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Inhalt

[Cover]

Titel

Zitat

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

Autorenporträt

Über das Buch

Impressum

[Leseprobe – LICHTER ALS DER TAG]

[Leseprobe – ZEITHAIN]

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Liebende könnten, verstünden sie’s, in der Nachtluft
wunderlich reden. Denn es scheint, daß uns alles
verheimlicht. Siehe, die Bäume sind; die Häuser,
die wir bewohnen, bestehn noch. Wir nur
ziehen allem vorbei wie ein luftiger Austausch.

Rainer Maria Rilke, Duineser Elegien

1

Ein Stereoskop ist ein Gerät zum Betrachten von Stereobildpaaren, die mit einer Stereokamera aufgenommen wurden. Durch die geringe seitliche Abweichung entsteht der Eindruck räumlicher Tiefe: Man glaubt, den Porträtierten leibhaftig vor sich zu haben. Man blickt durchs Stereoskop und ist mit ihm allein. Da man dabei die Augen auf die Okulare pressen muss, sind alle anderen optischen Eindrücke ausgeschaltet, sodass man sich ganz auf die Gesichtszüge des Abgebildeten konzentrieren kann.

Ich könnte mir vorstellen, dass Liebespaare, die voneinander getrennt leben mussten, über diese Erfindung sehr froh waren. Eine Zeit lang jedenfalls, bis sie die Nähe, die doch nicht greifbar war, rasend machte. Die anderen, die ebenfalls Hoffnung in diese Technik setzten, waren die Kriminologen. Sie erlaubte es ihnen, im Gesicht des Täters zu forschen. Konnte man dem Unerhörten, dem Rätsel, das einem das Verbrechen aufgab, nicht auf die Spur kommen, indem man im Gesicht des Täters las, wie es der Jäger in den Hufabdrücken des Wildes tat? War in dieser Landschaft aus Hebungen und Senkungen, der man, anders als auf herkömmlichen Fotografien, mit dem Finger nachspüren zu können meinte, nicht vielleicht die Erklärung enthalten, nach der man die ganze Zeit gesucht hatte?

Die Liebespaare und die Kriminologen also. Und beide wurden am Ende enttäuscht.

Am Vormittag rief Wüstenhagen an, der Händler, bei dem ich mich manchmal nach alten Kameras umsah, und sagte: »Ich habe da eine Stereokamera, die 1919 gebaut worden ist. Haben Sie Interesse?« Ja, hatte ich. Doch als ich nach dem Preis fragte, druckste er herum. Er müsse sich, sagte er, erst bei dem Mann erkundigen, der ihm das gute Stück in Kommission gegeben habe. »Tun Sie das«, sagte ich, und nachdem ich aufgelegt hatte, fiel mir ein, dass es sein Geburtsjahr war. 1919 war das Geburtsjahr meines Vaters.

Ich stieg zur Mansarde hoch, in der mein Büro lag, und am Abend, ich kam gerade wieder herunter, rief Wüstenhagen ein zweites Mal an. »Nun kenne ich ihn«, sagte er.

Doch der Preis, den er nannte, war so absurd hoch, dass ich ablehnte.

Zwei Anrufe von Wüstenhagen. Und in der Nacht der Anruf von Frau Roth, der Haushälterin meines Vaters.

Es war gegen halb zwei. Das Telefon schrillte, ich stand auf, ging in den Flur, nahm den Hörer ab und hörte ein Schluchzen, dann ein paar Worte, die ich nicht verstand, aber immerhin erkannte ich nun die Stimme.

»Frau Roth?«, fragte ich.

»Ja«, erwiderte sie und sagte dann, dass er gestorben sei. Sie war am Abend noch einmal in seine Wohnung gegangen und hatte ihn tot im Sessel gefunden. Der Fernseher lief. Er saß da, als lebte er, aber er war tot.

Sie sprach stockend, sich wiederholend, mit Pausen zwischen den Sätzen. Sie sagte, sie sei am Nachmittag bei ihm gewesen und am Abend noch einmal zurückgekommen, um ihm mitzuteilen, dass sie in der nächsten Woche nicht kommen könne. Am Nachmittag hatte sie das vergessen. Sie hatte ihn angerufen, aber er war nicht an den Apparat gegangen, deshalb hatte sie sich noch einmal auf den Weg gemacht, den Berg hinauf, das heißt, ihr Mann hatte sie gefahren. Sie hatte geklingelt, und da er nicht öffnete, hatte sie geglaubt, er sei nicht da, und den Schlüssel benutzt, sie hatte ja einen Schlüssel. Sie hatte die Tür aufgeschlossen und war hineingegangen, um ihm einen Zettel zu schreiben, den sie auf den Küchentisch legen wollte.

Und noch etwas sagte sie, etwas, dessen Bedeutung mir erst später klar wurde und das sie nur erwähnte, weil sie sich verletzt hatte.

Sie war hereingekommen, hatte, da sie den Lichtschalter nicht gleich fand, seinen Namen gerufen, und als sie ein paar Schritte in die Diele tat, war sie in der Dunkelheit gegen ein Hindernis gestoßen: Die Leiter. Die in die Decke eingepasste Tür, über die man auf den Dachboden gelangte, war heruntergeklappt und die Leiter herausgezogen. Frau Roth arbeitete seit sechzehn Jahren bei ihm, seit seiner Pensionierung, aber das hatte sie noch nicht erlebt. Sie ging nie auf den Dachboden. Deshalb hatte sie nicht damit gerechnet.

Um zehn hatte sie ihn gefunden, um halb elf war der Arzt gekommen und hatte seinen Tod festgestellt. Zu diesem Zeitpunkt wusste sie, dass er tot war, aber es dauerte noch drei Stunden, bis sie sich ein Herz fasste und meine Nummer wählte.

Frau Roth war eine kleine stämmige Frau mit breitem Gesicht und runden, etwas vorstehenden Augen, die das Haar, zum Knoten geflochten, im Nacken trug. Am Freitagabend sah man sie und ihren Mann in den gelben Klinkerbau im Hofgarten gehen, in dem der Gottesdienst der Freikirchlichen Gemeinde abgehalten wurde. Wenn sie wieder herauskamen, lag ein eigentümlicher Glanz auf ihren Gesichtern, der Widerschein einer harten, selbstgewissen Gerechtigkeit, ein Merkmal dieser Gegend, aber das änderte nichts an der Zuneigung, die sie für ihn empfanden. Mein Vater mochte ein Sünder sein, gottvergessen, aber die Einfachheit, mit der er sein Leben führte, versöhnte sie.

Auf einem Foto, das ich von ihnen machte, stehen sie nebeneinander, Schulter an Schulter, und schauen mit runden Augen in die Kamera, während sich mein Vater, den ich eigentlich fotografieren wollte, aus dem Bild gestohlen hat. Sie vorn, er als Schemen hinter der Glastür. Er mochte es nicht, das Fotografiertwerden oder, sagen wir, die Umstände, die man darum machte, das Brimborium.

Im September also. Im September der Anruf von Frau Roth.

Den jungen Mann, der einen Monat danach anrief, hatte ich nur drei-, viermal gesehen, und ich glaube nicht, dass wir mehr als ein paar Worte miteinander gewechselt haben, guten Tag, auf Wiedersehen, und doch wusste ich, als ich die Stimme hörte, sofort, um wen es sich handelt.

Er leistete in dem Heim, in dem meine Mutter ihre letzten Jahre verbrachte, seinen Zivildienst ab. Wenn sie mich durch das lärmende Treppenhaus zur Tür begleitete, kam er uns manchmal entgegen. Meistens trug er Sandalen und einen aus einem schweren, mit Borten besetzten Stoff gefertigten Kaftan, der ihm bis zu den Knöcheln reichte. Aber nicht deshalb fiel er mir auf, sondern weil er sie merkwürdig ansah. Wenn er sie erblickte, trat ein schwärmerischer Ausdruck in seine Augen. Ein Zeichen der Verehrung, die er für die ältere Frau empfand? Vielleicht. Er streichelte sie mit den Augen (so muss man wohl sagen), während er mich beinahe wütend anstarrte, von unten herauf, als wollte er mir gleich den Kopf in die Brust rammen. Keine Frage, er sah in mir einen Eindringling, einen Boten aus der Welt, der sie früher angehört hatte.

Er war es, dieser Junge, der mich einen Monat danach anrief und mir die Nachricht ins Ohr schrie: »Sie ist tot, hören Sie, tot.« Und gleich darauf die Stimme der Schwester, die ihm den Hörer aus der Hand riss: »Entschuldigen Sie, Herr Karst.«

Es war so: Die Schwestern hatten sich daran gewöhnt, dass sie nachts den Türgriff blockierte, indem sie einen Stuhl mit der Lehne darunter schob, sie hielten es für eine ihrer vielen Marotten, doch als sich die Klinke auch am Morgen noch nicht wieder herunterdrücken ließ, schickte die Schwester, die um sechs die Vormittagsschicht übernahm, den Jungen, der zufällig den Gang herunterkam, nach dem Hausmeister, doch anstatt den Auftrag auszuführen, warf er sich gegen die Tür und drückte sie ein. Und als sie ins Zimmer kamen, fanden sie sie auf dem Bett, angezogen, die Augen geschlossen, wie im Schlaf. Der Junge hatte sich neben das Bett gekniet und die Hand an ihre Wange gelegt.

Damals habe ich nicht darüber nachgedacht. Jetzt aber, da ich die Notizen zusammentrage, fällt mir auf, dass er meine Nummer kannte, auswendig, er hatte nicht nachzuschauen brauchen, sondern war, als die Schwester ihn aufforderte, das zu lassen, ans Telefon gestürzt und hatte mich angerufen.

Mein Vater war sechsmal umgezogen, immer in Tautenburg oder in der Umgebung von Tautenburg, in von Mal zu Mal bessere Wohnungen, die sich von ihrer letzten gemeinsamen Wohnung immer mehr unterschieden, und schließlich in das Haus über der Stadt, den Bungalow, der in einem weiten, zur Stadt hin abfallenden Garten lag.

Abends ging er von Zimmer zu Zimmer und ließ die Jalousien herab, dann trat er in die Diele und klappte die Luke herunter, eine weiße Holzklappe mit einem Metallring, in den man den auf das Ende eines Holzstabs geschraubten Haken klinkte; er zog die Treppe heraus und stieg auf den Dachboden, der so niedrig war, dass er sich bücken musste, wenn er herumging.

Es gab drei kleine, in die Dachschräge eingelassene Fenster: das eine zeigte zur Batterie, einem Felsvorsprung im Wald, von dem aus die mittelhessische Stadt im Französischen Erbfolgekrieg in Brand geschossen worden war (das lernten die Kinder im Heimatkundeunterricht), das andere zum Weißen Stein, einem von Bänken gesäumten Weg, der von jungen Liebespaaren, die nicht wussten, wohin sie abends gehen sollten, aufgesucht wurde; vom dritten aus schließlich sah man über die Tannen hinweg die Stadt.

Zur selben Stunde rückte meine Mutter den Stuhl an die Tür und klemmte die Lehne unter den Griff, eine Vorsichtsmaßnahme, um die Schwester, die zwischen elf und halb zwölf ihren Rundgang machte, am Hereinkommen zu hindern; es war nichts Schlimmes bei dem, was sie tat, und doch wollte sie nicht, dass sie von dieser (wie sie fand) grobschlächtigen Frau, die überdies den verhassten R-rollenden Dialekt dieser Gegend sprach, gestört wurde. Danach zog sie den Vorhang zurück, öffnete das Fenster und sah hinaus.

Jeden Abend, zu einer bestimmten Zeit.

Um halb acht, das wusste ich, wurde im Heim gefrühstückt. Da sie sich weigerte, in den Gemeinschaftsraum zu gehen, in dem die anderen ihr Essen einnahmen, das heißt, die, die dazu in der Lage waren, brachte ihr die Schwester das Frühstück ins Zimmer. Sie war dann schon aufgestanden und angezogen. Sie aß eine Scheibe Graubrot und trank zwei Tassen Kaffee, alles andere ließ sie zurückgehen. Das wiederholte sich jeden Morgen.

»Aber Frau Karst«, sagte die Schwester, wenn sie das Tablett wieder abholte, »Sie müssen doch essen.«

Wir waren gegen acht losgefahren, inzwischen war es halb zehn. Ich ging in das Wohnzimmer meines Vaters, schloss hinter mir die Tür und rief sie an. Sie hatte – ein Privileg, um das sie nicht nachgesucht hatte und das ihr dennoch gewährt wurde – ein Telefon. Da sie das Tischchen, auf dem es ursprünglich stand, für die Nähmaschine benötigte, hatte sie es auf den Fußboden gestellt, unter das Waschbecken neben der Tür.

Nachdem es ein paar Mal geklingelt hatte, hob sie ab, und ich erzählte, was geschehen war, worauf einen Moment Stille eintrat, sodass ich schon glaubte, sie habe mich nicht verstanden.

»Hast du gehört?«, fragte ich.

»Ja«, sagte sie, und dann zu jemandem, der anscheinend im Zimmer war: »Warten Sie, ich helfe Ihnen gleich.« Darauf, mit derselben munteren Stimme, wieder zu mir: »Stell dir vor, sie hat den Eimer umgeschmissen, den Putzeimer.«

»Hast du verstanden«, sagte ich noch einmal.

»Bin ja nicht taub.«

Und nachdem wir noch ein paar Worte gewechselt hatten, legten wir auf. Und das war, abgesehen von dem kurzen Telefonat tags darauf und den paar Worten, die wir auf dem Friedhof wechselten, das letzte Gespräch, das wir führten, denn ein paar Wochen danach starb sie ebenfalls.

*

Ja, so ist es. Zuerst er, dann sie. Er im September, sie im Oktober. Sie kam zu seiner Beerdigung, wie er dann zu ihrer kam. Es klingt merkwürdig, aber so war es. Es war Mila, die sie entdeckte.

In der Nacht, in der Frau Roth anrief, ging die Tür auf und Mila erschien. Vom Telefon geweckt, war sie aufgestanden und in mein Zimmer getreten; sie lehnte sich an den Türpfosten und lauschte, den Kopf schräg, fast auf der Schulter. Sie war am Nachmittag aus Berlin gekommen. Da sie sich weigerte, die U-Bahn zu benutzen, hatte sie am Frankfurter Hauptbahnhof ein Taxi genommen, das sie nach Enkheim hinausbrachte. Nach einem kurzen Spaziergang durchs Ried setzte sie sich an meinen Laptop und suchte Fotos fürs Programmheft aus. Am nächsten Tag wollte sie zurückfahren, doch als sie hörte, was geschehen war, warf sie ihre Pläne um und kam mit nach Tautenburg.

Am Morgen, noch vorm Frühstück, schickte sie ihre Bilderauswahl ans Theater. Eine Stunde später – wir standen im Korridor und wollten gerade aufbrechen – klingelte ihr Handy. Da sie keine Anstalten machte, sich in eins der Zimmer zurückzuziehen, sondern sich einfach auf einen Stuhl fallen ließ, bekam ich das Gespräch mit. Es war Annette, ihre Assistentin, die anrief. Und an der Art, wie sie miteinander sprachen, an der Mühe, die es Mila kostete, die andere davon zu überzeugen, dass es tatsächlich ein Trauerfall war, durch den sich ihre Rückkehr verzögerte, an der Überredungskunst, die sie aufwenden musste, um die andere daran zu hindern, ebenfalls nach Frankfurt zu kommen (sei es aus Sehnsucht nach ihr, sei es, um sich zu vergewissern, dass sie die Wahrheit sagte), merkte ich, dass die Anruferin nicht nur ihre Assistentin war, sondern auch ihre Geliebte.

Mila war Mitte fünfzig, sah aber im Dämmerlicht des Korridors aus wie in der Zeit, in der wir uns kennengelernt hatten, vor bald dreißig Jahren, nur dass ihr Haar den Kupferton angenommen hatte, den das Haar aller ihrer früher einmal brünetten Altersgenossinnen hatte. Wenn man mit ihr Essen ging, konnte man sicher sein, dass irgendwann alle herüberschauten, Männer wie Frauen, wobei es nicht selten die Frauen waren, die die Männer erst auf sie aufmerksam machten. Ein Grund dafür mochte sein, dass sie auf eine stille Weise schön war, nichts an ihr war auftrumpfend oder so, dass man es als anmaßend empfand, es sei denn, man empfände das Gleichmaß ihrer Gesichtszüge oder die sich in ihrer Kleidung und ihrem Auftreten ausdrückende Zurückhaltung selbst als Anmaßung. (Was es vermutlich auch war, aber nichts an ihrer Wirkung änderte.) Manchmal kam es mir vor, als übte allein ihre Anwesenheit eine pädagogische Wirkung aus. Da sie leise sprach, senkten auch die anderen die Stimme. Da sie kein Aufhebens von sich machte, weder von ihrer Arbeit noch von ihrer Person, hielten sich auch die chronischen Besserwisser und Aufschneider in ihrer Gegenwart zurück. Da sie keinen Alkohol trank oder kaum (über den Abend verteilt vielleicht zwei mit Wasser verdünnte Gläser Wein), verzichteten die Schluckspechte, die mit ihr am Tisch saßen, auf die eine oder andere sonst aufgegebene Bestellung. Das Erstaunliche aber war, dass der besänftigende Einfluss, den sie hatte, noch eine Weile nach ihrem Aufbruch anhielt. Auch danach blieb der Ton gemäßigt, die Großmäuler schauten unter sich und die Durstigen übten Verzicht, indem sie auf die fragenden Blicke der Kellner mit einem Kopfschütteln antworteten.

*

Herta hatte die Nachricht von seinem Tod mit derselben Gleichgültigkeit aufgenommen wie alles andere, was ich von ihm erzählte, sodass ich nicht wusste, ob sie überhaupt bis zu ihr durchgedrungen war. Vielleicht, dachte ich, war sie in den Stoffbahnen hängen geblieben, die sie um sich zu drapieren pflegte. Die Beerdigung? Nein, mit ihrem Erscheinen war nicht zu rechnen. Dennoch rief ich sie, nachdem die Absprachen mit dem Bestattungsinstitut getroffen waren, ein zweites Mal an.

»Willst du mitkommen?«, fragte ich. »Soll ich dich abholen?«

Worauf sie, als wäre das die absurdeste Idee, die ihr jemals zu Ohren gekommen sei, »Wie?« rief. Und dann war plötzlich eine Art Husten zu hören gewesen. Ein Hustenanfall hatte sie übermannt, ein heiseres, wie bei einem Erstickungsanfall klingendes Husten.

Aber dann kam sie doch, stellte sich auf die Anhöhe zwischen die Tannen und schaute herab.

Da er in den letzten Jahren keine Freundschaften gepflegt hatte, waren es nur wenige Leute, die zu seiner Beerdigung kamen, die Nachbarn, aber nicht alle, sondern aus jedem der umliegenden Häuser einer, eine Person, sodass es aussah, als sei sie zur Trauerfeier abgestellt oder durch Los bestimmt worden: diese Leute, die ich nur flüchtig kannte; Frau Roth, ein Taschentuch umklammernd, das sie hin und wieder an die Nase führte, ihr Mann, der auf seine Schuhspitzen starrte; ein paar ältere Angestellte aus der Abteilung, der er vorgestanden hatte.

Wir kamen aus der Halle, in der er aufgebahrt war, und gingen hinter dem Sarg her, der unter der späten Septembersonne auf einem elektrisch angetriebenen Rollwagen vor uns her den Weg hochfuhr, als Mila mich anstieß.

»Ist das nicht Herta?«

Eine Reihe junger Tannen zog sich, ordentlich wie ein Trupp zum Appell angetretener Soldaten, über den Berg, und in einer Lücke zwischen den Bäumen, stand sie, Herta, in einem rot glänzenden Kleid (Taft, meinte Mila), in der Armbeuge einen dünnen Gabardinemantel von derselben gelbroten Farbe wie das Laub des Zitronenbaums vor ihrem Fenster. Da ich nicht gleich zu ihr gehen konnte, sondern warten musste, bis das Zeremoniell vorbei war, stapften wir weiter hinter dem surrenden Wagen her, und sie folgte uns; halb von der Tannenreihe verdeckt, stieg sie in immer derselben Entfernung (von vielleicht fünfzig Metern) neben uns den Berg hoch, doch als ich mich, nach Verabschiedung der Trauergäste, nach ihr umdrehte, war sie verschwunden. Nach einer Weile entdeckte ich sie wieder. Sie ging nicht wie die anderen zum Haupteingang, sondern in Richtung des Heims, sodass ich sie für einen Moment aus den Augen verlor. Erst vor der kleinen Eisentür, durch die man von dieser Stadtseite her den Friedhof betreten kann, holte ich sie ein.

»Mutter«, rief ich, »warte doch.«

Und nun, da sie wusste, dass sie mich nicht abschütteln konnte, blieb sie stehen.

»Ach, du bist es«, sagte sie, als hätte sie mich erst jetzt bemerkt.

»Dann bist du also doch gekommen.«

»Zufall, reiner Zufall. Ich hab einen Spaziergang gemacht und bin zufällig vorbeigekommen.«

Es war ihr wichtig zu betonen, dass sie zufällig zur Beerdigung ihres Manns gekommen war.

Wir traten durch die Tür und gingen über den Trampelpfad, der sich durch das trockene Gras zog, hoch zum Heim. In der Einfahrt blieb sie stehen und streckte mir, wie sie es immer tat, mit durchgedrücktem Arm die Hand entgegen, wandte sich dann schnell um und ging den Kiesweg hinauf zur Treppe, ohne Mila, die ein Stück unter uns stehen geblieben war, eines Blickes zu würdigen.

Bei ihrer Beerdigung war nur die Schwester dabei, die auf ihrer Station Dienst tat, die (wie sie meinte) Grobschlächtige, sie sah ich zuerst, dann auch die Heimleiterin und den jungen Mann, der mich angerufen hatte. An diesem Tag war er nicht im Kaftan, sondern trug einen dunklen Anzug, der so weit war, dass er ihm um Arme und Beine schlotterte; die Haare hatte er mit einem Gel eingerieben und straff zurückgekämmt, sie lagen dicht am Kopf an, man sah die von den Kammzinken hinterlassenen Strähnen; in der Hand hielt er (wie eine Fahne) eine gelbe, sich zu den Blütenrändern hin rot verfärbende Rose. Er kam mit den Schwestern, hielt aber Abstand zu ihnen, indem er drei, vier Meter hinter ihnen blieb. Auf keinen Fall, das merkte man, wollte er sich als ihnen zugehörig zeigen.

An diesem Tag war Mila nicht dabei; sie war nach Berlin zurückgekehrt. Das wird der Grund dafür sein, dass sich mir diese Einzelheiten eingeprägt haben. Ich wollte ihr den Jungen schildern. Oder rechnete ich mit einem Eklat? Einem Ausbruch? Einem Wutanfall? In der Leichenhalle setzte er sich nicht, sondern blieb, während die anderen in der ersten Reihe Platz nahmen, mit düsterem Gesicht hinter den Bänken stehen.

Die ganze Zeit über, auch später bei der kleinen Zeremonie am Grab, spürte ich seinen Blick im Nacken, doch wenn ich mich umdrehte, schaute er unter sich und suchte mit den Augen den Boden ab, doch sobald ich wegsah, spürte ich seinen Blick erneut. Dieser junge Mann, die Schwester, die Heimleiterin, ich. Und der Pfarrer natürlich, derselbe, der auch meinen Vater beerdigt hatte, ein pausbäckiger Mann, der dem Religionslehrer meiner Schulzeit glich und sich sofort erinnert hatte, als ich ihn anrief.

»Herr Karst«, sagte er, »so kurz nacheinander.«

Dabei glaube ich nicht, dass er meine Eltern kannte. Frau Roth hatte ihn nach Georgs Tod angerufen, worauf er wiederum mich kontaktiert und nach den Daten gefragt hatte, die er in seine Predigt einflechten konnte. Herta dagegen wird er, da er im Heim ein- und ausging, auch wenn sie nicht zu seinen Gottesdiensten kam, des Öfteren gesehen haben. Aus ein paar Bemerkungen, die er machte, schloss ich, dass er über ihr Verschwinden und ihre Rückkehr Bescheid wusste.

Als er die Hände zum Segen hob, jagten zwei Bundeswehrjets über das Tal, so tief, dass sie die Baumwipfel des gegenüberliegenden Bergkamms zu streifen schienen, und als ich aufblickte, sah ich am Zaun, an derselben Stelle, an der sie gestanden hatte, ein Kaninchen. Und da wusste ich, dass er auch gekommen war.

Sie war im dunkelroten Taftkleid gekommen und er als Kaninchen.

2

Am Morgen, vor der Abfahrt nach Tautenburg, stieg ich zur Mansarde hoch, öffnete den Schrank, nahm den Karton mit den Bildern heraus und suchte nach einem Foto, an das ich mich beim Aufwachen erinnert hatte, fand es aber nicht, sondern nur eine Aufnahme, die ich vor Jahren davon gemacht hatte, das Foto eines Fotos also.

Ich hatte das Original auf dem Balkontisch gegen einen Bücherstapel gelehnt und abfotografiert, weshalb das Bild jetzt neben dem gezackten weißen Rand einen zweiten, farbigen hatte: Man sah die Bücher, den Tischrand, das Balkongeländer, einen Streifen blauen Himmels, und in der Mitte die Schwarzweißaufnahme: Mein Vater sitzt mit hochgekrempelten Hemdsärmeln in seinem Büro im Stahlwerk und schreibt etwas auf ein Blatt Papier. Dabei blickt er lachend auf, als sei er vom Fotografen überrascht worden. Da er nicht fotografiert werden wollte, war es eine der wenigen Aufnahmen, die es von ihm gab. Bei einem Besuch hatte er sie mir überlassen, zusammen mit ein paar anderen, noch älteren; auf den wenigen aus späterer Zeit war er entweder nicht allein zu sehen oder sie waren aus so großer Entfernung aufgenommen, dass seine Gesichtszüge verschwommen waren.

Abgesehen von den Ostseebildern, die bei ihrem letzten Urlaub entstanden sind, dem letzten gemeinsamen, gibt es keines, das ihn zusammen mit Herta zeigt. Entweder hatte sie sie mitgenommen, oder er hatte sie vernichtet, und auch diese waren wohl nur durch Zufall erhalten geblieben.

Als ich in die Wohnung runterkam, saß Mila in der Küche. Sie war aufgestanden und hatte Kaffee gemacht.

»Ist er das?«, fragte sie.

Ich nickte. Sie nahm mir das Bild aus der Hand und betrachtete es.

»Wie alt ist er da?«

»Vierunddreißig.«

Ich überlegte. Ja, Brandenburg, Stahlwerk … dann konnte er nicht älter als vierunddreißig sein.

»So jung?«

»So jung.«

Mila war am Abend gekommen, am ersten Wochentag nach Weihnachten. Den Haushalt auflösen … die Leiterin des Pflegeheims bestand darauf, und da Mila sich damit einverstanden erklärt hatte, mich zu begleiten, kam nur diese Woche in Frage, die Woche zwischen den Jahren.

Den Haushalt? Ach, sie hatte ja gar keinen, nur, was sich in ihren Schränken befand: die Wäsche, die Schuhe, die Kleider, die Nähmaschine, die, wenn sie nicht in Gebrauch war, ebenfalls im Schrank verstaut wurde. Aber sie war ja fast immer in Gebrauch.

Obwohl ihr Kontakt zu den Vertretern, bei denen sie sich mit dem Nötigen eingedeckt hatte, schon vor Jahren abgerissen war, zauberte sie immer neue Stoffe hervor und saß dann da, über die Maschine gebeugt, eine Nadel zwischen den zusammengepressten Lippen, eine Stecknadel, die sie, wenn ich eintrat, herausnahm und an den Ärmel steckte, immer an dieselbe Stelle, eine Handbreit unter der Schulter.

Ihre Schränke quollen über von Kleidern, die für eine Art von Festlichkeit genäht waren, zu der sie nicht eingeladen wurde. Oder nicht mehr. Aber sie nähte weiter. Es war, als wollte sie beweisen, wie sinnvoll die Anschaffung der Nähmaschine gewesen war. Eine selbst verordnete Fronarbeit, dachte ich, wenn ich sie sah. Aber so empfand sie es nicht.

Die Wäsche, die Schuhe, die Kleider, die Nähmaschine, die Aschenbecher, die überall herumstanden, und die Tischlampe, ganz aus Glas, das war es, was sie neben den Fotos (die in einem grauen Umschlag steckten) übrig behalten hatte.

Zwischen Weihnachten und Neujahr also.

Zuerst bei ihr, dann bei ihm. Wir packten die Sachen in ein paar Umzugskisten, und als wir fast fertig waren, trat die Leiterin ein und bot an, sie im Magazin unterzustellen, vorläufig, bis wir wussten, was damit geschehen sollte.

Danach fuhren wir den Berg hinab, durch die Stadt und auf der anderen Seite den Berg wieder hoch. Ein heller, sonniger Tag, dabei sehr kalt; die Straßen in einer trägen Feiertagsruhe. Ich schloss das Haus auf und zog die Jalousien hoch, das Licht fiel schräg durch die Fenster. Den Haushalt auflösen? Nein, darum ging es nicht, nicht bei ihm, sondern darum, sich einen Überblick zu verschaffen. Die Dinge mussten daraufhin befragt werden, was mit ihnen geschehen sollte, und da mir klar war, dass es eine Art Tauglichkeitsprüfung war, der ich sie unterzog, ging ich mit dem Gefühl herum, etwas Unrechtes zu tun, etwas Verwerfliches.

Während Mila versuchte, die Kaffeemaschine in Gang zu setzen, trat ich in sein Arbeitszimmer, einen kleinen zum Garten hin gelegenen Raum, und sah mich um. Dann zog ich einen Ordner heraus, der zwischen anderen auf einem kleinen Regal hinterm Schreibtisch stand, und als ich ihn aufschlug, fand ich den Brief, der nach Plothow geschickt worden war und der niemals nach Plothow hätte geschickt werden dürfen, und als ich sah, dass darunter auch die anderen abgeheftet waren, die Durchschläge der Briefe, die er selbst geschrieben hatte, und die, mit denen sie ihm geantwortet hatten, klappte ich den Ordner zu und stellte ihn in den Flur, um ihn später, wenn es an die Rückfahrt ging, nicht zu vergessen.

Das Eindringlingsgefühl, die ganze Zeit über, beim Herumgehen, beim Schränkeöffnen und -schließen. Dann, am Nachmittag in der Dämmerung, wir hatten die Mäntel schon an, sah ich noch mal ins Schlafzimmer. Gegenüber dem Bett befand sich ein Schrank, eine Art Einbauschrank, der von der einen Wand bis zur anderen reichte, mit großen Türen, über denen kleinere lagen, Schiebetüren. Ohne später sagen zu können, warum, knipste ich das Licht an und stieg auf einen Stuhl, schob die Tür auf, und als ich den Bettlakenstapel anhob, der im Fach lag, sah ich etwas, das in ein Tuch eingeschlagen war, und wusste, noch bevor ich es herausnahm, was es war.

Die Kamera.

Die, sage ich, nicht: eine, denn noch während ich da oben in seinem Tautenburger Schlafzimmer auf dem Stuhl stand, wusste ich, welche es war.

»Was ist das für eine Kamera?«, fragte Mila, als wir den Berg hinunterfuhren.

»Eine Exakta, 6 mal 9 Rollfilm, Baujahr 57«, antwortete ich, und ich erinnere mich, dass ich sofort dachte, dass das ein Fehler war. Es gab keinen Grund, das Baujahr zu nennen, man sah es der Kamera nicht an, und wie um sie davon abzulenken, beugte ich mich vor und wischte mit dem Handrücken über die Scheibe, die von unserem Atem beschlagen war.

Am Vormittag Sonne, gegen Nachmittag Wolken, schwefelgelbe Wolkengebirge, die sich am Himmel auftürmten; nun, da es dunkel geworden war, Eisregen, der in Schwaden herantrieb und hinter dem bei jeder neuen Böe die Straße wie hinter einem Vorhang verschwand. Es war Mila, die fuhr. Sie saß kerzengerade am Steuer, kniff die Augen zusammen und starrte auf die Straße, die sich in Kurven den Berg hinabwand. Dann, als wir auf die Autobahn kamen, fing sie noch mal davon an.

»Warum hat sie da oben gelegen?«, fragte sie.

»Weiß ich nicht.«

»Ist sie gut?«

»Die Kamera?«

»Ja.«

Ich tat, als müsste ich überlegen.

»Ich glaub schon.«

Und hätte nun erzählen können, dass ich eine Weile mit dem Gedanken gespielt hatte, mir genau diese Kamera zu kaufen. Sie war billiger als die japanischen, mit denen die meisten arbeiteten, und genauso gut. In Berlin, nicht weit von der Straße, in der ich damals wohnte, gab es ein Geschäft, das sie besorgen konnte. Der Besitzer sagte jemandem Bescheid, der sie in Ostberlin kaufte und über die Grenze schmuggelte. Ich hätte sie gut gebrauchen können, damals. Ich hatte wenig Geld, die Ausrüstung war teuer, die erste Reportage habe ich mit einer geliehenen Kamera gemacht. Aber dann habe ich es gelassen. Sie wurde in Dresden gebaut. Wenn sie kaputtgegangen wäre, was dann?

Aber das erzählte ich nicht. Das heißt, nicht an diesem Tag, sondern erst später.

*

Äußerlich hatte sich nichts geändert. Ich wachte früh auf und stieg nach dem Frühstück, meistens bloß eine Tasse Kaffee und zwei Knäckebrote, zur Mansarde hinauf und beantwortete Briefe. Manchmal stellte ich mich an eins der Kippfenster, drückte es auf und sah über den Dächern hinweg die Flugzeuge, die in geringem Abstand zueinander über Offenbach und Sachsenhausen einschwebten, um gleich danach auf dem Rhein-Main-Flughafen zu landen. Alles wie immer. Doch wenn es Zeit war, in den Keller hinabzusteigen, zur Dunkelkammer, zögerte ich, und nicht selten war es so, dass ich hinunterging, eine Weile vor der Tür stand und dann wieder umkehrte.

Als ich einen Freund anrief, merkte ich, dass seine Frau, die ans Telefon gegangen war, einen behutsam-verlegenen Ton anschlug, und sagte deshalb, sie könne normal mit mir reden, ich sei ja nicht krank, worauf sie lachte, und nachdem sie den Hörer an ihn weitergegeben hatte, wiederholte ich diesen Satz und stellte dann fest, dass ich dem Gespräch kaum folgen konnte. Ich hörte die Worte des Freundes wie durch eine schallschluckende Wand, während meine eigenen merkwürdig dröhnend im Kopf nachklangen, als säße ich nicht im Zimmer, sondern in der Tiefe eines Brunnenschachts.

Das blieb so mehrere Tage lang. Wenn ich mit jemandem sprach, hörte ich mir gleichzeitig dabei zu, und immer kam es mir vor, als sei meine Stimme zu laut, ein dröhnender Bass, der das Zimmer ausfüllte, während sie doch für andere kaum vernehmbar war. Dauernd sagte jemand: Philipp, sprich lauter!

Als ich eine gute Nachricht erhielt, dachte ich daran, dass ich sie ihm nun nicht mehr mitteilen konnte. Im Schrank fand ich einen Stoß Ringbucheinlagen, den mir mein Vater vor Jahren mitgebracht hatte; im Keller eine Zange, die aus seinem Werkzeugkasten stammte. Wenn ich an einem Spiegel vorbeikam, blieb ich stehen und musterte mich, als erwartete ich, dass die Ähnlichkeit mit ihm nun stärker zutage träte. Meine Bewegungen waren ungeschickt, oft stieß ich etwas um oder griff, wenn ich nach etwas fasste, daneben. Und dauernd verlegte ich etwas: das Feuerzeug, den Schlüssel, das Portemonnaie.

Mittags, nach dem Einkaufen, setzte ich mich ins Café und bestellte einen Espresso. Und plötzlich ertappte ich mich dabei, dass ich meine Hände ansah und dachte: seine. Ob es mein Gesichtsausdruck war oder meine Körperhaltung, meine Gewohnheiten oder Vorlieben, die Art, wie ich beim Reden den Kopf in die Hand stützte oder beim Sitzen die Beine übereinanderschlug, eine Gabel zur Hand nahm oder ein Glas einschenkte – alles unterzog ich einer Prüfung, und alles zeigte sich mir in einem neuen, bedrohlichen Licht. Wie er, dachte ich. Wie er. Und wenn ich gezahlt hatte und aufstand, sah ich nicht mich an den Schaufensterscheiben vorbeigehen, sondern ihn.

Lange hatte ich nicht mehr unter eingebildeten Krankheiten gelitten, doch nun begann ich, alle Symptome, die zu seiner Krankheit gehörten, bei mir festzustellen. Wochenlang spürte ich einen Druck im Magen, ein Ziehen im linken Arm, und die ganze Zeit über war es, als hielte eine Hand mein Herz umklammert.

Abends schlief ich vor Erschöpfung ein und wurde nach einer Stunde wieder wach; dann stand ich auf, setzte mich in den Sessel und versuchte zu lesen, aber sofort schweiften meine Gedanken ab, und ich dachte daran, dass ich nachts manchmal davon aufgewacht war, dass ich ihn herumgehen hörte, und am Morgen hatten die Fenster offen gestanden. Er hatte sie geöffnet, damit der Rauch abzog. Ich drückte die Zigarette aus, klappte das Buch zu, trat auf den Balkon, beugte mich vor und ließ die Arme vor den Beinen hin und her schwingen, und auf einmal fiel mir ein, dass er das Gleiche getan hatte, auch er hatte sich manchmal, um den Rauch aus den Lungen zu pressen, ans Fenster gestellt und die Arme hin und her schwingen lassen.

Und dann, Anfang November, kamen die Träume zurück. Es sind zwei. Zwei Träume. Ich gebe sie so wieder, wie ich sie mir damals notiert habe.

Ich sehe sie durch die tief hängenden Zweige einer Weide hindurch. Er liegt auf dem Rücken, seine Arme sind wie im Schlaf (oder in der Erschöpfung nach dem Liebesakt) ausgestreckt, die weißen Innenseiten leuchten herüber. Das Seltsame aber ist, dass ein Tuch über seinem Kopf liegt, sein Kopf wird von einem Tuch, das über sein Gesicht gebreitet ist, verdeckt. Sie liegt neben ihm, an ihn geschmiegt, und hat, wie um ihn zu beschützen, den Arm über seine Brust gelegt. Ihr Gesäß ist leicht angehoben, ihr linkes Bein über seine Beine geschoben, ihr Kopf auf seiner Schulter. Und so, in dieser entspannten Haltung, wachsen sie in die Erde hinein.

Das ist der Tag-Traum.

In Plothow hatte ich diesen Traum, dann in Tautenburg, über längere Zeit hinweg, und da ich wusste, dass sie es waren, die ich gesehen hatte, war ich jedes Mal voller Entsetzen aufgewacht. Voller Entsetzen, weil ich gesehen hatte, wie sie in der Erde versanken, und voller Scham, weil sie nackt waren. Ich hatte sie nackt gesehen, sodass ich ihnen den Traum nicht erzählen konnte. Weder das eine noch das andere konnte ich ihnen erzählen. Wenn sie am Morgen fragten: Philipp, was hast du geträumt?, zuckte ich mit den Schultern: Weiß nich’. Dabei wusste ich es genau.

Als Kind hatte ich diesen Traum. Dann, beinahe mein ganzes Erwachsenenleben lang, nicht mehr, und nach ihrem Tod war er zurückgekehrt.

In dem anderen Traum ist es Nacht. Es ist der Traum von dem Jungen und der Frau. Ich schaue in ein Zimmer, das von einem flackrigen Licht erhellt ist, einer Kerze vielleicht. Der Junge scheint krank zu sein, er liegt auf einem Bett oder einem Matratzenlager, das in einer Ecke aufgeschlagen ist, während die Frau am Herd steht. In der Hand hält sie einen Löffel, mit dem sie in einem Topf rührt. Sie bereitet ihm etwas zu essen, etwas, das er sich, da er krank ist, wünschen durfte. Schließlich dreht sie sich um, geht zu ihm hin und setzt sich auf seine Brust. Sie hebt den Rock und rückt vor, bis sie über seinem Gesicht sitzt, und lässt den Rock fallen. Dann beginnt sie, sich auf und ab zu bewegen. Sie reitet auf seinem Kopf, zuerst langsam, dann schneller.

Als es vorbei ist, steigt sie herunter und geht an den Herd zurück, während sich der Junge zur Seite dreht, sodass ich sein Gesicht sehen kann. Sein eines Auge ist bis auf einen winzigen Spalt zusammengewachsen, während das andere an der Stelle sitzt, an der sich der Wangenknochen hätte befinden müssen. Und mit diesem Auge mustert er mich.

Auch diesen Traum hatte ich über längere Zeit hinweg, nicht jede Nacht, aber doch so häufig, dass ich mich, als er nach Jahren zurückkam, sofort erinnerte.

Zuerst der eine Traum, dann der andere.

3

Herta war eine schöne Frau, von der es, als sie noch jung war, hieß, sie werde wohl Mannequin werden. Das erzählte man sich in Plothow. Kam ihr das Gerücht zu Ohren oder sprach jemand sie darauf an, legte sie den Kopf schräg und lächelte, sodass offenblieb, ob etwas dran war.

Sie war siebzehn oder achtzehn, groß gewachsen und (wie man sagte) gertenschlank. Sie arbeitete als Schneiderin im Bekleidungshaus Parvus, über dessen Eingang seit ein paar Jahren ein anderer Name stand, Mill, der Name des Manns, der Parvus das Geschäft durch Erpressung bzw. Ausnutzung der Not, in die dieser durch seine jüdische Abstammung geraten war, gegen die Zahlung eines lächerlich geringen Betrags abgejagt hatte. Parvus war mit seiner Familie in die USA ausgewandert, nach New York, wo er sich die ersten Jahre mit Näharbeiten über Wasser hielt, während Mill durch die Räume seines Plothower Hauses stolzierte und sich als Geschäftsmann aufführte. Aber das änderte nichts daran, dass die Leute, die dort einkauften, weiter sagten: Ick jeh zu Parvus. Parvus war vertrieben worden, aber sein Name war geblieben.

Mill, der in Berlin Anteile an einem zweiten Bekleidungshaus hielt, in dessen Besitz er auf demselben Weg gelangt war wie in den des Parvus’schen, hatte offenbar einen Narren an Herta gefressen, denn nachdem er sie eine Weile beobachtet hatte, machte er ihr ein Angebot. Im Frühjahr und Herbst, wenn die neuen Kollektionen hereinkamen, veranstaltete er im Berliner Haus, nicht weit vom Wittenbergplatz, Modenschauen für seine weibliche Kundschaft. »Willst du dir das ansehen?«, fragte er.

Natürlich wollte sie. Sie fuhr mit ihm im Auto nach Berlin und durfte zusammen mit anderen groß gewachsenen Mädchen Kleider vorführen. Sie ging über den Laufsteg, kam hinter den Vorhang zurück, wurde in ein neues Kleid gesteckt und wieder hinausgeschickt, einen Frühling und einen Herbst lang, jeden Donnerstagnachmittag, und als die Saison vorbei war, sagte Mill, während sie an einer Bahnschranke hielten: »Ich hab mir das überlegt, du musst Mannequin werden.«

Sie sah ihn überrascht an, denn das war es, worüber sie die ganze Zeit nachgedacht hatte. Seit sie wusste, dass dies für eine Weile der letzte Ausflug nach Berlin sein würde, überlegte sie, ob es nicht eine Möglichkeit gäbe, dort zu arbeiten, und sei es in diesem merkwürdigen Beruf – das war doch etwas anderes, als in dem Plothower Laden auf den Knien herumzurutschen und Säume abzustecken.

»Ich werd’ dir helfen«, sagte Herr Mill. »Du fängst am Tauentzien an, und dann sehen wir weiter.«

Auch da, denke ich, kann es begonnen haben, mit diesem ein anderes, größeres Leben verheißenden Versprechen.

Es war schon dunkel, die Lichter des Zugs huschten vorbei, sie saß neben Mill im Auto und dachte: Ich werde in Berlin leben. Das erzählte sie ihrer Freundin Lilo, die im Geschäft ihrer Eltern arbeitete und es anderen Freundinnen weitererzählte: Herta geht nach Berlin.

Doch auf einmal kam Mill nur noch nachts ins Geschäft, er betrat es durch die Tür im Hof und verließ es auf demselben Weg wieder, die Vorhänge waren zugezogen, aber an dem Licht, das an den Seiten herausdrang, sah man, dass er oben in seinem Büro saß, und ein paar Wochen danach ging das Geschäft in andere Hände über. Wieder wurde der Name über dem Eingang ausgetauscht. Eines Morgens, als sie ins Geschäft kam, stand der Name Berger darüber, dessen Träger offenbar ein noch größerer Erpresser und Notausnutzer war als der, aus welchen Gründen auch immer, in der Versenkung verschwundene Mill. Berger prangte in großen goldenen Lettern über dem Eingang.

Aber die Leute sagten weiter: Zu Parvus.

Das war im Dezember, ein Vierteljahr bevor Georg sie von einem Lastwagen herab zum ersten Mal sah.

Der Laster fuhr durch die Brandenburger Straße. Er saß hinten auf der Ladefläche, die Plane war zurückgeschlagen, es war gegen Mittag, er lehnte den Kopf an die Heckklappe und blinzelte in die Sonne, seine Hände ruhten auf dem Geländer, die Beine hatte er ausgestreckt, er lag mehr, als er saß, er liebte diese Fahrten, bei denen es darum ging, Lastwagen von einem Standort zum anderen zu überführen – plötzlich gab es einen Ruck, er wurde nach vorn geschleudert, gegen das Fahrerhaus, und als er wieder auf die Beine kam, sah er, dass sie gegen einen Traktor geprallt waren, der rückwärts aus einer Einfahrt gekommen war.

In diesem Augenblick trat sie aus dem Geschäft, das genau gegenüber lag, und blieb in der Tür stehen.

Er kletterte von der Ladefläche, rannte nach vorn, und als er sah, dass niemand verletzt war, drehte er sich nach dem Mädchen um. Sie stand noch immer in der Tür, schaute. Und eine halbe Stunde später saßen sie sich am Tisch eines Cafés gegenüber. Es war das Café, in das sie später regelmäßig gingen.

In den Wochen danach kam er öfter nach Plothow. Öfter? Sooft es sein Dienst zuließ, und er kam auch, wenn er es nicht zuließ. Als er davon erzählte, schien er über die Pflichtvergessenheit, die ihm keineswegs ähnlich sah, erstaunt zu sein, und sann, als müsste er sich an den Grund dafür erinnern, einen Augenblick nach.

Er saß da, hinter dem Haus, in einer windgeschützten Ecke des Gartens, und schaute auf seine Hände.

Es war wohl so: Er ging in Uniform aus der Kaserne, fuhr zum Bahnhof, an dem er, um sich nicht der Gefahr auszusetzen, bei einer Kontrolle nach seinem Urlaubsschein gefragt zu werden, eine Tasche mit Zivilkleidung deponiert hatte. Er nahm sie aus einem Schließfach und ging auf die Toilette, schloss sich in einer Kabine ein, zog die Uniform aus und den Anzug an. Die Uniform schlug er in ein Tuch ein, legte sie in die Tasche und gab sie ins Schließfach zurück. Anschließend löste er eine Fahrkarte nach Plothow und stieg in den Zug.

Sie wartete in dem Café auf ihn, in dem sie nach dem Unfall gesessen hatten.

Das Geschäft schloss um sechs, gegen halb sieben, nach dem Aufräumen, kam sie heraus und bummelte an den Schaufenstern entlang. Es lohnte sich nicht, für eine Stunde nach Hause zu gehen, also wanderte sie die Hauptstraße auf und ab, oder stattete Lilo, deren Eltern das große Radiogeschäft in der oberen Brandenburger betrieben, einen Besuch ab, bis sie gegen halb acht fand, es sei Zeit, ins Café zu gehen. Sie setzte sich an einen Tisch neben dem Fenster, von dem aus sie sowohl die Straße als auch die Tür, durch die er hereinkommen würde, und die Uhr darüber im Auge hatte.

Er kam kurz nach acht und setzte sich ihr gegenüber. Sie legten die Hände auf den Tisch und betrachteten sie, ihre Mittelfinger berührten sich an den Spitzen, dann bewegten sie die Hände aufeinander zu, sodass sich auch die anderen Finger berührten, seine Fingerkuppen lagen auf ihren, schließlich schoben sich die Hände vor, bis sie fest aufeinanderlagen; an ihrem Bein spürte sie den rauen Stoff seiner Hose. Sobald es dunkel wurde, winkte er die Bedienung heran und zahlte. Sie traten auf die Straße, und nachdem sie die Brücke überquert hatten, stiegen sie zum Kanal hinab, eine Treppe aus roten Ziegeln, die so schmal war, dass er vorangehen musste, und folgten dann dem damals noch unbefestigten Uferweg. Zur Linken schimmerte das schwarze Band des Kanals, zur Rechten lag der von einem Lenné-Schüler angelegte Park, ein Garten mit seltenen Büschen und Bäumen, Teichen und kleinen Brücken, die sich im Halbbogen über einem Bach spannten; ab und zu tuckerte ein Kahn vorbei, Dieselgeruch hing in der Luft, Wasser schwappte glucksend gegen die Steine der Uferbefestigung.

Er hatte den Arm um sie gelegt, und wenn sie glaubten, man könne sie von der Brücke aus nicht mehr sehen, blieben sie stehen und umarmten sich, gingen ein paar Schritte, blieben wieder stehen. Er ließ seine Hand über ihren Rücken gleiten, und wenn es ganz dunkel geworden und die Brücke weit genug weg war, zog er sie die Böschung hinab.

Er kam jeden zweiten Dienstag nach Plothow, aber sie wusste immer, dass etwas dazwischenkommen konnte. Dass es sein konnte, dass sie vergeblich wartete.