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Inhalt

[Cover]

Titel

I. WIR WAREN IN AUSCHWITZ: Byliśmy w Oświęcimiu

Bei uns in Auschwitz …

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

IX

Menschen, die gingen

II. ABSCHIED VON MARIA: Pożegnanie z Marią

Abschied von Maria

I

II

III

Ein Tag in Harmenzy

I

II

III

IV

V

VI

VII

Bitte, die Herrschaften zum Gas

Tod eines Aufständischen

Die Schlacht von Grunwald

II

III

IV

V

III. DIE STEINERNE WELT: Kamienny świat

Kurzes Vorwort

Die steinerne Welt

Eine Erzählung aus dem wirklichen Leben

Schillingers Tod

Der Mann mit dem Päckchen

Das Abendessen

Das Schweigen

Begegnung mit einem Kind

Das Kriegsende

»Independence Day«

Oper, Oper

Die Fahrt im Schlafwagen

Das Zimmer

Kleinstadtsommer

Das Mädchen aus dem ausgebrannten Haus

Der Vorschuß

Ein heißer Nachmittag

Zum tapferen Partisanen

Reisetagebuch

Ein bürgerlicher Abend

Der Besuch

Anmerkungen

Autorenporträt

Übersetzerporträt

Über das Buch

Impressum

[Leseprobe – Ich kann nicht vergeben]

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I.

WIR WAREN IN AUSCHWITZ
Byliśmy w Oświęcimiu

Bei uns in Auschwitz …

I

… ich bin jetzt also in der Schulung für Sanitäter. Ein gutes Dutzend aus ganz Birkenau hat man ausgewählt und wird uns beinahe zu Doktoren ausbilden. Wir sollen wissen, wie viele Knochen der Mensch hat, wie das Blut kreist, was ein Bauchfell ist, wie man Staphylokokken und Streptokokken bekämpft, wie man steril eine Blinddarmoperation durchführt und wozu eine Blähung gut ist.

Wir haben eine sehr hehre Mission: Wir werden die Kollegen heilen, die das »böse Schicksal« mit Krankheit, Apathie oder Lebensunlust plagt. Wir, ausgerechnet wir, ein gutes Dutzend Leute von den zwanzigtausend Männern in Birkenau, sollen die Sterblichkeit im Lager senken und den Lebensmut der Häftlinge stärken. Das sagte, als er schon im Wegfahren war, der Lagerarzt, und dann fragte er noch jeden nach Alter und Beruf, und als ich ihm antwortete:

»Student«, hob er erstaunt die Brauen: »Was haben Sie studiert?«

»Literaturgeschichte«, erwiderte ich schlicht.

Mit einem abfälligen Kopfschütteln stieg er in den Wagen und fuhr davon.

Wir gingen dann auf einem sehr schönen Weg nach Auschwitz, sahen eine Menge Landschaft, dann teilte uns jemand irgendwo ein, als Gastpfleger in einem Krankenblock, mich hat das nicht sonderlich interessiert, weil ich mit Staszek (Du weißt, der, der mir die braune Hose gab) ins Lager ging, um jemanden zu finden, der Dir diesen Brief bringen würde, während Staszek zur Küche und zum Magazin ging, um fürs Abendessen ein Stück Weißbrot, einen Würfel Margarine und wenigstens eine Wurst zu organisieren, denn wir sind fünf.

Natürlich fand ich niemanden, weil ich Millionär bin, und hier sind lauter alte Nummern und schauen mich sehr von oben herab an. Aber Staszek versprach mir, den Brief über seine Beziehungen zu befördern, nur solle er nicht lang sein, »denn es muß ja langweilig sein, jeden Tag seinem Mädchen zu schreiben«.

Während ich also lerne, wie viele Knochen ein Mensch hat und was ein Bauchfell ist, werde ich vielleicht herauskriegen, was Du gegen Deine Pyodermie tun kannst und gegen das Fieber Deiner Bettnachbarin. Ich fürchte nur, daß ich es selbst dann, wenn ich weiß, wie man einen Ulcus duodeni behandelt, nicht schaffen werde, die blöde Krätzesalbe von Wilkinson für Dich abzustauben, denn zur Zeit ist sie in ganz Birkenau nicht aufzutreiben. Bei uns pflegte man die Kranken mit Pfefferminztee zu begießen und dabei überaus wirksame Zauberformeln herzusagen, die ich hier leider nicht wiedergeben kann.

Was die Begrenzung der Todeszahlen angeht: In meinem Block erkrankte ein Prominenter, es ging ihm schlecht, er fieberte und sprach immer häufiger vom Sterben. Irgendwann rief er mich zu sich. Ich setzte mich zu ihm auf die Bettkante.

»Man kennt mich doch im Lager, nicht wahr?« fragte er und schaute mir besorgt in die Augen.

»Wer würde dich nicht kennen – und wer könnte dich vergessen?« erwiderte ich arglos.

»Schau«, sagte er, zum Fenster deutend, wo roter Feuerschein zu sehen war.

Es brannte dort, hinter dem Wald.

»Weißt du, ich möchte gern allein liegen. Nicht mit anderen zusammen. Nicht im Massengrab. Verstehst du?«

»Keine Angst«, sagte ich freundlich. »Ich werde dir sogar ein Bettlaken spenden. Und ich rede auch mit den Leichenträgern.«

Stumm drückte er mir die Hand. Aber es half nichts. Er wurde wieder gesund und schickte mir aus dem Lager einen Würfel Margarine. Ich benutze sie als Schuhwichse, denn das ist so eine aus Fischen gemachte Sorte. Das war mein Beitrag zur Senkung der Sterblichkeit im Lager. Aber lassen wir’s dabei, weil es allzusehr nach Lager klingt.

Seit fast einem Monat habe ich keinen Brief mehr von zu Hause bekommen …

II

Herrliche Tage – keine Appelle, keine Pflichten. Das ganze Lager ist zum Appell angetreten, und wir stehen am Fenster, halb hinausgelehnt, Zuschauer aus einer anderen Welt. Die Leute lächeln uns zu, wir lächeln zurück, sie nennen uns »Kollegen aus Birkenau«, ein wenig mitfühlend, weil wir ein so elendes Schicksal haben, und ein wenig beschämt, weil das Schicksal es gut mit ihnen meint. Vom Fenster aus wirkt die Landschaft harmlos, das Kremo ist nicht zu sehen. Die Leute sind in Auschwitz verliebt, stolz sagen sie: »Bei uns in Auschwitz …«

Anlaß zum Stolzsein haben sie. Um Dir eine Vorstellung von Auschwitz zu machen, nimm den Pawiak, diese schreckliche Bude, dazu Serbien, nimm das Ganze mal achtundzwanzig und stelle es so eng zusammen, daß zwischen den Pawiaks nur wenig Platz bleibt, ziehe um das Ganze einen doppelten Stacheldrahtzaun und umgebe es von drei Seiten mit einer Betonmauer, pflastere den Schlamm, setze hier und da anämische Bäumchen und pferche einige zigtausend Leute hinein, die seit mehreren Jahren im Lager sitzen, phantastisch gelitten und die schlimmste Zeit überlebt haben – und jetzt tragen sie Hosen mit messerscharfen Bügelfalten und gehen mit wiegenden Schritten. Dann wirst Du verstehen, warum sie uns mit Verachtung und Mitleid begegnen, uns aus Birkenau, wo es nur hölzerne Pferdebaracken gibt, keine gepflasterten Wege und statt Bädern mit heißem Wasser vier Krematorien.

Der Sanitätsraum hat sehr weiße, ein wenig deutsch wirkende Wände, einen Betonboden wie im Gefängnis und viele, viele dreistöckige Pritschen, und man hat von dort aus einen ausgezeichneten Blick auf die Straße draußen, in der Freiheit. Hin und wieder geht ein Mensch vorbei, manchmal fährt ein Auto vorüber, gelegentlich ein Leiterwagen und manchmal ein Radfahrer, sicher ein Arbeiter, der von der Arbeit heimfährt. Weiter weg, sehr weit weg (Du hast keine Ahnung, wieviel Raum in ein so kleines Fenster paßt, nach dem Krieg, wenn ich ihn überlebe, möchte ich in einem hohen Haus mit Fenstern aufs Feld wohnen) sieht man ein paar Häuser und dahinter den dunklen Wald. Die Erde ist schwarz und muß feucht sein. Wie in Staffs Sonett »Wiosenny spacer«, erinnerst Du Dich?

Es gibt in unserem Sanitätsraum aber auch zivilere Dinge: einen Kachelofen mit bunten Majolika-Kacheln, wie es sie bei uns im Depot gab. Die Bratroste sind in diesem Ofen so sinnreich angeordnet, daß man ohne weiteres ein Ferkel darin braten kann. Auf den Pritschen liegen »kanadische« Decken, weich wie ein Katzenfell. Weiße, geplättete Bettlaken. Auf dem Tisch liegt manchmal eine Tischdecke, aber nur an Feiertagen und zum Essen.

Das Fenster geht auf einen Weg hinaus, den Birkenweg. Leider ist jetzt Winter, die kahlen Zweige der »Trauerbirken« hängen herab wie ausgefranste Besen, und statt Rasen breitet sich zäher Schlamm unter ihnen aus, genau wie in der »anderen« Welt jenseits des Weges, nur muß man hier darin herumwaten.

Nach dem Appell gehen wir abends auf dem Birkenweg spazieren, gemessen, würdevoll, und grüßen Bekannte mit einem Kopfnicken. An einer Kreuzung steht ein Wegweiser mit einer Schnitzerei; sie zeigt zwei Männer auf einer Bank, die sich etwas zuflüstern, und ein dritter beugt sich zu ihnen herab und lauscht. Das soll zur Warnung dienen: Jedes deiner Gespräche wird belauscht, kommentiert und bei der entsprechenden Stelle gemeldet. Hier weiß jeder alles über jeden: wann er ein Muselmann war, was er organisiert hat und von wem, wen er erwürgt und wen er verpfiffen hat, und jeder lächelt spöttisch, sobald du ein gutes Wort über jemanden verlierst.

Stell Dir also den Pawiak vor, multipliziert mit soundso viel, umgeben mit einem doppelten Stacheldrahtzaun. Nicht wie in Birkenau, wo auch die Wachttürme auf langen, hohen Stelzen stehen, wie die Störche, wo nur an jedem dritten Pfahl eine Lampe brennt und der Stacheldraht nur einfach ist, dafür aber so viele Abschnitte hat, daß du sie nicht abzählen kannst.

So ist es hier nicht: an jedem zweiten Pfahl hängt eine Lampe, die Wachttürme haben einen soliden Unterbau, es gibt zwei Zäune und dann noch die Mauer.

Wir gehen also auf dem Birkenweg entlang, in unseren Zivilsachen, direkt aus der Sauna, die einzigen fünf Leute, die hier keine gestreifte Häftlingskleidung tragen.

Wir gehen den Birkenweg entlang, glattrasiert, frisch und unbekümmert. Die Menge schlendert in Grüppchen umher, bleibt vor Block 10 stehen, wo hinter Gittern und schalldicht verrammelten Fenstern Mädchen sitzen – Versuchskaninchen; die meisten versammeln sich jedoch vor dem Block, in dem sich die Schreibstube befindet, nicht weil dort der Konzertsaal, die Bibliothek und das Museum ist, sondern weil im ersten Stock der Puff ist. Was ein Puff ist, schreib ich Dir ein andermal, bis dahin darfst Du ein bißchen neugierig sein …

Weißt Du, es ist merkwürdig, Dir zu schreiben, denn so lange schon habe ich Dein Gesicht nicht mehr gesehen. Dein Bild zerstiebt in meiner Erinnerung und läßt sich selbst mit großer Willensanstrengung nicht heraufbeschwören. Dabei sehe ich Dich im Traum unheimlich klar und deutlich vor mir. Weißt Du, der Traum ist etwas anderes als ein Bild, er ist ein Erlebnis, bei dem ich den Raum spüre und die Schwere der Dinge und die Wärme Deines Körpers empfinde …

Ich kann mir Dich kaum auf einer Lagerpritsche vorstellen, mit abgeschnittenen Haaren nach dem Typhus … Ich habe Dich in Erinnerung, wie du im Pawiak warst: ein hochgewachsenes, schlankes Mädchen mit einem angedeuteten Lächeln und traurigen Augen. In der Aleja Szucha saßest Du mit gesenktem Kopf, und ich sah nur Deine schwarzen Haare, die jetzt abgeschnitten sind.

Und das ist das Stärkste, was mir von dort, aus der anderen Welt, geblieben ist: Dein Bild, auch wenn es mir schwerfällt, mich daran zu erinnern. Und deshalb schreibe ich Dir so lange Briefe: Es sind meine abendlichen Gespräche mit Dir, wie damals, in der Skaryszewska-Straße. Und deshalb sind diese Briefe heiter. Ich habe mir viel Heiterkeit bewahrt, und ich weiß, daß auch Du sie nicht verloren hast. Trotz allem. Trotz gesenktem Kopf bei der Gestapo, trotz Typhus, Lungenentzündung und – kurzgeschorenen Haaren.

Aber diese Menschen … Schau, sie haben eine schreckliche Schule durchgemacht, die Schule des Lagers, wie es anfangs war, des Lagers, über das man sich heute Legenden erzählt. Sie wogen dreißig Kilo, waren geschlagen worden, für das Gas bestimmt – verstehst Du jetzt, warum sie heute lächerliche, taillierte Sakkos tragen, warum sie diesen eigentümlichen, wiegenden Gang haben und Auschwitz über alles loben?

Ja, so ist das … Wir spazieren den Birkenweg entlang, elegant in unseren zivilen Anzügen. Doch leider sind wir »Millionäre«! Hundertdreitausend, hundertneunzehntausend, der reinste Jammer, daß wir nicht eine ältere Nummer erreicht haben. Einer im gestreiften Häftlingsanzug trat zu uns, siebenundzwanzigtausend, eine alte Nummer, da kann einem schwindelig werden. Ein junger Bursche mit dem getrübten Blick des Onanisten und dem Gang eines Tieres, das Gefahr wittert.

»Woher seid ihr, Kollegen?«

»Aus Birkenau, Kollege.« Er musterte uns mißtrauisch. »Und dann seht ihr so gut aus? Dort ist es doch schrecklich … Wie konntet ihr es dort aushalten?«

Mein hochgewachsener Freund Witek, ein ausgezeichneter Musiker, zupfte sich die Manschetten zurecht und entgegnete:

»Ein Klavier hatten wir leider nicht, aber es ließ sich aushalten.«

Die alte Nummer sah uns wie durch einen Nebel an:

»Wir haben nämlich Angst vor Birkenau …«

III

Die Schulung verzögert sich noch, weil wir auf die Pfleger aus den benachbarten Lagern Janina, Jaworzno und Buna warten. Außerdem sollen Pfleger aus Gleiwitz und Myslowitz kommen, Lagern, die etwas weiter entfernt sind, aber noch zu Auschwitz gehören. Unterdessen vernahmen wir die hochtönenden Reden des schwarzhaarigen Schulungsleiters, des kleinen, hageren Adolf, der erst kürzlich aus Dachau gekommen und ganz mit Kameradschaft erfüllt ist. Er wird die Gesundheit im Lager durch die Ausbildung von Pflegern heben und die Sterblichkeit dadurch senken, daß er uns erklärt, wie das menschliche Nervensystem funktioniert. Adolf ist ungemein sympathisch und nicht von dieser Welt, aber als Deutscher versteht er nicht, wie sich die Dinge zu den Erscheinungen verhalten, er klammert sich an die Wortbedeutungen, so als seien sie die Wirklichkeit. Er sagt »Kameraden« und glaubt, wir seien wirklich »Kameraden«, er spricht von der »Verminderung des Leidens« und glaubt, das sei hier möglich. Auf dem Lagertor steht aus verflochtenen Eisenlettern »Arbeit macht frei«. Anscheinend glauben sie wirklich daran, diese deutschen SS-Männer und Häftlinge. Sie, die mit Luther, Fichte, Hegel und Nietzsche groß geworden sind. Einstweilen findet also keine Schulung statt, und so treibe ich mich im Lager herum, mache landes- und seelenkundliche Exkursionen. Eigentlich sind wir dabei zu dritt: Staszek, Witek und ich. Staszek zieht es für gewöhnlich zum Küchenblock und zum Magazin, wo er nach Leuten Ausschau hält, denen er mal etwas gegeben hat und die ihm jetzt etwas schuldig sind. Gegen Abend setzt dann die Prozession ein. Da kommen irgendwelche Typen zu uns, denen die Bosheit ins Gesicht geschrieben steht, aber dann setzen sie mit ihren glattrasierten Visagen ein freundliches Grinsen auf und holen allerlei unter ihren engsitzenden Jacken hervor, einen Würfel Margarine, Weißbrot aus dem Krankenbau, eine Wurst oder Zigaretten. Das werfen sie auf die untere Pritsche und verschwinden wie in einem Film. Wir teilen die Beute auf, ergänzen sie aus unseren Vorräten und kochen uns etwas in dem Kachelofen mit den bunten Majolika-Kacheln.

Witek zieht es zu dem Klavier. Der schwarze Kasten steht in dem Block, in dem auch der Puff ist, aber während der Arbeitszeit ist Spielen nicht erlaubt, und nach dem Appell spielen die Musiker, die jeden Sonntag Symphoniekonzerte geben. Das werde ich mir unbedingt mal anhören.

Gegenüber dem Konzertsaal fanden wir auf einer Tür die Aufschrift »Bibliothek«, doch nach Auskunft von Eingeweihten ist sie nur für Reichsdeutsche und enthält ohnehin nur ein paar Kriminalromane. Ich konnte das nicht nachprüfen, weil die Tür ständig verschlossen ist.

In diesem Kulturblock befindet sich neben der Bibliothek die Politische Abteilung und daran angrenzend das Museum. Dort werden Fotos aufbewahrt, die man aus Briefen herausgefischt und beschlagnahmt hat, sonst angeblich nichts. Schade, es wäre der ideale Ort für die halbgebratene menschliche Leber, von der mein griechischer Freund probiert hat, wofür er fünfundzwanzig auf den nackten Arsch bekam.

Aber das Wichtigste befindet sich im ersten Stock. Es ist der Puff. Seine Fenster stehen selbst im Winter halboffen. Nach dem Appell beugen sich Frauenköpfe in den verschiedensten Schattierungen aus den Fenstern, und aus den blauen, rosafarbenen und hellgrünen (diese Farbe mag ich sehr) Morgenmänteln ragen Arme hervor, schneeweiß wie Meerschaum. Es sind, glaube ich, fünfzehn Köpfe und dreißig Arme, nicht mitgerechnet die alte Madame mit dem mächtigen, epischen, legendären Busen, die über die Köpfe, Hälse, Arme und so weiter wacht. Madame zeigt sich nicht am Fenster, sondern amtiert als Zerberus am Eingang zum Puff.

Um den Puff steht die Lagerprominenz Schlange. Auf zehn Julias kommen tausend Romeos, und was für welche. Daher das Gedränge und die Konkurrenz um jede einzelne Julia. Die Romeos stehen in den gegenüberliegenden Blocks am Fenster, schreien, geben Handzeichen und locken. Unter ihnen sind der Lagerälteste und der Lagerkapo, die Ärzte vom Krankenbau und die Kapos der einzelnen Kommandos. Manche Julia hat einen festen Verehrer, und neben Beteuerungen ewiger Liebe, neben Versprechungen eines glücklichen gemeinsamen Lebens nach dem Lager, neben Vorwürfen und Neckereien sind auch konkretere Gespräche zu vernehmen, in denen es um Seife, Parfüm, Seidenhöschen und Zigaretten geht.

Unter den Männern herrscht große Kameradschaft; sie versuchen sich nicht mit unlauteren Methoden zu übervorteilen. Die Frauen an den Fenstern sind sehr zärtlich und verlockend, aber unerreichbar wie Goldfische im Aquarium.

So sieht der Puff von außen aus. Hinein kommt man nur über die Schreibstube, mit einer Karte, die man als Lohn für gute und fleißige Arbeit bekommt. Als Gäste aus Birkenau haben wir auch hier den Vortritt, aber wir haben verzichtet; wir tragen den roten Winkel und überlassen den Kriminellen, was ihnen zusteht. Diese Beschreibung wird daher, so leid es mir tut, nur aus zweiter Hand sein, aber sie stützt sich auf so gute Zeugen und alte Nummern wie den Pfleger M. (inzwischen allerdings Pfleger ehrenhalber) aus unserem Block, dessen Nummer dreimal kleiner ist als die beiden letzten Zahlen meiner Nummer. Er ist sozusagen Gründungsmitglied! Deshalb watschelt er auch wie eine Ente und trägt eine weite Hose mit Zwickeln, vorn zusammengehalten von Agraffen. Abends kommt er aufgekratzt und fröhlich in den Block zurück. Danach geht er zur Schreibstube, und wenn die »zugelassenen« Nummern aufgerufen werden und der Betreffende nicht da ist, schreit er »Hier«, schnappt sich den Passierschein und rennt zu Madame. Er drückt ihr ein paar Päckchen Zigaretten in die Hand, sie unterzieht ihn etlichen hygienischen Maßnahmen, und der frisch desinfizierte Pfleger eilt mit großen Sätzen nach oben. Auf dem Flur wandeln die vom Fenster bekannten Julias, nachlässig in ihre Morgenmäntel gehüllt. Eine von ihnen tritt dann an den Pfleger heran und fragt leichthin:

»Welche Nummer haben Sie?«

»Acht«, antwortet er und schaut sicherheitshalber auf seine Karte.

»Ach, das ist nicht für mich, das ist für Irma, die kleine Blonde«, murmelt sie enttäuscht und schlurft zum Fenster.

Darauf geht der Pfleger zur Nummer acht. An der Tür liest er noch, daß diese und jene Laster nicht praktiziert werden dürfen, sonst gibt es Bunker, daß nur das und das (im einzelnen aufgezählt) erlaubt ist, und zwar nur für soundso viel Minuten. Er schickt einen Stoßseufzer zu jenem Guckloch, durch das hin und wieder eine Kollegin hereinschaut, manchmal auch Madame oder der Kommandoführer des Puffs oder gar der Lagerkommandant persönlich. Er legt ein Päckchen Zigaretten auf den Tisch und … ach ja, er bemerkt noch, daß zwei Päckchen englische Zigaretten auf dem Nachttischchen liegen. Dann kommt es zu dem Geschäft, und hinterher geht der Pfleger hinaus und steckt zerstreut die beiden Päckchen englische Zigaretten ein. Anschließend wird er nochmals desinfiziert, und uns berichtet er dann froh und glücklich von allen Einzelheiten.

Hin und wieder versagt die Desinfektion, und infolgedessen brach neulich eine Epidemie im Puff aus. Der Puff wurde geschlossen, anhand der Nummern wurde festgestellt, wer dagewesen war, und die Betreffenden wurden von Amts wegen herbestellt und behandelt. Weil aber ein reger Handel mit den Passierscheinen betrieben wird, wurden nicht diejenigen behandelt, die es nötig gehabt hätten. Wie das Leben so spielt. Die Frauen vom Puff haben außerdem Ausflüge ins Lager unternommen. Nachts sind sie über Leitern aus dem Fenster geklettert und haben sich in Männerkleidern zu Saufgelagen und Orgien begeben. Damit war aber bald Schluß, weil die Sache dem Posten auf dem nächstgelegenen Wachtturm nicht gefiel.

Frauen gibt es auch anderswo – in Block 10, wo man Versuche mit ihnen macht. Sie werden (wie man hört) künstlich befruchtet, man impft sie mit Typhus und Malaria, nimmt chirurgische Eingriffe an ihnen vor. Den Mann, der das leitet, habe ich flüchtig gesehen: grüne Jägertracht, Tirolerhut mit Sportabzeichen, das Gesicht eines gutmütigen Satyrs. Dem Vernehmen nach ein Universitätsprofessor.

Gitter und Bretter schirmen diese Frauen von der Außenwelt ab. Immer wieder wird dort jedoch eingebrochen, und die Frauen werden befruchtet, auf ganz und gar unkünstliche Weise. Das wird den alten Professor fuchsen.

Die Männer, die das machen, sind vollkommen normal. Das ganze Lager spricht, sobald es satt und ausgeschlafen ist, nur von Frauen, das ganze Lager träumt von Frauen, das ganze Lager ist scharf auf sie. Der Lagerälteste kam auf Straftransport, weil er immer wieder durchs Fenster in den Puff gekrochen war. Ein neunzehnjähriger SS-Mann ertappte den Kapellmeister, einen dicken, würdigen Herrn, und einige Ärzte in unzweideutigen Stellungen mit Frauen, die in die Ambulanz gekommen waren, um sich Zähne ziehen zu lassen, und verpaßte ihnen mit dem Knüppel, den er bei sich hatte, unverzüglich eine entsprechende Tracht auf die entsprechenden Körperteile. Für die Herren war das keine Blamage – sie hatten einfach Pech gehabt.

Die Frauenpsychose im Lager nimmt zu. Deshalb behandelt man die Frauen im Puff wie normale Frauen, spricht mit ihnen von Liebe und häuslichem Leben. Von diesen Frauen gibt es zehn, aber das Lager zählt einige zigtausend Männer.

Darum wollen sie unbedingt ins FKL, nach Birkenau. Diese Männer sind krank. Und dabei gibt es ja nicht nur das eine Auschwitz. Es gibt Hunderte »großer Lager«, es gibt Oflags, es gibt Stalags, es gibt …

Weißt Du, woran ich denke, während ich Dir das alles schreibe?

Es ist später Abend; ein Schrank trennt mich von dem großen Saal voller Kranker, die im Schlaf schwer atmen, ich sitze in dem kleinen Kabuff unter dem dunklen Fenster, in dem sich mein Gesicht spiegelt, der lichtgrüne Lampenschirm und das weiße Blatt Papier, das auf dem Tisch liegt. Mit Franz, einem jungen Burschen aus Wien, habe ich mich vom ersten Abend an gut verstanden – und jetzt sitze ich an seinem Tisch, habe seine Lampe angemacht und schreibe Dir auf seinem Papier. Aber ich schreibe Dir nicht von dem, worüber wir heute gesprochen haben: die deutsche Literatur, die Schuld der romantischen Philosophie, die Probleme des Materialismus.

Weißt Du, woran ich denke, wenn ich Dir schreibe?

Ich denke an die Skaryszewska-Straße. Ich blicke aus dem Fenster, sehe mein Gesicht, das sich in der Scheibe spiegelt, sehe die Nacht draußen und die plötzlich aufleuchtenden Scheinwerfer auf den Wachttürmen, die Teile von Gegenständen dem Dunkel entreißen. Ich schaue und denke an die Skaryszewska-Straße. Ich erinnere mich an den Himmel, blaß und sternenhell, an das ausgebrannte Haus gegenüber und an das Fenstergitter, das wie ein Glasgemälde dieses Bild zerteilte.

Ich denke daran, wie sehr ich mich nach Deinem Körper sehnte in jenen Tagen, und manchmal schmunzle ich bei der Vorstellung, was für eine Riesenenttäuschung es gewesen sein muß, als sie nach unserer Verhaftung in unserer Wohnung außer meinen Büchern und Gedichten Deine Parfüms und den Morgenmantel fanden, rot wie der Brokat auf den Bildern von Velazquez, schwer und lang (ich mochte ihn sehr, wunderbar hast Du in ihm ausgesehen, auch wenn ich es Dir nie gesagt habe).

Ich denke daran, wie reif Du warst, wieviel guten Willen und – verzeih, daß ich es Dir jetzt erst schreibe – Hingabe Du in unsere Beziehung eingebracht hast, wie gutwillig Du in mein Leben getreten bist, in das kleine Zimmer ohne Wasser, die Abende bei kaltem Tee, mit den halbverwelkten Blumen, mit dem Hund, der jeden biß, mit der Petroleumlampe bei meinen Eltern.

Daran denke ich, und ich lächele nachsichtig, wenn man mir von Moral, Recht, Tradition und Pflicht spricht … Oder wenn man jeglicher Weichheit und Sentimentalität eine Absage erteilt und mit geballter Faust vom Zeitalter der Härte spricht. Ich lache und denke, daß der Mensch immer wieder einen anderen finden wird – durch die Liebe. Und daß das Wichtigste und Beständigste ist, was es im menschlichen Leben gibt.

Daran denke ich und erinnere mich an die Zelle im Pawiak. In der ersten Woche konnte ich es nicht fassen, daß es einen Tag ohne Buch geben sollte, ohne den abendlichen Lichtkreis der Lampe, ohne ein Blatt Papier, ohne Dich …

Doch schau, wie stark die Gewohnheit ist: Ich ging in der Zelle auf und ab und formte im Rhythmus meiner Schritte Gedichte. Eines davon schrieb ich in die Bibel meines Zellengenossen, aber von den anderen – es waren horazianische Lieder – weiß ich nur noch einzelne Strophen, wie diese aus einem Gedicht an die Freunde in der Freiheit:

Freunde in der Freiheit! Mit diesem Gefangenenlied nehme ich Abschied

von euch, damit ihr wißt, daß ich nicht in Verzweiflung gehe.

Denn ich weiß, daß von mir bleibt die Liebe und meine Gedichte und, solange ihr lebt, die Erinnerung der Freunde.

IV

Heute ist Sonntag. Vor dem Mittagessen waren wir spazieren, haben uns von oben den Block angesehen, wo die Versuche an den Frauen gemacht werden (sie stecken den Kopf durch die Gitter, genau wie die Kaninchen meines Vaters, Du weißt noch, die grauen, sie hatten ein Ohr heruntergeklappt), dann haben wir uns genau den SK-Block angesehen (im Hof befindet sich die schwarze Wand, an der früher Exekutionen stattfanden, jetzt machen sie das leiser und diskreter – im Krematorium). Wir sahen ein paar Zivilisten: zwei verängstigte Frauen im Pelzmantel und ein Mann mit zerknittertem, übernächtigtem Gesicht. Ein SS-Mann – erschrick nicht – führte sie zum hiesigen vorläufigen Arrest, der sich im SK-Block befindet. Die Frauen betrachteten mit Bestürzung die Männer in der gestreiften Häftlingskleidung und die beeindruckenden Lagereinrichtungen: die mehrstöckigen Häuser, den doppelten Stacheldraht, die Mauer dahinter, die soliden Wachttürme. Wenn sie wüßten, daß die Mauer – angeblich – zwei Meter in die Tiefe reicht, damit sie nicht untergraben wird! Wir lächelten ihnen zu, denn was sie erwartet, ist eine Bagatelle: sie sitzen ein paar Wochen ab und sind wieder frei. Außer man weist ihnen tatsächlich Schwarzhandel nach. Dann wandern sie ins Krematorium. Diese Zivilisten sind zum Lachen. Sie reagieren auf das Lager wie ein Wildschwein auf den Anblick eines Gewehrs. Sie begreifen nicht den Mechanismus unseres Lebens und wittern hinter dem allem etwas Unheimliches, Rätselhaftes, etwas, das die Kräfte des Menschen übersteigt. Weißt Du noch, wie Du Dich erstaunt hingesetzt hast, als Du verhaftet wurdest? Du hast mir davon geschrieben. Ich war bei Maria und las den Steppenwolf (sie war in ihrer Lektüre sehr wählerisch), aber an Einzelheiten erinnere ich mich nicht.

Das Unheimliche und Rätselhafte ist uns heute vertraut. Wir haben alltäglich das Krematorium, Tausende Fälle von Phlegmonen und Tuberkulose, wir haben gelernt, was das ist: Regen und Wind, Sonne und Brot und Rübensuppe und Arbeit, um nicht zu verfallen, wir kennen die Unfreiheit und die Macht, denn wir gehen, wenn ich so sagen darf, mit der Bestie Arm in Arm, und so betrachte ich diese Zivilisten mit einer gewissen Nachsicht, wie ein Gelehrter den Laien, wie ein Eingeweihter den Unkundigen.

Entkleide die alltäglichen Ereignisse ihrer Alltäglichkeit, wirf das Entsetzen und den Ekel und die Verachtung von dir und finde für das alles eine philosophische Formel. Für das Gas und das Gold, für die Appelle und den Puff, für den Zivilisten und die alte Nummer.

Wenn ich Dir damals, als wir bei orangefarbenem Licht in dem kleinen Zimmer miteinander tanzten, gesagt hätte: Hör mal, nimm eine Million Menschen oder auch zwei, drei Millionen, töte sie so, daß niemand davon erfährt, nicht einmal sie selbst, nimm einige hunderttausend Menschen gefangen, zerbrich ihre Solidarität, hetze einen Menschen auf den anderen und … Du hättest mich für verrückt gehalten und womöglich nicht weiter mit mir getanzt. Aber das hätte ich natürlich nicht gesagt, selbst wenn ich schon das Lager gekannt hätte, denn es hätte die Stimmung verdorben.

Aber jetzt schau Dir das hier an: Zuerst war nur eine weißgetünchte Scheune da, und darin – werden Menschen vergast. Dann vier größere Bauten – zwanzigtausend weg wie nichts. Ohne Zauberei, ohne Gift, ohne Hypnose. Ein paar Leute regeln den Verkehr, damit es keinen Stau gibt, und die Menschen fließen wie Wasser, wenn der Hahn aufgedreht ist. Das geschieht zwischen den anämischen Bäumen eines verräucherten Wäldchens. Gewöhnliche Lastwagen karren die Leute herbei, machen kehrt wie am Fließband und schaffen neue herbei. Ohne Zauberei, ohne Gift, ohne Hypnose.

Wie ist es möglich, daß keiner aufschreit, ihnen ins Gesicht spuckt, sich auf sie stürzt? Daß wir vor den vom Wald zurückkommenden SS-Männern die Mütze ziehen, wenn sie uns aufrufen, daß wir ihnen folgen in den Tod, und nichts passiert? Wir hungern, werden vom Regen durchnäßt, sie nehmen uns unsere Liebsten. Siehst Du, das ist das Mystische. Das ist die seltsame Macht des Menschen durch den Menschen. Das ist die grausame Trägheit, gegen die nichts ankommt. Und die einzige Waffe ist unsere große Zahl, der die Kammern nicht gewachsen sind.

Oder noch anders: den Spatenstiel an die Kehle, und hundert Leute täglich. Oder Brennesselsuppe und Brot mit Margarine, dann ein junger, ausgewachsener SS-Mann mit einem zerknüllten Zettel in der Hand, eine in den Arm tätowierte Nummer, danach ein Lastwagen, einer von denen – weißt Du, wann zum letzten Mal »Arier« fürs Gas selektiert wurden? Am vierten April; und weißt Du noch, wann wir ins Lager gekommen sind? Am neunundzwanzigsten April. Was wäre wohl mit Deiner Lungenentzündung geworden, wenn wir drei Monate früher gekommen wären?

… ich weiß, daß Du mit Freundinnen eine Pritsche teilst, und sicher wundern sie sich sehr über meine Worte. »Du hast gesagt, der Tadeusz sei ein fröhlicher Kerl, aber er schreibt nur von bedrückenden Dingen.« Und bestimmt sind sie ganz empört über mich. Aber wir dürfen doch auch über die Dinge sprechen, die sich rings um uns ereignen. Nicht grundlos und leichtfertig beschwören wir das Böse herauf, sondern es ist da, und wir stecken mittendrin –

Du siehst, es ist wieder später Abend nach einem Tag voller merkwürdiger Vorkommnisse.

Am Nachmittag ging ich zum Boxkampf in die große Baracke mit dem Waschraum, dort, von wo anfangs die Transporte zum Gas abgingen. Man ließ uns nach allerhand Umständen ein, obwohl der Saal schon proppenvoll war. Im großen Warteraum war ein Ring aufgebaut. Beleuchtung von oben, ein Schiedsrichter (es war übrigens der polnische Olympia-Schiedsrichter), international bekannte Boxer, aber nur Arier, denn Juden dürfen nicht auftreten. Und dieselben Leute, die anderen Tag für Tag die Zähne ausschlagen, Leute, von denen mancher selbst zahnlos ist, begeisterten sich für Czortek, für Walter aus Hamburg und für einen jungen Kerl, der im Lager zum erstklassigen Boxer trainiert wurde. Man erinnert sich hier noch an die Nummer 77, der die Deutschen im Ring vor sich her trieb und Rache für all das nahm, was die anderen draußen zu erleiden hatten. Der Saal war verqualmt von den Zigaretten, und die Boxer schlugen aufeinander ein, was das Zeug hielt. Nicht ganz nach den Regeln, aber mit großer Entschlossenheit.

»Dieser Walter«, sagte Staszek, »sieh einer an! Auf dem Kommando legt er, wenn ihn danach gelüstet, einen Muselmann mit einem Hieb um, aber hier hat er nach drei Runden noch nichts gezeigt, sondern auch noch die Fresse vollgekriegt. Sind wohl zu viele Zuschauer, oder?«

Was die Zuschauer angeht, so waren sie selig, und wir waren als Gäste in der ersten Reihe.

Nach dem Boxkampf ging ich gleich zur Konkurrenz, ins Konzert. Ihr in eurem Birkenau habt keine Ahnung, was sich hier für Wunder an Kultur ereignen, ein paar Kilometer von den Kaminen entfernt. Stell Dir vor, sie spielen die Ouvertüre zu Tancred und etwas von Berlioz und dann noch finnische Tänze eines Komponisten, der zu viele aaa’s in seinem Namen hat. So ein Orchester, das ihnen das Wasser reichen könnte, findest Du in ganz Warschau nicht! Aber alles der Reihe nach, und hör gut zu, denn es lohnt sich. Ich kam also vom Boxkampf, freudig erregt, und ging unmittelbar zu dem Block, in dem sich auch der Puff befindet. Unter dem Puff liegt der Konzertsaal. Es war überfüllt und laut, die Zuhörer standen an den Wänden, die Musiker, über den ganzen Saal verteilt, stimmten ihre Instrumente. Auf einem Podium gegenüber dem Fenster stand der Küchenkapo (der zugleich Kapellmeister ist), die Kartoffelschäler und der Rollwagen (ich vergaß Dir zu schreiben, daß die Musiker während der Arbeitszeit Kartoffeln schälen und Wagen schieben) fingen an zu spielen. Ich erwischte gerade noch einen Platz zwischen der zweiten Klarinette und dem Fagott. Ich hockte mich auf das unbesetzte Stühlchen der ersten Klarinette und gab mich dem Lauschen hin. Du machst Dir keine Vorstellung, wie gewaltig ein Symphonieorchester von dreißig Mann in einem großen Zimmer klingt! Der Kapellmeister dirigierte mit maßvollen Bewegungen, um nicht mit dem Arm an die Wand zu stoßen, und erteilte denen, die falsch spielten, eine deutliche Warnung. Bei den Kartoffeln wird er ihnen Bescheid stoßen. Die am Ende des Saales (am einen Ende die Trommel, am anderen der Kontrabaß) versuchten, das Tempo zu halten, so gut sie konnten. Das Fagott übertönte alles, vielleicht weil ich unmittelbar daneben saß. Aber der Kontrabaß! Fünfzehn Zuhörer (mehr gingen nicht hinein) versenkten sich kennerisch in die Musik und belohnten das Orchester mit spärlichem Beifall.

– – – Jemand hat unser Lager Betrugslager genannt. Eine schüttere Hecke neben dem weißen Haus, ein Hof, der einem Dorfplatz ähnelt, Schilder mit der Aufschrift »Bad« – das reicht schon, um Millionen Menschen zu täuschen, bis in den Tod zu betrügen. Ein bißchen Boxen, kleine Rasenflächen bei den Blocks, zwei Mark im Monat für die fleißigsten Häftlinge, Senf in der Kantine, wöchentliche Entlausung und die Ouvertüre zu Tancred genügen, um die Welt zu täuschen – und uns. Draußen denkt man, das sei entsetzlich, aber doch nicht so schlimm, denn es gibt ja ein Orchester und Boxkämpfe und Rasenflächen und Decken auf den Pritschen … Betrug ist die Brotration, denn um zu überleben, muß man sich noch was dazustehlen.

Betrug ist die Arbeitszeit, denn man darf weder reden noch sich hinsetzen oder ausruhen. Betrug ist jede Schaufel Erde, die wir nicht ganz voll aus dem Graben auf den Wall werfen.

Schau Dir das alles genau an und verlier nicht den Mut, wenn es Dir schlechtgeht.

Denn von diesem Lager, dieser Zeit des Betruges werden wir vielleicht einmal den Lebenden Bericht erstatten und die Toten verteidigen müssen.

Einmal kehrten wir mit den Kommandos ins Lager zurück. Ein Orchester spielte im Takt der marschierenden Trupps. Dann kamen die Leute von den DAW und Dutzende anderer Kommandos und warteten vor dem Tor: zehntausend Mann. In dem Moment kamen Lastwagen vom FKL herangerollt, vollgeladen mit nackten Frauen. Sie streckten die Arme aus und riefen:

»Rettet uns! Wir fahren ins Gas! Rettet uns!«

Und sie fuhren an uns vorbei, an zehntausend schweigenden Männern. Nicht einer rührte sich, nicht eine Hand hob sich.

Denn die Lebenden haben stets recht gegen die Toten.

V

Zuerst waren wir im Kurs. Eigentlich sind wir schon lange im Kurs, aber ich habe Dir nichts davon geschrieben, weil er im Dachgeschoß stattfindet und es dort sehr kalt ist. Wir sitzen auf Hockern, die wir uns besorgt haben, und amüsieren uns großartig, speziell mit den großen Modellen des menschlichen Körpers. Die Wißbegierigen schauen hin, aber Witek und ich bewerfen uns mit dem Schwamm und fechten mit den Linealen, was den schwarzen Adolf zur Verzweiflung treibt. Er fuchtelt in unsere Richtung und redet von Kameradschaft und Lager. Wir setzen uns still in eine Ecke, Witek holt ein Foto seiner Frau hervor und fragt leise:

»Ich möchte wissen, wie viele er in Dachau umgebracht hat. Auf andere Weise hätte er sich ja nicht empfehlen können. Würdest du ihn erwürgen?«

»Hm – das ist aber eine hübsche Frau. Wie bist du an sie gekommen?«

»Wir waren einmal in Pruszków spazieren. Du weißt, alles grün, Nebenwege, ringsum Wald. Wir gehen eng aneinandergeschmiegt, als plötzlich ein SS-Hund aus dem Wald stürzt …«

»Erzähl keinen Quatsch! Das war doch in Pruszków, nicht in Auschwitz.«

»Es war wirklich ein SS-Hund, denn nebenan war eine von der SS beschlagnahmte Villa. Und das Biest stürzte auf das Mädchen zu. Was hättest du getan? Ich feuerte den Revolver auf die Bestie ab, packte die Frau an der Hand und sagte: ›Irka, nichts wie weg!‹ Aber sie steht wie angewachsen und starrt auf die Knarre. ›Woher hast du das?‹ Ich konnte sie gerade noch loseisen, denn von der Villa her hörte man schon Stimmen. Wir rannten querfeldein wie zwei Hasen. Langwierig mußte ich ihr erklären, daß man in meinem Beruf so ein Eisen benötigt.«

Derweil erzählt einer der Ärzte etwas über die Speiseröhre und dergleichen Dinge, die sich im menschlichen Körper befinden, aber Witek schert sich nicht darum und berichtet weiter:

»Ich hatte mal Streit mit meinem Freund. Entweder er oder ich, dachte ich. Er dachte übrigens genauso, ich kannte ihn gut. Ich bin ihm also drei Tage lang nach und habe bloß geschaut, ob mir nicht einer auf den Fersen ist. Als ich ihn abends auf der Chmielna-Straße zu fassen bekam, habe ich geschossen, aber nicht richtig getroffen. Am nächsten Tag gehe ich zu ihm, er hat den Arm verbunden und schaut mich mißtrauisch an. ›Ich bin hingefallen‹, sagt er.«

»Und du?« frage ich, denn die Geschichte ist sehr frisch.

»Nichts, denn gleich darauf wurde ich eingelocht.«

Ob dieser Kollege dafür mitverantwortlich war, ist schwer zu sagen, jedenfalls ergab Witek sich nicht in sein Schicksal. Im Pawiak war er Abteilungsaufseher oder Bademeister, so eine Art pipel bei Kronschmidt, der während jeder Wache zusammen mit einem Ukrainer Juden peinigte. Kennst Du die Keller des Pawiak? Die eisernen Böden? Darauf mußten die Juden nach dem Bad, wenn die Haut erhitzt war, nackt hin und her kriechen, immer wieder. Hast Du schon mal Soldatenstiefel von unten gesehen, die genagelten Sohlen? Weißt Du, wie viele Nägel das sind? Damit stellte Kronschmidt sich auf den nackten Körper der kriechenden Juden und ließ sich umherfahren. Arier hatten es leichter. Ich mußte zwar auch kriechen, aber in einer anderen Abteilung, und keiner hat sich auf mich gestellt. Und sie ließen mich nicht aus Prinzip kriechen, sondern wegen einer verkehrten Meldung. Für uns gab es Gymnastik, eine Stunde alle zwei Tage. In der Stunde laufen wir um den Hof herum, dann heißt es »Nieder!«, und wir machen Liegestütze, eine gute Übung aus der Schule.

Mein Rekord: 76mal an einem Stück, danach taten mir die Arme bis zum nächsten Mal weh. Die beste Übung, die ich kenne, ist die Gruppenübung »Luftangriff, in Deckung!«. Die Leute stellen sich in Zweierreihen auf, so eng, so daß man mit der Brust den Rücken des Vordermannes berührt, und halten eine über die Schultern gelegte Leiter mit einer Hand fest. Auf das Kommando »Luftangriff, in Deckung!« lassen sich die Leute fallen, ohne die Leiter loszulassen. Wer losläßt, wird mit dem Knüppel erschlagen oder vom Hund zu Tode gehetzt. Dann tritt ein SS-Mann auf die Leiter, die über den Leuten liegt, und geht auf den Sprossen auf und ab, immer wieder. Danach müssen die Leute aufstehen, ohne die Reihenfolge durcheinanderzubringen, und sich erneut fallen lassen.

Du siehst, das alles ist unwahrscheinlich: kilometerweit Purzelbäume schlagen wie in Sachsenhausen, sich stundenlang am Boden wälzen, Hunderte von Kniebeugen machen, tage- und nächtelang unbeweglich auf der Stelle stehen, monatelang im Bunker in einem Betonsarg sitzen, mit zusammengebundenen Händen an einem Pfosten hängen oder an einer Stange, die über zwei Stühle gelegt ist, wie ein Frosch hüpfen oder wie eine Schlange kriechen, eimerweise Wasser trinken, bis man erstickt, von Tausenden unterschiedlichster Menschen mit Tausenden unterschiedlichster Peitschen und Knüppel geschlagen werden – begierig höre ich Geschichten über Provinzgefängnisse, die keiner kennt, Malkinia, Suwalki, Radom, Pulawy, Lublin –, eine entsetzlich entwickelte Foltertechnik, und ich vermag nicht zu glauben, daß sie plötzlich dem Kopf des Menschen entsprungen ist wie einst Minerva dem Kopf des Jupiter. Ich kann diesen plötzlichen Mordrausch, diesen Ausbruch eines offenbar vergessenen Atavismus nicht verstehen.

Und noch etwas: der Tod. Ich hörte von einem Lager, in dem täglich Transporte neuer Häftlinge ankamen, jeweils mehrere Dutzend. Die Zahl der Rationen für dieses Lager stand jedoch fest, wie viele, weiß ich nicht mehr, vielleicht zwei- oder dreitausend, und der Kommandant wollte nicht, daß die Häftlinge hungerten. Jeder Häftling sollte seine Ration kriegen. Folglich waren jeden Tag mehrere Dutzend Menschen zuviel im Lager. Allabendlich wurde in jedem Block mit Karten oder mit Brotkugeln gelost, und die Ausgelosten gingen am nächsten Tag nicht zur Arbeit. Sie wurden mittags aus dem Lager geführt und erschossen.

Und in diesem Ausbruch von Atavismus steht ein Mensch aus einer anderen Welt, einer, der konspiriert, damit es keine Ränke mehr zwischen den Menschen gebe, einer, der stiehlt, damit es keinen Raub mehr auf Erden gebe, einer, der tötet, damit Menschen nicht mehr ermordet werden.

Witek war einer von diesen Menschen aus einer anderen Welt, und er war Hilfskapo bei Kronschmidt, dem schlimmsten Henker des Pawiak. Und jetzt sitzt er neben mir und hört, was es alles gibt im Menschen und wie man, wenn dies oder das kaputtgeht, mit Hausmitteln dagegen angeht. Dann kam es im Kurs zu einem Zwischenfall. Der Doktor forderte Staszek auf, das, was er gerade über die Leber gesagt hatte, zu wiederholen. Was Staszek sagte, entsprach nicht dem, was der Doktor gesagt hatte. Der Doktor sprach:

»Ihre Antwort ist sehr dumm, und außerdem könnten Sie aufstehen.«

»Ich sitze im Lager, also kann ich auch bei den Kursen sitzen«, erwiderte Staszek und errötete. »Außerdem sollten Sie mich nicht beleidigen.«

»Schweigen Sie, Sie sind im Kurs.«

»Das hätten Sie wohl gern, daß ich schweige, ich könnte nämlich etwas darüber ausplaudern, was Sie im Lager gemacht haben.«

Daraufhin schlugen wir mit den Hockern auf den Boden und riefen: Ja! Ja!, und der Doktor rannte aus der Tür. Es erschien Adolf, beschimpfte uns und redete von Kameradschaft, aber wir gingen in unseren Block zurück, ausgerechnet mitten im Verdauungssystem. Staszek eilte sofort zu seinen Freunden, um Vorkehrungen dagegen zu treffen, daß der Doktor ihm ein Bein stellte. Das wird dem Doktor bestimmt nicht gelingen, denn Staszek hat mächtige Gönner im Lager, die ihm den Rücken stärken. Das eine haben wir aus der Lageranatomie gelernt: Wer eine gute Rückendeckung hat, dem kann man kaum ein Bein stellen. Und was den Doktor angeht, so hat man allerlei über ihn gehört. Er hat Operationen an den Kranken ausprobiert. Schwer zu sagen, wie viele er für die Wissenschaft zerschnippelt hat und wie viele aus Unkenntnis. Es werden aber wohl etliche gewesen sein, denn im Spital herrscht immer Gedränge, und auch das Leichenhaus ist immer voll.

Wenn Du dies liest, wirst Du denken, ich hätte die andere Welt, unser Zuhause, vergessen. Ich schreibe und schreibe nur vom Lager, von seinen kleinen Vorkommnissen, deren Sinn ich zu ergründen suche, so als würde uns nichts anderes mehr erwarten …

Erinnerst Du Dich noch an unser Zimmer? Die Ein-Liter-Thermosflasche, die Du mir gekauft hast? Sie paßte nicht in meine Tasche und wanderte schließlich unter das Bett, worüber Du sehr empört warst. Und die Geschichte mit der Razzia in Żoliborz, von der Du mir den ganzen Tag per Telefon berichtet hast? Wie sie die Leute aus den Straßenbahnen holten, aber Du warst eine Haltestelle vorher ausgestiegen, und wie sie den Häuserblock umstellten, aber Du entkamst ihnen und gelangtest bis an die Weichsel? Und wie Du, als ich über den Krieg und die Barbarei klagte, darüber, daß aus uns eine Generation von Unwissenden würde, gesagt hast:

»Denk an die, die im Lager sind. Wir vergeuden nur unsere Zeit, aber sie leiden.«

Was ich damals sagte, war sehr naiv, unreif und von meiner Bequemlichkeit diktiert. Aber ich glaube nicht, daß wir unsere Zeit vergeudet haben. Trotz der vom Krieg entfesselten Leidenschaften lebten wir in einer anderen Welt. Vielleicht für jene Welt, die noch kommen wird. Verzeih mir, wenn Dir diese Worte zu kühn vorkommen. Aber daß wir jetzt hier sind, dient wohl auch jener Welt. Glaubst Du, wir würden im Lager auch nur einen Tag überleben, wenn nicht die Hoffnung wäre, daß diese andere Welt kommen wird, daß die Menschenrechte wiederhergestellt werden? Gerade die Hoffnung läßt die Menschen apathisch in die Gaskammer gehen, läßt sie vor dem Aufstand zurückscheuen, läßt sie in Apathie versinken. Gerade die Hoffnung zerreißt die Familienbande, läßt Mütter ihre Kinder verstoßen, läßt Frauen sich für ein Stück Brot verkaufen und bringt Männer dazu, andere zu töten. Die Hoffnung läßt sie um jeden Tag Leben kämpfen, denn vielleicht bringt ja schon der nächste Tag die Befreiung. Vielleicht nicht einmal die Hoffnung auf eine andere, bessere Welt, sondern bloß noch die Hoffnung auf ein Leben, in dem es Ruhe und Frieden gibt. In der ganzen Menschheitsgeschichte war die Hoffnung im Menschen nie stärker, aber nie hat sie auch soviel Unheil angerichtet wie in diesem Krieg, wie in diesem Lager. Wir haben nicht gelernt, der Hoffnung zu entsagen, und deshalb sterben wir im Gas.

Schau, in was für einer originellen Welt wir leben: Wie wenig Menschen gibt es in Europa, die keinen Menschen getötet haben! Und wie wenig Menschen es gibt, die andere nicht gern ermorden würden!

Aber wir sehnen uns nach einer Welt, in der es Nächstenliebe gibt, Friede vor den Menschen und Ruhe vor den Instinkten. Das ist wohl das Vorrecht der Liebe und der Jugend.

PS – aber vorher, weißt Du, möchte ich noch den einen oder anderen abmurksen, um den Lagerkomplex loszuwerden, den Komplex des Mützeziehens, den Komplex des untätigen Blicks auf die Geschlagenen und Ermordeten, den Komplex der Angst vor dem Lager. Ich fürchte jedoch, daß dieser Komplex uns ewig belasten wird. Ich weiß nicht, ob wir es überleben werden, aber ich wünschte, wir würden einmal die Dinge beim Namen nennen können, wie es mutige Menschen tun.