörte dem Gespräch am Nachbartisch zu. Manchmal zoomte er die Frau mit seinen Blicken heran. Sie war vielleicht zehn Jahre jünger als er selbst, nervös, modebewusst, direkt. Er hörte ihr Lachen, ihre schnellen Antworten, er sah ihre Bewegungen. Das Hotel war die ideale Kulisse für das träge, gestaltlose Verlangen, das sie in ihm weckte. Gestaltlos, körperlos, Erotik war Suggestion, nur eine Hülle für das Verlangen. Er war eine Zeitungsbreite von ihr entfernt, die Breite eines Regenschirms, eines Mantels. Aber die Worte, die sie wechselten, die Witze und Scherze der beiden lösten in ihm dieses unbestimmte Verlangen aus. Die Ruhe, die er brauchte, fand er nirgendwo.

Er wusste nicht, ob es an ihrer unberechenbaren Art zu reagieren lag oder an ihrer Jugendlichkeit, jedenfalls fiel ihm das Mädchen ein, das ihn früher einmal jede Minute des Tages beherrscht hatte. Es war während eines Winters gewesen, vor zwanzig Jahren. Als er sich das erste Mal mit ihr traf, hatte er fast nur zugehört. Ein Gespräch konnte man das kaum nennen, sie war es, die sprach. Er war nicht gerade schüchtern und konnte gut mit Mädchen umgehen. Aber ihr war das Tempo immer zu langsam. Ihr Witz war allen weit voraus, und es ging so eine Anziehungskraft von ihr aus, dass er sich am liebsten sofort davongemacht hätte. Bei diesem ersten Gespräch saß er ihr gegenüber, ein niedriger Tisch stand zwischen ihnen, sie saß auf einer Couch, er auf einem Esszimmerstuhl. Aus unerfindlichen Gründen hatte sie ihn erwählt, um ihr Dasein zu bestätigen. Vielleicht nahm sie an, dass er nicht ganz blöd war, und hatte gehört, dass er meistens das Mädchen bekam, das ihm gefiel. Sie war in der Klasse über ihm, obwohl sie nicht viel älter war. Sie redete mit einer Mühelosigkeit und Geschwindigkeit, die ihn überwältigten – sarkastisch, lebhaft, böse und kokett. Sie hatte ein Repertoire sonderbarer Märchen und durchflocht ihre Geschichten mit vielen geistreichen Witzen. Sie imitierte Lehrer, schimpfte auf ihre Mutter und hatte die Mimik eines Clowns. Und nicht einen Augenblick vergaß sie, dass sie dem Jungen ihr gegenüber imponierte.

Ihr Anblick war immer wieder anders, voller Widersprüche und im höchsten Grade herausfordernd. Sie konnte ihren Charme schlecht kontrollieren, und es schien, als wollte sie in kürzester Zeit ihr Inneres nach außen kehren. Aber das erschöpfte sie nicht einen Augenblick.

Die Erregung, die ihn erfasste, während er sie ansah und ihr zuhörte, war nicht die normale angenehme Empfindung. Es war die gleiche Art von Erregung wie jene, als er entdeckt hatte, dass es Dichter gab. Dass sie eine Welt beschrieben, die unendlich weiträumiger als seine eigene war; und instinktiv wünschte er, zu dieser Welt zu gehören.

Sie war sechzehn Jahre alt und auf dem Gipfel ihrer geistigen Beweglichkeit. Von Anfang an gab sie ihm zu verstehen, dass sie ihn in ihrer Nähe haben wollte. Aber nicht näher als auf Armeslänge. Sie stellte sich vor, dass Liebe nur ohne Hände und Füße unversehrt blieb. »Sobald du mich berührst, bin ich schutzlos.« Das wiederholte sie viele Male.

In jenem Winter streifte er um sie herum, schrieb ihr Briefe und wartete. Sie war so übermütig und liebenswürdig, wie sie später nie mehr sein sollte. In ihrer grenzenlosen Energie zog sie ihn mit, und zusammen gingen sie alles an. Kirchen, Kneipen, Kinos, Stripteaselokale, Tanzbars, er begleitete sie, wohin sie wollte. Sie gingen zusammen essen, besuchten Partys, wohnten im Wochenendhaus ihrer Eltern. Er trug ihren Schal und hatte so ihren Geruch um sich. Sie näherte sich ihm, hielt ihn auf Abstand, ließ ihn gehen. Raffinesse, Unschuld, sie kombinierte alles, wovon sie reichlich besaß: unglaubliches Talent, ihr Leben im Mittelpunkt seines Interesses zu halten.

Eines Nachmittags lehnte er an einer Wand ihres Zimmers. Sie wohnte in einem großen Haus, ihre Eltern waren reich, aber sie war nicht verwöhnt. Er war gekommen, um sie abzuholen. Zwischen den geöffneten Fenstern hing ein hoher Spiegel, in dem sie oft ihr Gesicht betrachtete und vor dem sie sich in seiner Gegenwart schminkte. Es fiel ihm dann nicht leicht, sich unbefangen zu geben, und wenn sie ihre Wimpern schwärzte, war es für ihn kaum auszuhalten. Aber sie hatte ihm gesagt, er solle sich nicht anstellen. So war er nicht darauf gefasst, dass sie plötzlich mit einer schnellen Bewegung ihren Rock heben würde. Das Übermütige daran entging ihm. Sie trug eine schwarze, seidene Unterhose und tat nichts, als diese hochzuziehen. Sie lachte lauthals und hob noch einmal ihren Rock, eine letzte Korrektur. Es war eine Sache von Sekunden, aber ihm war, als hätte er einen Schlag in den Magen bekommen. Er trat ein paar Schritte nach vorn, etwas in seiner Brust schmerzte schrecklich, er drehte sich um, sie blickte ihn neugierig an. Noch bevor sie etwas sagen konnte, war er weg.

Auf jedem Tisch stand ein kupfernes Glöckchen, mit dem man den Kellner rufen konnte. Das leise Geklingel ringsum störte ihn nicht. Ein makellos gekleideter Liftboy öffnete alle paar Minuten seinen Aufzug und schloss mit einem trockenen Schlag das eiserne Gitter hinter den Gästen. Der Empfangschef an der Rezeption nahm, ohne hinzusehen, einen Schlüssel aus einem der zahllosen Fächer. Kellner waren ohne Hast mit Tabletts unterwegs. Ein Hotelmanager an einem hohen Pult notierte Reservierungen. Die Maschine arbeitet, dachte er. Er registrierte, wie alles einfach seinen Gang ging. Die Halle voller redender Leute, ihre sich mechanisch bewegenden Münder, ihr Blinzeln. Er hoffte, die junge Frau nebenan würde nichts mehr sagen, würde in der Menge aufgehen, wie er selbst darin aufgehen wollte. Die Wärme, das gedämpfte Licht, die dezenten Geräusche versetzten ihn in einen Zustand der Willenlosigkeit. Ihn beschlich das Gefühl, für alles, woran er glaubte, völlig untauglich zu sein. Warum besuchte er das Algonquin? Das Algonquin war der Stillstand, der Traum, die Vergangenheit oder allenfalls ein unscharfes Dasein. Warum war er hier, warum gab er den Traum nicht auf? Sein Vater würde deswegen nicht zurückkommen, mochte er die Vergangenheit rekonstruieren, wie immer er wollte. New York, da draußen, verwirrte ihn mit seiner explosiven Geschäftigkeit. Er erkannte den wilden Idealismus, den Idealismus, den er in längst vergangenen Sommern und Wintern gehegt und der ihn nie wirklich verlassen hatte. Aber New York war eine Stadt ohne Anfang und Ende, die Verbindungen waren dort verloren gegangen. Die Visionen von früher tauchten auf: Er würde für Gerechtigkeit kämpfen, gegen den Hunger, würde ein Leben der Tat führen. Es war dies nichts als Leugnung der Wirklichkeit, ein ekstatisches Verlangen nach Unsterblichkeit, nach seinem Vater. Mit so großen Worten hatte er Roy am Abend zuvor die Verwirrung erklärt, die ihn in dieser Stadt überkam. Roy Dawson, seinem amerikanischen Freund, der überall gelebt hatte und in seine Heimat zurückgekehrt war. Roy hatte ihm daraufhin erzählt, dass er nun ein Leben ohne jeden Ehrgeiz führte. Seine Ausbildung, seine Erfahrungen, seine Karriere – von allem hatte er sich verabschiedet. Er arbeitete jetzt in einem kleinen Ort am Atlantik, nicht weit von New York. Er war bei einem Schifffahrtsmuseum angestellt und verantwortlich für eines der alten Segelschiffe. Er putzte das Kupfer der Reling, schrubbte die Decks, reparierte die Segel. Er genoss das Leben draußen, die Wellen, den Wind, das Manövrieren. Alle hochgezüchteten Ideale waren ihm abhandengekommen – er segelte, und das war es auch, was er immer gewollt hatte.

Aus dem Speisesaal war die Stimme von Steve Ross zu hören, Songs von Noël Coward, dem sanften Zyniker. Er sah, wie neue Gäste ins Hotel traten, sie stampften den Schnee von ihren Füßen.

In diesem Moment wurde ihm klar, dass die Zeit zu drängen begann.

Bergab gehen hat etwas Vornehmes, fand er. Langsam hinabsteigen, über abfallende Wege, aufs Zentrum zu, wenn man am Rand eines Waldes wohnt, oberhalb der Stadt.

Jeden Abend, wenn die Dämmerung kam, ging er hinunter und hatte dann dieses angenehme Gefühl. Eine unsichtbare Hand schob ihn sanft an, über Pfade, Straßen hinab.

Zürich. Immer wieder um sechs Uhr verließ er seine Wohnung, dem Schall von Kirchenglocken folgend. Weit unter ihm war der schwache Klang der Glockenspiele zu hören. Sie läuteten im Wettstreit gegeneinander, auf verschiedenen Tonhöhen, mit Pausen dazwischen. Er horchte, hörte eine eigenartige Wehmut heraus.

Er war auf dem Weg zur Altstadt, dem jahrhundertealten Kern Zürichs. Seine Wohnung lag einige hundert Meter darüber, höher wohnte niemand. Die ganze Umgebung konnte er überblicken, sah die Berge auf der anderen Seite, den See, die Krähen, die über den Dächern schwebten. Im Augenblick nach dem Verstummen der Glockenspiele klaffte ein Loch im Rhythmus der Straße. Unterwegs stieß er nirgends auf störende Geräusche. Menschen begegnete er nicht auf den ersten hundert Metern. Manchmal schwankte eine Straßenbahn bergauf Richtung Zoo, man sah nicht einmal Leute, die Hunde ausführten. Wenn es überhaupt ein Geräusch gab, dann höchstens das Hämmern seines Herzens.

Mit geschlossenen Augen hatte er eine Nadel in die Europakarte gesteckt. Er wollte weg. Kleider, Bücher, ein Fernglas, ein Radio und viel Briefpapier, einen Tag später war er in der Schweiz. Von allen Orten der Welt ausgerechnet Zürich. Er fühlte sich hier unverschämt wohl.

Er hatte Zimmer in einer Dependance des Hotels Zürichberg, eines Riesenkastens mit Terrassen, bevölkert von Horden alter Menschen aus benachbarten Heimen. Ein alkoholfreies Hotel, gegründet von Frauen, die den Schweizer Mann vor der Trunksucht bewahren wollten. Darum war es nun mit Karten legenden, Torte essenden Alten gefüllt. Ein Beinhaus, ein Paradies für Fellini. Er holte sich dort jeden Tag sein Frühstück, und so früh er auch kommen mochte, immer wurde an den meisten Tischen schon Karten gespielt. Er genoss die Grimassen, das Gemurmel, die Fröhlichkeit der Todeskandidaten.

Einmal hatte Thomas Mann in diesem Hotel gewohnt, seinem ersten Stützpunkt, nachdem er Deutschland wie ein Dieb in der Nacht hatte verlassen müssen. Thomas Mann, der Schriftsteller, der von seinen Kindern der Zauberer genannt wurde. Zauberer, Illusionist, Blender, tricksend mit Ärmeln und Futter, ein Schriftsteller also.

Der denkbar krasseste Gegensatz zu seinem eigenen Vater.

Er spazierte ruhig in den Abend hinein, der aus den Häusern aufstieg. Wer gut aufpasst, sieht, dass sich der Abend nicht herabsenkt, sondern aus Fenstern und Türen kriecht. Wo Lichter angehen, schlüpft auch das Dunkel heraus. So viele Male hatte er das gespürt.

»Noch ein bisschen dämmern«, sagte sein Vater oft, wenn jemand eine Lampe anmachen wollte. Die Silhouette seines Vaters in einem Sessel. Ein Bein über das andere geschlagen, Rauch einer Zigarette um ihn herum, die Hand mit den auf rätselhafte Art beschädigten Fingernägeln auf dem runden Mahagonitisch. Ein Stillleben, die Hand neben zwei silbernen Ringen – Fußschmuck indischer Prinzessinnen, hieß es – und daneben die in Leder gebundene Geschichte Amsterdams aus dem siebzehnten Jahrhundert. Sein Vater, der Antizauberer, war der Magnet, der Spiegel, der Klang in seinem Körper.

Noch ein bisschen dämmern – er wunderte sich, dass die Straßenbeleuchtung nicht eingeschaltet war. Schweizerische Sparsamkeit wahrscheinlich. Ende Februar war es, Vorzimmer des Frühlings. Eine Amsel saß hoch oben auf dem Haus, an dem er vorbeikam. Der Vogel hob sich schwarz vom letzten Rest des Lichts ab. Er sang, nervös, aus Leibeskräften. Immer der gleiche Gesang, jahrein, jahraus der gleiche, und immer, wenn es auf Ende Februar zuging – sein Gedächtnis für solche Einzelheiten war unerfreulich gut entwickelt. Die Klänge führten ihn kreuz und quer durch sein Leben.

»Fang«, rief er E. zu und warf blitzschnell ein halbvolles Marmeladenglas in dessen Richtung. E. pflückte es aus der Luft und warf es sofort zurück, mit einem hohen, gackernden Lachen. Die Fenster des Zimmers standen weit offen. E. und er streckten die Köpfe hinaus, um nach jemandem Ausschau zu halten, den man ein Marmeladenglas fangen lassen könnte. Gegen sechs zogen Studenten vorbei, unterwegs zu Mensen und Clubs. Keiner ihrer Freunde war zu sehen.

E. setzte sich in den farblosen Ledersessel, den er bei einem Trödler gekauft hatte. Und den sie mit großer Mühe in ihr gemeinsames Zimmer hinaufgewuchtet hatten. Zwei Schreibtische nebeneinander, einige Stühle, Bilder, ein paar wacklige Lampen, die Schätze von Leuten, die regelmäßig umziehen müssen.

Alles war bestimmt von der undefinierbaren Atmosphäre eines warmen Junitages. Juni 1967. Der Krieg in Israel war gerade zu Ende. E. und er waren vorbehaltlos für die Israelis gewesen. Hatten gejubelt, als israelische Panzer den Suezkanal erreichten, hatten gehofft, dass Kairo angegriffen würde oder Damaskus. Aus der Entfernung mitzukämpfen machte Spaß. Moshe Dayan war ihr Held – einäugige Romantik, Wüstenfuchsallüre, Diplomatie mit offenem Hemd. E. würde Jurist werden, vielleicht sogar Diplomat, einer dieser künstlerisch veranlagten Beamten, die dafür sorgen, dass die Welt sich weiterdreht. E. war sein Freund, der vertrauteste, den er je haben sollte. Jungenhaft, schmächtig, mit scharfem Blick, schmalem Gesicht, mit Humor und Gefühl für Musik. Es war nicht so, dass sie einander ergänzt hätten, das nicht. Aber sie empfanden keinerlei Leere, wenn sie zusammen waren. Ihre Charaktere waren so, dass die Nähe sie nicht ermüdete.

E. zündete sich eine Zigarette an. Mit dem Behagen eines Plantagenbesitzers holte er ein Feuerzeug aus einer besonderen Innentasche seiner Jacke und knipste die Flamme an. Sie waren nicht viel älter als zwanzig. Mädchen, Literatur, Politik, studieren, wenn es sein musste: unendliche Tage, unendliche Jahre.

»Wo gehen wir heute Abend hin?«

»Greta Garbo, Ninotschka, um Mitternacht in der Filmliga.«

»Ist das der Film, in dem sie endlich lacht?«

»Ja – über einen blöden Witz, der zweimal erzählt wird, der sie aber nicht zum Lachen bringt. Dann fällt der Mann, der immer ärgerlicher wird, sooft er seinen Witz wiederholt, samt Stuhl und allem um, und sie fängt auf so unnatürliche Weise zu lachen an, dass man den Regisseur schlagen möchte. Garbo darf nicht lachen. Ich bin dagegen.«

»Würde sie ein Marmeladenglas fangen, wenn man es ihr unerwartet zuwerfen würde?«

»Fangen kann sie nicht und lachen folglich auch nicht, aber sonst alles. Sie ist unmenschlich schön, ihre Stimme ist unvergesslich, und sie spielt …«

»Ja, nur ruhig, bitte beruhigen Sie sich.« E. zog eine Augenbraue in die Höhe und zeigte auf die Couch gegenüber.

»Ganz entspannt liegen, würde ich jetzt raten«, sagte er im Ton eines Psychiaters. Nach Psychiatern hätte man in ihrer Umgebung lange suchen können. Sie hatten eine tiefe Abneigung gegen alles, was nach Therapie roch. Und doch waren sie nicht unsensibel, im Gegenteil. Heimweh, Verliebtheit, hoffnungslose Liebe zu den falschen Frauen, Gedichte schreiben, Theater – sie überschütteten einander mit Gefühl. Sieben Jahre sollte ihr Freundschaft dauern. Reiche Jahre.

Ein paar Monate nach dem Sechstagekrieg reisten sie nach Israel. »Dayan spielen«, sagten sie. »Das Herz der Welt besuchen«, »Wunder erleben«, »die Wüste, die wie eine Rose blühte«, zitierten sie bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit.

»Hier wandelte Gottes Sohn auf dem Wasser.«

»Hier wurde Jesus im Jordan getauft.«

»Hier steht die älteste Kirche.«

»Hier haben Begins Männer Hunderten von palästinensischen Männern, Frauen und Kindern die Kehle durchgeschnitten.«

»Was? Welchen Reiseführer hast du da?«

Sie wanderten durch ein hügeliges Gebiet zwischen Jerusalem und Tel Aviv. Überall lagen ausgebrannte Wracks, Kettenfahrzeuge, Panzer.

»O Jesus!«

»Ist hier nicht gegangen.«

»Und danach ist diese ganze Völkerwanderung in Gang gekommen. Hunderttausende Palästinenser flüchteten über die Grenzen. Ich weiß es, die Israelis sprechen nicht davon, und wir tun, als wüssten wir es nicht. Es ist schon schrecklich.«

»Was gibt es Schöneres als den See Genezareth?«

»Vorläufig nichts.«

»Bei welchem Kibbuz werden wir heute Abend einen Bissen Brot erbetteln?«

»Ich kann keinen Kibbuz mehr sehen.« E. fing an zu humpeln und ahmte einen Lahmen nach. »Darf ich nach Hause?«

In Prag brach der Frühling an. Sie hingen am Radio. Nie wieder hat das so geklungen wie in diesem Frühjahr. Dubček, Svoboda, Smrkovský, Jan Palach, der kehlige Klang ihrer Namen.

Paris kam, die permanente Diskussion, die Fantasie gelangte an die Macht. Wirklich, sie stellten sich vor, ihre Welt würde sich schon weiterdrehen, maßlos wollten sie leben, mitreißend. Wenn es sein musste, unentwegt diskutierend; wenn es sein musste, demokratisiert; wenn es sein musste, ohne akademischen Grad. Auf mitreißende Art leben – oder wenigstens davon lesen, davon erzählen hören, darüber schreiben. Ein paar Jahre später war E. tot. Totgefahren auf einem Gebirgspass in Afghanistan.

»Of all places.«

Die Amsel über seinem Kopf setzte einen Moment aus. Er blieb stehen und sah, wie der Vogel in den Sturzflug ging.

Die meisten Leben spielen sich im Nichts ab. Alles ist eine Wiederholung von Zügen, eine Pattstellung, alle hämmern mit der gleichen Art Kopf gegen die gleiche Art Tür, die geschlossen bleibt. Sich niemals öffnen wird. Die gleichen Bilder, die gleichen Stimmen, die gleichen Wörter, die gleichen Instinkte. Eine Amsel, die wegtaucht und auf dem nächsten Dach das gleiche empörte Lied singt. Der Welt zurufen, dass man da ist.

Er näherte sich der Stadtmitte. Musik wehte aus Häusern, Straßenbahnen klingelten in einer Kurve, Autos hupten. Thomas Mann hatte einen großen offenen Wagen gehabt, mit dem er von Deutschland hierher gefahren war. Mit Katia, seiner Frau. In diesem offenen Wagen bog Mann vom Zürichberg her ins Zentrum ein. Eine Mumie, eine Legende, ein Hexenmeister, ein Maniac. Wo er jetzt ging, war Mann gefahren. Auf dem Weg zum Schauspielhaus, zum Restaurant Kronenhalle, zu einer Lesung oder einem Literaturabend im Baur au Lac. Er war der Unbeirrbare, der Geniale, der Unnahbare, der Ehrgeizige. Mit Kindern, die ihres Vaters Talent dienten, Schatten einer Tag und Nacht scheinenden Sonne. Mit zwei Söhnen, die sich umbrachten.

Inzwischen war es dunkel geworden. Er hatte eine seltsame Verabredung. Er sollte geschminkt werden und, als Zeitung verkleidet, Fastnacht feiern. Seine Begleiter erwarteten ihn in der Kronenhalle, Leute, die er zufällig kennengelernt und die ihn eingeladen hatten. Karneval kannte er nicht, es wäre ihm nie im Leben eingefallen, dabei mitzumachen. Aber in Zürich war ihm alles recht, er würde es überleben.

Schon bald wurde ihm klar, dass Fasnacht keine Lappalie war. Aus allen Richtungen zogen Musikgruppen über Straßen und Plätze. Ein Korso herausgeputzter Menschen, ganz auf Fröhlichkeit eingestellt.

Die Kronenhalle war das interessanteste Restaurant, das er kannte. Die alte Inhaberin schlurfte jeden Abend mit vorsichtigen Schrittchen an den Tischen entlang, um die Gäste zu begrüßen. Die Kellner duldeten sie, und nach ihrer Runde trank sie eine halbe Flasche Champagner. Sie war neunzig. Die Wände des Speisesaals waren von oben bis unten mit Bildern von Künstlern bedeckt, die jetzt berühmt waren und früher zu den Gästen gehört hatten. Die Echtheit der Bilder und die Trivialität essender Menschen verliehen dem Saal einen undefinierbaren Charme. Es gab einen Feininger – Manhattan betitelt –, unter dem er ein paar Mal gegessen hatte. Wolkenkratzer in dunkler Kreide. Er konnte den Gedanken nicht unterdrücken, dass das Bild bei einer Auktion sehr viel einbrächte. Ein schönes Stück, aber düster. Sein Vater hatte ihn gelehrt, Bilder zu sehen, nahm ihn mit zu den Besichtigungstagen von Auktionshäusern wie Mak in Dordrecht.

Seinem Gefühl nach regnete es immer, wenn sie samstags nachmittags in Richtung Dordrecht unterwegs waren. Er durfte den schaukelnden Citroën DS seines Vaters fahren, eher ein Amphibienfahrzeug als ein Auto. Ein Wagen, schön wie ein Feininger. Während der Fahrt redeten sie nicht viel. Manchmal stützte sich sein Vater mit einer Hand übertrieben deutlich auf das Armaturenbrett, um zu zeigen, dass für seinen Geschmack zu spät gebremst wurde. Dabei stöhnte er leise und blickte kurz zur Seite. Und wenn sie auf die lange Zufahrt zur Brücke über die Noord kamen, fragte er, ob klar sei, dass man auf der Brücke nur siebzig fahren dürfe.

Besichtigungstag bei Mak. Beide liebten sie die Romantik, holländische Ansichtskarten aus dem neunzehnten Jahrhundert, Maler des ewig Kleinen. Schon als Jungen hatte ihn sein Vater auf die Eislandschaften von Schelfhout aufmerksam gemacht, die Kircheninterieurs von Bosboom, die Straßen von Vertin, die Pferde Verschuurs. Er kannte ihre Namen und Lieblingsthemen schon Jahre, bevor sie in Mode kamen.

Das Nennen der Maler war fester Bestandteil ihrer Fahrt. Bis sie in der Visstraat ankamen, hatten sie den rituellen Austausch vollzogen.

»Es scheint ein schöner Hoppenbrouwers da zu sein«, sagte sein Vater.

»Und ein Springer.«