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INHALT

[Cover]

Titel

Widmung

NULL: STROM AUS

0000: 11. SEPTEMBER 1973

0001: DER DRITTE WEG

0010: ANA

0011: ENTSCHEIDUNGSMASCHINE

0100: FALSCHE FREUNDE

0101: MÁXIMO LÍDER

0110: PLAN Z

0111: KOMMUNIZIERENDE RÖHREN

1000: BLINDER FLECK

EINS: STROM AN

1001: OPSROOM

1010: DER STEUERMANN

1011: DIE GRENZEN DES WACHSTUMS

1100: ALGEDONISCHE SCHLEIFE

1101: DER STREIK

1110: AN ODER AUS

1111: ECHTZEIT

NACHWORT UND DANK

Autorenporträt

Über das Buch

Impressum

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Den Opfern der chilenischen Diktatur
1973 bis 1989 gewidmet

Gegen die Zeit

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STROM AUS

Dann bedachte ich, dass alle Dinge einen genau treffen, genau jetzt.

Jahrhunderte um Jahrhunderte, und alles geschieht
nur in der Gegenwart; zahllose Menschen
in der Luft, am Boden und auf See,
und doch geschieht alles,
was wirklich geschieht,
mir …

Jorge Luis Borges: Der Garten der Pfade, die sich verzweigen

0000


11. SEPTEMBER 1973

Während draußen geschossen wurde, blieb ich in meinem Zimmer, hungrig, in dumpfer Sorge vor einer Infektion, in Gedanken bei Ana. Ich tat nichts als darauf zu warten, dass sie mich holten.

Es würde sich nicht ankündigen. Die Soldaten würden in der Nacht kommen oder am frühen Morgen, sie würden nicht klopfen. Ich malte mir aus, wie sie mich aus dem Haus schleifen und auf die Ladefläche eines ihrer Trucks prügeln würden. Ich stellte mir vor, wie ein Gewehrkolben meinen Kiefer bräche, fuhr mit der Zungenspitze über die Stelle, wo ein Zahn gewesen sein würde. Versuchte, mich vorgreifend an den Verlust von Dingen zu gewöhnen, die mir bislang selbstverständlich und teuer gewesen waren. Dachte an meine Freunde, für die meine Gedankenspiele womöglich in diesen Augenblicken Wirklichkeit wurden, an Óscar, unser Team im CORFO und bei INTEC. Meine Sorge lähmte jedes Handeln, betäubte mein Wollen, sogar den Hunger.

Señora Lorca, meine Vermieterin, hatte weder Telefon noch Fernseher, im Radio waren nur schnarrende Anweisungen zu hören, ansonsten Arbeiterlieder oder preußische Märsche, je nach Sender. Ich wusste und erfuhr nichts über die Lage draußen, konnte sie nur am Kreisen der Helikopter ermessen, mit denen man die Einhaltung der Ausgangssperre kontrollierte, und an der Häufigkeit der Feuergarben. Die Ereignisse schienen mich zu verhöhnen: Ich hatte im CORFO an der Beschleunigung unserer Informationen gearbeitet, an einem System, das alles erfährt und nichts vergisst, einem rauschenden Strom allen Wissens. Mit einem Mal war dieser Strom versiegt.

Señora Lorca hatte das Haus schon vor Monaten in Richtung Punta Arenas verlassen, wo ihr Bruder wohnte. Ich wusste, das war ein schlechtes Zeichen. Sie hatte am »Marsch der leeren Töpfe« teilgenommen, den scheinheiligen Protesten gegen die Mangelwirtschaft, vorgebracht von jenen, die die Lebensmittel in ihren eigenen Kellern und Garagen horteten: den Momios. Sie hatte sich aus dem Staub gemacht, weil sie wusste, dass etwas bevorstand.

Die Stimme Pinochets im Radio war verzerrt, Frequenzen pfiffen und knarzten, doch ich verstand alles, worauf es ankam. Ich redete mir ein, das Regime sei lediglich ein Provisorium, gültig für eine, vielleicht zwei Wochen, Diktatur auf Zeit. Ich dachte es, ohne daran zu glauben; mein Körper, von Panik vergiftet bis in die zitternden Nervenspitzen, wusste es besser.

Warum hatte ich das Land nicht verlassen?

Chile ist am Ende der Welt eingekeilt zwischen den Anden im Osten und dem Pazifik im Westen. Nördlich von Santiago beginnt, nach einem kargen letzten Aufbäumen von Vegetation im Kleinen Norden, die brüllende Leere der Atacama-Wüste. Bleibt der Süden. Dort gibt es allerdings keine Länder mehr, keinen Fluchtpunkt, nichts, worauf die Hoffnung lohnte, nur die Pracht souveräner Geografie und schließlich das ewige Eis. Der Flughafen war geschlossen.

Selbst wenn es die Möglichkeit gegeben hätte: Ich war paralysiert. Es kam einem klinischen Zustand gleich. Man ist zur Entscheidung unfähig, obwohl man am Brennen seiner Nerven fühlt, dass man eine treffen muss, sofort, noch in diesem Augenblick. Gleichzeitig ist da die Furcht, es könne die falsche und letzte sein. Man hasst sich für die Schwäche, sich mit dem Vermeiden einer Entscheidung gegen seine Überzeugungen zu entscheiden.

Als der Putsch am Tag zuvor begonnen hatte, war der Alltag zunächst kaum merklich ins Stocken geraten, wie eine Landmaschine, deren Egge immer wieder im felsigen Grund stecken bleibt, bis sie schließlich unter dem Zug der Kräfte zerbricht. Hinter jeder Ecke wollte alles weitermachen wie bisher, wollte zum Schuster oder Bäcker oder sich in eine der Schlangen reihen, die immer dort entstanden, wo vage Gerüchte sich zu erhältlichen Waren verdichteten. Doch hinter jeder Ecke wartete jetzt das Militär. Vielleicht standen die Soldaten bloß herum und rauchten und stierten aus ihren jungen stumpfen Augen durch dich hindurch. Vielleicht waren sie damit beschäftigt, brennende Autoreifen von der Straße zu schleppen. Oder vorbeigehenden Frauen johlend die Röcke abzuschneiden. Übermütig in die Luft zu schießen. Auf Hunde. Auf die Männer, die mit verschränkten Armen Gesicht zur Wand standen.

Und sobald man die Ecke hinter sich gelassen hatte und freier atmete, weil ein leuchtendes Wiedererkennen die Calle Américo Vespucio menschenleer, doch unverändert zeigte und man sich alles als einen grauenvollen Albtraum einzureden begann, schreckte man unter der nächsten entfernten Salve zusammen, und das nahende Tosen eines Helikopters flutete die Luft und alles Denken, bis der Kopf, der ganze Körper mit Angst ausgegossen waren wie mit Zement.

Nach unserer Flucht aus dem CORFO waren Óscar und ich getrennt worden. Eine Wunde an meiner Schulter brannte, doch ich hatte keine Zeit, danach zu sehen. Ich litt in diesen Stunden, mehr als unter Schmerz und Furcht, unter dem narzisstischen Skandal, vielleicht durch nichts als die gleichgültige Ballistik eines Querschlägers zu sterben. Ich glaube, das war der größte Schock dieses 11. Septembers: dass ich mein bisheriges Leben in absurder Verkennung seiner objektiven Zufälligkeit verbracht hatte und dass auch alle anderen – Ana – von nun an in einer Welt leben würden, in der dieser fundamentale Irrtum für immer richtiggestellt wäre.

Ich war mit Óscar ein gutes Stück gerannt, erst die Calle Estado, dann die Calle Agustinas hinauf. Qualm trübte uns die Sicht, von der Innenstadt her hörten wir die Bomben. Erst später erfuhr ich, dass sie die Moneda getroffen hatten, während sich Allende drinnen seine letzten Worte an das chilenische Volk zurechtlegte. »Es ist sicherlich das letzte Mal, dass ich mich an euch wende. Die Luftstreitkräfte haben die Sendeanlagen von Radio Portales und Radio Corporacion bombardiert. Meine Worte sind nicht von Bitterkeit geprägt.« Ich hatte einen großen schwarzen Reisekoffer mit Unterlagen bei mir, Skizzen und Blaupausen des Opsroom, taxonomische Diagramme, ein paar Diapositive, natürlich die Magnetbänder. Unter keinen Umständen durfte etwas davon den Faschisten in die Hände fallen.

Óscar wiederholte, ich müsse das nicht tun; mir als Ausländer würde ohnehin nichts geschehen. Ich solle ihm den Koffer geben, sagte er. Es klang nicht nur wie eine Forderung, es war eine; bloß verstand ich ihren Grund nicht.

»Wenn sie dich damit erwischen …«, sagte ich und beendete den Satz nicht. Es kam mir vor, als bäte ich ihn darum, ihm beistehen zu dürfen.

Mir war klar, dass uns die Soldaten, wenn sie uns stellten, entweder sofort erschießen oder in eines ihrer Verliese schleifen würden, um uns dort Elektroschocks zu verpassen oder in Fässer mit Exkrementen zu tauchen. Um den Bazillus des »Kommunismus«, wie sie das nannten, ein für alle Mal auszurotten. Ich rannte, den Koffer vor meiner Brust, hinter Óscar die Alameda hinauf Richtung Providencia, vorbei am Kongresszentrum, in dem ich Ana zum ersten Mal begegnet war, den Cerro Santa Lucia hinter uns lassend, während Panzer in der Gegenrichtung an uns vorüberrollten, wir rannten, bis wir das dünne braune Rinnsal des Mapocho erreicht hatten, in dessen Bett die kommenden Toten vom Schmelzwasser der Anden durch die Stadt gespült werden würden.

Auf der Brücke hatten Carabineros eine Sperre errichtet, wir liefen ihnen geradewegs in die Arme. Ich akzeptierte das vorzeitige Ende unserer Flucht mit einer Gleichgültigkeit, die mich rückblickend bestürzt. Die beiden Polizisten richteten in synchroner Bewegung ihre Gewehre auf uns und riefen etwas, das ich nicht verstand. Dann, als sei dies ein minutiös geprobter Akt, hörten wir hinter uns MG-Feuer, Mörtel spritzte aus der Wand neben mir, und noch ehe ich begriff, was geschehen war, brachen die beiden Polizisten vor uns zusammen. Mich umdrehend, während meine Beine schon wieder oder noch immer in Bewegung waren, sah ich Soldaten in einem Militärjeep, der eben wendete und davonfuhr: Man interessierte sich schon nicht mehr für uns, sondern raste unter aufgeregten Rufen einem anderen Ziel entgegen.

Die Demütigung, vom chaotischen Zucken solcher Geschehnisse en passant am Leben bedroht zu werden, während man so angstvoll bemüht ist, sich unter dem Funkenregen der Geschichte wegzuducken, empörte mich, doch auch das, natürlich, kümmerte niemanden, nicht einmal mich, wie es schien: Meine Beine rissen mich weiter, irgendwohin, weg. Ein Pochen tönte an- und abschwellend in meiner Schulter, ich wusste, ich war getroffen.

Auf einem der Balkone des Sheraton, in dem auch Stanley bei seinen Aufenthalten in Santiago gewohnt hatte, stand eine kleine Gruppe in Anzügen und blendender Laune: Man stieß miteinander an. Vor uns, mitten auf der Straße, lag ein Hund schläfrig in der Sonne. Als eine Jagdmaschine tief in Richtung Stadtzentrum vorüberschoss, schreckte der Köter auf und humpelte davon. Oben hob man die Gläser zum Salut.

Der Jubel nahm zu, je tiefer wir nach Providencia kamen, wo wir, verschwitzt und bärtig, sofort als die Fremdkörper auffielen, die wir hier waren. Die Momios hupten vor Freude, schlugen Töpfe, manche hissten eine chilenische Flagge zwischen Bäumen. Einer rief uns hinterher: »Jetzt rennt ihr! Rennt schnell, ihr Hurensöhne!«

Als wir das Geschäftsviertel hinter uns gelassen hatten, kamen wir an einer Autowerkstatt vorüber; das Tor war oben, aber niemand zu sehen. Der ganze Straßenzug war verlassen bis auf ein paar eingeschüchterte Hunde. Fernes MG-Geknatter hallte zwischen den Hauswänden, ich hörte das Fauchen weiterer Jäger und war verblüfft, wie bereitwillig man sich mit den Insignien des Sterbens abfindet, sofern sie bilderlos bleiben.

Wir gingen an einem verrosteten Renoleta, einem kleinen Renault, vorbei zu einer Treppe. Der stechende Geruch nach Nitroverdünnung beschwor das Bild meines Vaters in seiner Gartenlaube herauf, ohne Verstand an obskuren Werkstücken feilend, halb irr; ich konnte ihn hier und jetzt nicht gebrauchen, und ganz kurz erschrak ich darüber, dass das wohl auch in all den Jahren zuvor so gewesen war.

Am Ende der Treppe, im Büro der Werkstatt, machte Óscar ein Telefon aus, wählte; die Leitung war tot. Auf dem Tisch stand ein Becher mit erkaltetem Kaffee, ein brauner Rand hatte sich oben an der Tasse abgesetzt; ein Radio mit einem krummen Stück Draht als Antenne rauschte leise.

Wir wollten eben die Treppe wieder hinuntersteigen und verschwinden, als ein Trupp Soldaten in die Garage stürmte, zwei junge Männer vor sich hertreibend. Ich lehnte die Tür, die zu öffnen ich bereits im Begriff gewesen war, so langsam wie möglich wieder zurück und wartete mit angehaltenem Atem, ob die Soldaten zu uns heraufsteigen würden. Vorerst blieben sie in der Halle, mehr pflichtschuldig als neugierig Schubladen aufreißend und Kram von den Werktischen fegend.

Sie verlangten Papiere von den beiden Männern. Unwillkürlich griff ich an meine Innentasche, und für den Bruchteil einer Sekunde empfand ich, was diese empfinden mochten. Sie hatten ihre Papiere zurückgelassen oder weggeworfen und so versucht, sich um den Preis ihrer Identität Zeit zu erkaufen, in der wiederum irgendetwas, so hofften sie, den Lauf der Ereignisse aufhalten würde. Ich fühlte diese Hoffnung wie meine eigene.

Schnell offenbarten die Soldaten, dass es ihnen nicht um die Überprüfung von Personalien zu tun war. Stattdessen verspotteten sie die offenkundigen Studenten, schubsten sie herum, beleidigten sie als Schwanzlutscher und Sozialistenschweine. Ich sah mich nach einem anderen Ausgang aus dem Büro um; es gab keinen. In Óscars wässrigem Blick – sein Atem ging schnell und flach – sah ich meine eigene Ohnmacht, sah die Selbstvorwürfe für das, was gleich geschehen und was keiner von uns, weder er noch ich, verhindern würde.

Unten entbrannte wütendes Geschrei, dem zu entnehmen war, dass die Soldaten ihren Vorwand für rohe Gewalt gefunden hatten. Die beiden Männer verweigerten die Nennung ihrer Namen und beschimpften die Soldaten ihrerseits als dreckige Faschisten. Ich kämpfte gegen mein Herzklopfen und meine Atemnot und eine Art verzweifelter Langeweile, als ich mich fragte, warum man die bekannten Teile dieses durchschaubaren Spiels nicht überspringen konnte. Mein Gedanke schockierte mich, es war kein Spiel. Wie zum Beweis riss mich ein Schuss aus meinen Gedanken, von unten kam ein Schrei, und mir wurde klar, dass jemand, während ich über Durchschaubarkeit und mein Verhältnis zu ihr nachgedacht hatte, gestorben war.

Óscar presste die Hand vor den Mund.

Unten ein Wortwechsel, den ich nicht verstehen konnte. Jemand flehte.

Ein zweiter Schuss, kurz und kalt.

Ich konnte nicht anders, als gegen jede Vernunft durch den Spalt der Tür zu sehen. Einer der Soldaten, sehr jung, war von Blutspritzern getroffen, ich war mir sicher, dass der Schrei von ihm gekommen war. Er wirkte entsetzt, doch als der Kommandant der Einheit seine Pistole ins Holster zurückschob, wischte der Rekrut sich schon mit dem Ärmel übers Gesicht und lachte gequält auf. Seine blutverschmierte, die eigene Abscheu verleugnende Fratze sucht mich selbst mit dem Abstand fast eines ganzen Jahres noch manchmal heim.

Wir blieben bis zum Mittag in dem Büro; die Soldaten waren längst fort. Keiner von uns sprach oder versuchte es. Óscar hatte noch ein Päckchen Hilton, die rauchten wir, eine nach der anderen, stumm.

Ich versuchte mich von Zeit zu Zeit geradezu willentlich auf meine Verletzung zu besinnen, als sei sie der mindeste Tribut an die Lage des Landes; im Grunde schämte ich mich, dass meine Schmerzen nicht heftiger waren.

Wir gingen die Frequenzen durch, Radio Magallanes sendete noch, sie wiederholten Allendes letzte Rede in Endlosschleife.

»Meine Worte enthalten keine Bitterkeit, jedoch Enttäuschung. Sie werden die moralische Strafe für diejenigen sein, die ihren Eid verraten haben: Soldaten Chiles, amtierende Oberbefehlshaber und Admiral Merino, der sich selbst ernannt hat, der verachtungswürdige General Mendoza, der noch gestern der Regierung seine Treue und Loyalität schwor und sich ebenfalls selbst zum Oberkommandierenden der Carabineros ernannt hat. Angesichts dieser Tatsachen kann ich den Arbeitern nur eines bekräftigen: Ich werde nicht zurücktreten! Vor eine historische Situation gestellt, werde ich meine Loyalität gegenüber dem Volk mit meinem Leben bezahlen.«

Die Verbindung brach ab, erst viel später bekam ich den Text der Rede zu Gesicht. Wann immer ich sie seitdem las, hörte ich förmlich die weihevolle Intonation, mit der er seine Sätze in eine präsidiale Ansprache verwandelte, wohlklingende und eherne Worte, die sich gewiss waren, vom Katheder der Geschichte zu tönen. Noch im Untergang sprach Allende, als sei er nur nebenbei ein Mensch aus Fleisch und Blut, hauptamtlich aber ein höheres Wesen von unbezweifelbarer Integrität. Auf dem wurmstichigen Boden des Büros, zwischen Pin-up-Kalendern und Motorteilen kauernd, wusste ich nicht, ob ich seine Selbstüberhebung im Angesicht der Niederlage lächerlich oder heroisch finden sollte.

Auf den Sendern der Rechten wurde wieder und wieder die Ausgangssperre verkündet. Wer nach 15 Uhr auf der Straße angetroffen werde, müsse mit seiner unverzüglichen Erschießung ohne vorherige Warnung rechnen. Wir hatten die Wahl, die Garage jetzt gleich zu verlassen oder bis zur Dunkelheit zu warten.

»Aber was dann?«, fragte ich Óscar.

Ich solle mich lieber allein durchschlagen, sagte er mir. Sofort. Er komme schon zurecht. Dabei sah er auf den Koffer.

Ihn im Stich zu lassen kam für mich ebenso wenig infrage wie sein Misstrauen zu akzeptieren. Ich öffnete die Tür vorsichtig und stieg langsam die Treppe hinunter. Schlich, ohne sie anzusehen, an den beiden Leichen vorbei zum geöffneten Tor und spähte hinaus. Keine Soldaten zu sehen. Aus der angrenzenden Lackierhalle holte ich Lagen von Zeitungspapier und bedeckte die Körper damit. Eine der Schlagzeilen berichtete über das Plebiszit, mit dem der Präsident sich in der Regierung bestätigen lassen wollte, um einen Putsch abzuwenden. Allende hatte es heute der Öffentlichkeit ankündigen wollen.

In dem aufgebockten Renault steckte der Schlüssel. Ich gab Óscar, der die Werkstatt erfolglos nach einem weiteren Telefon oder Funkgerät durchsucht hatte, ein Zeichen.

»Wir fahren«, sagte ich.

»Nicht wir«, sagte Óscar. Es war unübersehbar, dass er mich loswerden wollte. Er fand gute Argumente, sprach von seiner Verantwortung und meiner Unschuld. In alldem hörte ich bloß die Unterstellung, mir bedeute unser Projekt weniger als ihm oder jemand anderem aus unserem Team, weil ich Ausländer war, weil ich letztlich die Wahl hatte. Óscar war jemand, für den sich stets alles fügte, wie und wann er wollte. Er war der technische Leiter des Projekts, ich war sein Gehilfe und gewohnt, dass er selbstverständlich recht behielt. Jetzt aber empfand ich seine Unfehlbarkeit als anmaßend.

Ich löste die Hydraulik und ließ das Auto vom Wagenheber.

»Wir fahren«, wiederholte ich wie ein amerikanischer Filmheld, es sollte Entschlossenheit signalisieren. Ich war auch tatsächlich entschlossen, wenngleich ich nicht wusste, wozu.

Ein letztes Mal stieg ich die Treppe zum Büro hoch und schaute mich um. Dann deponierte ich den Koffer im Hohlraum unter dem durchgesessenen Sofa, das seit schätzungsweise zehn Jahren vor der Bretterwand stand und auch die nächsten zehn Jahre dort stehen würde, unbehelligt von allen politischen Systemen und künftigen Wirtschaftsordnungen.

Als ich die Treppe wieder hinunterkam, sah Óscar mich fragend an, dann verstand er. »No«, sagte er und schüttelte den Kopf. Das sei zu riskant.

Ihn mitzunehmen, sagte ich, sei viel riskanter. Ich sagte nicht, dass ich durch sein Misstrauen unsere Flucht ernsthaft gefährdet sah; ein paar Augenblicke später hatte er es selbst begriffen. Sein Blick war irgendetwas zwischen entschuldigend und trotzig, aber vielleicht bildete ich mir das nur ein. Es ging alles so schnell; ein ganzes bisheriges Leben in ein paar Vormittagsstunden.

Ich notierte auf einem Zettel, dass es sich bei der Ausleihe des Wagens um eine »casa de emergencia« handele, was Óscar in »caso« zu ändern genötigt war, denn es handelte sich um einen Notfall, kein Nothaus; mein Spanisch war, auch nach knapp zwei Jahren im Land, noch immer stark vom Zufall bestimmt, und ich machte Óscar keinen Vorwurf, dass er mich verbesserte. Wütend war ich dennoch.

Er startete den Renault. Natürlich gab es einen Grund, warum er in einer Werkstatt stand: Der Auspuff fehlte, ein ohrenbetäubender Lärm brach los; keine idealen Voraussetzungen für eine unauffällige Flucht.

»Wohin fahren wir?«, fragte ich. Óscar schwieg, ich wusste, er wollte zu seiner Familie. Er wohnte in La Reina, einem eher bürgerlichen Viertel im Osten der Stadt, eine Dreiviertelstunde entfernt schon an normalen Tagen.

Es war kurz nach 14 Uhr; in diesen Minuten, so erfuhr ich später, stürmten die Putschisten die Moneda.

Die Straßen waren voller Soldaten. Sie marschierten in kleinen Konvois, fuhren in Jeeps und Lastern vor, kontrollierten Geschäfte und Hauseingänge. Immer wieder waren Schüsse zu hören, das Kreisen der Helikopter hatte sich in ein konstantes Hintergrundgeräusch verwandelt. Der Renault war laut, fuhr aber einwandfrei, wenngleich Óscar immer wieder abbremsen musste, weil Passanten oder aufgeschreckte Hunde ohne Ankündigung die Straße querten.

Auf der Tobalaba, wo wir an einer Kreuzung halten mussten, explodierte unvermittelt ein Brandsatz auf einem stehenden Panzerwagen. Er war offenbar aus dem Fenster eines Gebäudes hinabgeworfen worden. Der Panzer setzte sich sofort in Bewegung, entfernte sich vom Gebäude und wendete, immer noch brennend, sein Geschütz um 180 Grad in Richtung Hausfront. Im selben Moment, als er unter mächtigem Rückstoß feuerte und die Granate einen Großteil der Außenmauer wegriss, passierte ein alter Mann mit einem Eselskarren voller Schrott die Szenerie. Er ging keine zehn Meter entfernt von der Stelle, an der staubend die Trümmer herabregneten, doch sowohl Esel als auch der Mann zeigten sich völlig unberührt und setzten ihren Weg, so habe ich es in Erinnerung, stoisch fort.

Als Soldaten herankamen und in das Gebäude eindrangen, löste Óscar endlich die Bremse und seinen Bann. Immer wieder mussten wir Hindernissen ausweichen, schwelenden Barrikaden, zurückgelassenen Autos, sahen wir Ladenbesitzer, die eilig ihre Geschäfte zusperrten und davonrannten wie vor einem aufziehenden Sturm.

Hinter uns, über der Innenstadt, stand Rauch.

Ich informierte Óscar, dass unser Zigarettenvorrat erschöpft sei. Die Mitteilung hing eine Weile unbeachtet in der Luft, hilflos, ihrer Überflüssigkeit kläglich bewusst.

Unser Unfall war zufällig und vollkommen unnötig, sofern Notwendigkeit nicht ohnehin ein irreführendes Kriterium der Geschichte ist. Im Vorbeifahren beobachteten wir, wie Männer mit erhobenen Händen abgeführt wurden und sich in einer Reihe aufstellen mussten. Zweihundert Meter weiter, genau vor uns, forderte ein weiterer Soldat jemanden winkend zum Anhalten auf. Óscar fluchte, wir waren es, die er meinte. So abgelenkt, sah ich aus den Augenwinkeln, wie einer der Männer in der Reihe, mit der wir jetzt gleichzogen, den Mund öffnete und die Zunge herausstreckte, während zwei Soldaten ihre Gewehre auf ihn gerichtet hielten. Der Anblick war grotesk. Óscar machte keine Anstalten, die Fahrt zu verlangsamen; der Soldat vor uns schrie unhörbar etwas in unsere Richtung und nahm seinen Karabiner von der Schulter. Óscar gab Gas.

»Was machst du?«, stieß ich unter dem erschrockenen Röhren des Motors hervor. Auch Óscar war inzwischen auf die Verhaftung der Männer aufmerksam geworden und antwortete atemlos, dass er nicht so enden wolle wie sie. Ich warf aus meinem geöffneten Fenster einen Blick zurück und konnte, während Óscars Ausweichmanöver den Renault hin und her warf, sehen, wie einer der Soldaten seinen Gewehrkolben gegen den Unterkiefer jenes Gefangenen mit der herausgestreckten Zunge krachen ließ. Unwillkürlich, wie unter Tränengas, schloss ich die Augen und zuckte in der nächsten Sekunde unter einem Schuss zusammen. Óscar lenkte den Wagen scharf in eine Einbahnstraße; der Soldat im Rückspiegel feuerte ein weiteres Mal, abermals ohne den Renault zu treffen.

»Wohl besoffen«, bemerkte Óscar. Es klang grimmig und vollkommen humorlos, wie es überhaupt unserer gesamten Situation an jeder Voraussetzung für Humor fehlte. Als wolle er über diese Tatsache triumphieren, drehte sich Óscar um und wiederholte in Richtung des Schützen entschieden: »Wohl besoffen!« Ich wollte ihn warnen, aber als er sich wieder nach vorn drehte, hatte er die Kontrolle über den Wagen schon verloren, der Aufprall war nicht mehr zu verhindern. Er trat heftig auf die Bremse; die Windschutzscheibe splitterte, ich spürte einen Schlag am Kopf. Dann war alles in den weißen Dampf des Kühlwassers gehüllt.

Óscar hatte sich bei dem harten Zusammenstoß die Rippen geprellt, ich war mit einer Platzwunde an der Stirn davongekommen. Als wir uns aus dem Wagen befreiten, sah ich sofort nach dem Schützen, der auch tatsächlich auf uns zu lief. Die Schwaden des zischend austretenden Dampfes gaben uns für ein paar Sekunden Deckung, und so flohen wir um die nächste Ecke und dann weiter ohne Pause, endlos, wie mir schien, durch die orthogonalen Straßen dieses Teils der Stadt, den ich kaum kannte: links, rechts, links, immer gewahr, dass eine Patrouille uns offenkundig Flüchtende nicht erst nach unseren Personalien fragen, sondern sofort abknallen würde.

Ich sah Óscar zum letzten Mal, als er auf den Micro sprang, einen jener klapprigen Busse, die sich in halsbrecherischer Fahrt gegenseitig die Kundschaft streitig machten. Jetzt waren wegen der Ausgangssperre nur noch wenige unterwegs, diese dafür überfüllter denn je. Den Anblick von Arbeitern, Frauen und Kindern, die sich mit einem Fuß auf dem Trittbrett und einer Hand am Dachgepäckträger oder auch nur am Mantel des Nebenmannes notdürftig festhielten, war man mittlerweile gewohnt; in den Monaten im Herbst ’72, während des großen Streiks, hatte man nicht selten sogar auf Dächern und Motorhauben Leute sitzen sehen.

Am Micro war nur noch ein Platz auf der hinteren Stoßstange frei, wobei »frei« nicht das treffende Wort ist. Ich verstand und akzeptierte Óscars Wunsch, bei der Familie zu sein. Ich konnte mich in seine Situation versetzen. Ich wusste: wenn ich eines Tages selbst eine Familie hätte, würde es mir gehen wie Óscar. Würde ich selbst jemanden lieben, dann ließe auch ich nichts zwischen die Geliebte und mich treten, ohne Rücksicht auf andere, und seien es die eigenen Freunde, wäre es nicht so?

So dachte ich, während der Micro schon längst verschwunden war und ich mich in einen Hauseingang kauerte. Während ich um Atem rang und schwitzte und mich verlassen fühlte wie seit meiner Ankunft in Chile nicht mehr. Während mir das Bild Anas in den Sinn kam, wie wir uns im CORFO gegenübergestanden und voneinander verabschiedet hatten – nah, aber still, fast wortlos, um den Kollegen nicht zu offenbaren, was sie schon längst wussten, in naivster Gottgläubigkeit darauf bauend, dass man aus alldem wundersam verschont hervorgehen würde.

Irgendwo schlug eine Kirchglocke drei Uhr.

Señora Lorca hatte bis zu ihrer Abreise Lebensmittel im Haus gebunkert. Also war sie wohlhabend genug, die Schwarzmarktpreise zu bezahlen. Mir gegenüber hatte sie sich immer darüber beschwert, dass die Regierung ihr die Witwenrente gekürzt habe, was ungewöhnlich war, weil Allende alle anderen Sozialleistungen ebenso angehoben hatte wie die Löhne. Ihr musste ein Fehler bei der Beantragung unterlaufen sein; trotzdem machte sie die Funktionäre der Unidad Popular verantwortlich, wie um ihre Wut auf die armen Schlucker in den Poblaciones zu nähren, die plötzlich einen halben Liter Milch am Tag umsonst bekamen, während sie selbst sich alles vom Mund absparen musste, wie sie behauptete. Dabei stimmte das nicht einmal; das Einzige, was in ihrem Haus fehlte, war ein Telefon. Allerdings war es das Einzige, worauf es mir im Moment ankam.

Es war der Tag zwei nach dem Putsch, ich war erst am frühen Morgen in mein Zimmer zurückgekehrt, nachdem ich den langen Weg nach Ñuñoa zu Fuß zurückgelegt hatte. Den ganzen Nachmittag hatte ich mich in dem Hauseingang versteckt, zusammengekauert hinter dem Windfang des Aufgangs. Ich musste pinkeln und traute mich nicht; ich hatte Angst um mein Leben. Das schreibt sich, als würde es nichts bedeuten, oder wenig, und so ist es.

Endlich war der Abend gekommen, es wurde kühl und kühler, und als die Temperatur fast den Gefrierpunkt erreicht hatte, setzte ich mich in Bewegung und rannte. Die Dunkelheit bot Vorteile, Fahrzeuge waren meist schon von Weitem an den Scheinwerferkegeln zu erkennen, auch Stimmen stachen scharf gegen die Stille ab. Ich lief von Block zu Block, den Kopf gegen das Brausen des Windes geneigt, hastige kleine Schritte machend, um gleichzeitig leise und in Bewegung zu bleiben. Eine ganze Weile hatte ich nicht die geringste Orientierung, dann gelangte ich zufällig wieder auf die Tobalaba, sah im Osten die dunkle Lücke der Kordillere in der Lichterwand der Stadt und wusste, dass ich auf dem richtigen Weg war.

Im Morgengrauen, kurz vor meiner Heimkehr, stieß ich in einer Gasse auf einen toten Journalisten. Er trug ein schmutziges weißes Hemd und blaue Jeans; die Kamera lag zerschlagen neben ihm auf der gestampften Erde. Sein Gesicht war nicht zu erkennen, nur verklebte Haarsträhnen in einer trocknenden Pfütze aus Blut. Seine Arme und Beine waren grotesk verdreht, als sei er in vollem Lauf gestürzt. Ich musste unwillkürlich an ein Pressefoto des Jahres denken, Kategorie Kriegsberichterstattung, Mahnung an die Welt. Angeekelt von mir selbst schüttelte ich mich und sah mich nach irgendetwas um, womit ich ihn bedecken konnte. Es erschien mir unmöglich, ihn einfach so liegen zu lassen, herzlos und unzivilisiert, wie wenn ein ausgelöschtes Leben auf der Straße nur ein verzichtbares Detail des ohnedies deutlichen Ganzen wäre, Routine schon beim ersten Hinsehen: der fehlende Film in der Kamera, die Flecken im Schritt der Hose.

Das Haus der Lorca lag still und unscheinbar zwischen den anderen, deren Bewohner sich eingeschlossen oder rechtzeitig die Stadt verlassen hatten. Ñuñoa, so schien es, war den Soldaten unverdächtig, mittlerer und gehobener Mittelstand; jedenfalls sah ich keine einzige Patrouille, überhaupt war es ruhig wie an einem Feiertag. Der Krieg war schon dabei, sich ins Nationalstadion und die Folterkeller zurückzuziehen.

Ich duschte lange, als könnten die Spuren meiner Erlebnisse sich allesamt abwaschen lassen. Als ich fertig war, erfüllte dichter Dampf das Bad. Das Frühlingslicht, flach durchs saubere Fenster fallend, illuminierte die Kondenströpfchen, die durch die Luft tanzten wie ein gewaltiger Aufmarsch, Millionen und Abermillionen. Ich versuchte, ein einzelnes zu fokussieren, doch schon mein bloßer Versuch verwandelte alles sofort in jene gegenstandslose Wolke zurück, aus der sich nichts Einzelnes lösen ließ. Ich stand minutenlang da, mein Handtuch vor dem Gesicht, und hatte schließlich vergessen, worüber ich nachzudenken versuchte.

Ich schreckte aus meiner nutzlosen Träumerei, als mir ein ungleich konkreteres Bild in den Sinn kam, nämlich wie man die Tür einschlagen und mich nackt unter der Dusche hervorzerren würde. Bewegung.

Als der Dampf durchs Fenster abgezogen war, betrachtete ich das winzige, inzwischen nässende Loch neben meinem Schulterblatt im Spiegel. Ich tippte auf einen Splitter oder Betonschrapnell, der durch die Luft geflogen war, als eine der Kugeln nahe der Brücke neben mir eingeschlagen war. In Señora Lorcas verbliebenen Utensilien suchte und fand ich eine Pinzette, die ich über meinem Feuerzeug sterilisierte. Doch ich schaffte es nicht, das Instrument in die jetzt wieder blutende Wunde zu bugsieren, geschweige denn, darin nach einem Splitter zu stochern. Der Schmerz war unaushaltbar, ich war nicht Charles Bronson.

Ich verband die Wunde notdürftig, setzte mich aufs Bett und unternahm den ebenso konzentrierten wie erfolglosen Versuch, klar zu werden; klar darüber, welche meiner Entscheidungen es gewesen waren, die mich in dem Geäst aus Schlussfolgerungen, Annahmen und Irrtümern bis an diesen Punkt geführt hatten, von dem nun nicht eine einzige Abzweigung mehr in die Zukunft zu führen schien. Dann schlief ich ein.

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DER DRITTE WEG

Ich war Anfang 1969 nach Frankfurt gekommen, nachdem ich an der Hochschule für Gestaltung in Ulm Industriedesign studiert und mein Diplom mit 23 abgelegt hatte – als einer der Jüngsten, seit es den Studiengang gab.

In einen Betrieb zu wechseln, kam für mich nicht infrage. Forschung und Lehre hätten mir durchaus offengestanden und interessierten mich weitaus mehr als Lohnerwerb, doch ich wollte nicht in Ulm bleiben. Einige Monate lang erschien mir alles, was ich hätte beginnen können, als die Art Falle, in die, jeder auf seine Weise, auch meine Eltern geraten waren. Ich wollte nicht in irgendeiner Firma landen, um dort Tand so aufzuhübschen, dass ein Bedürfnis an die Stelle trat, wo vorher keines gewesen war. Ich wollte kein Teil jener Maschinerie sein, die die Menschen lediglich als Werktätige oder Konsumenten sieht. Meine Euphorie ist mir nach allem, was geschehen ist, abhandengekommen, aber noch vor drei Jahren war ich überzeugt, Sullivans »form follows function« könne tatsächlich die Gesellschaft verändern. In Ulm hatte ich dafür eine zeitgemäße Formensprache gefunden, die Design wirklich in die Lebenswelt der Menschen zu integrieren versuchte. Über diese, wahrscheinlich ist das der Preis für fachliche Obsession, wusste ich allerdings wenig.

Ich ging nach Frankfurt, um mich dort für Soziologie einzuschreiben. Ich weiß nicht, ob es tatsächlich das Studium war oder die Protestbewegung, die mich dorthin zogen; vielleicht war es auch etwas, das über beides hinausging. Ich besorgte mir ein kleines Zimmer und fand schnell einen Hilfsjob als Bauzeichner, mit dem ich mein Studium finanzieren konnte.

Meine Immatrikulation an der Goethe-Universität wäre allerdings fast vereitelt worden. Mehrere Tage im Frühjahr hatten Studenten die Verwaltung der Universität blockiert, um alle Immatrikulationen und Rückmeldungen zu verhindern. Daniel Cohn-Bendit hatte zu diesem Boykott aufgerufen, wenngleich erst, so wurde kolportiert, nachdem er selbst sich zurückgemeldet hatte. Jedenfalls protestierten Tausende auf dem Campus und hinderten die Studenten am Zugang zur Verwaltung, selbst unter Polizeischutz gelang es den meisten nicht, die Blockade zu durchbrechen. Und so musste auch ich draußen bleiben.

Am Anfang schloss ich mich den Protesten nicht an, im Gegenteil, schließlich war ich von ihren Auswirkungen betroffen. Außerdem hatte ich durchaus meine Schwierigkeiten herauszufinden, was überhaupt ihr Anlass war. Während ich neugierig durch die hin und her schwappende Menge mäanderte und gelegentlich nach Feuer sowie den näheren Umständen der Veranstaltung fragte, erhielt ich die unterschiedlichsten Antworten. Es gehe selbstverständlich um den Krieg, sagte einer, oder vielmehr gegen die Militärdiktatur in Griechenland, wie ein Zweiter präzisierte, was allerdings Unfug sei, so ein Dritter, weil jeder wisse, dass man gegen den kalifornischen Gouverneur Ronald Reagan protestiere, der die Studenten in Berkeley vom Militär hatte niederknüppeln lassen. Von alldem wusste ein Vierter wiederum nichts, ließ sich allerdings mit mir gemeinsam von einem kundigen Fünften belehren, dass unsere Unkenntnis der Situation von bourgeoiser Ignoranz, wenn nicht barem Schwachsinn zeuge. So ging das noch einige Zigarettenlängen weiter, bevor meine beharrlichen Erkundigungen schließlich ergaben, dass im Fokus der Proteste ein iranischer Student stand, den die Bundesregierung nach irgendeiner nichtigen Verfehlung in den Iran hatte abschieben wollen; seine »Deportation« sei allerdings in letzter Sekunde von einem »Kommando« des SDS noch auf dem Rollfeld des Frankfurter Flughafens vereitelt worden. Nun wolle sich der Perser wieder an der Goethe-Universität einschreiben, was ihm aber behördlicherseits verboten worden sei.

Irgendwo vor uns brach Lärm aus, Glas splitterte; durch die Luft kroch der gärende Gestank von Buttersäure.

»Das heißt, weil der Perser sich nicht einschreiben darf, soll es keiner dürfen?«, wollte ich wissen. Mein Gegenüber, ein bärtiger Student mit fränkischem Einschlag, unterwies mich in beeindruckender Rhetorik, dass der Fall Taheris, so der Name des Persers, als Symptom der allgemeinen Beschneidung verbürgter Freiheitsrechte interpretiert werden müsse und dass es auf der Weltbühne imperialer Repression letztlich ein Minimalanspruch des Klassenbewusstseins sein sollte, seine Kritik in konkreten Aktionen wie diesen zu entfalten – die affirmativen Kräfte des Bestehenden würden andernfalls jedwede Solidarität ersticken.

Wiewohl der Mensch von knöchernem Ernst war und seine in der Frühlingssonne spiegelnden Brillengläser mich daran hinderten, ihm in die Augen zu sehen, nahmen mich sein vertrauter Dialekt und mehr noch die fraglose Selbstverständlichkeit seines Vortrags für ihn ein. Er redete, als könne sich das alles jeder, der nur wolle, ohne große Mühe selbst herleiten, statt sich von der offiziellen Meinungsindustrie dumm machen zu lassen.

Um uns herum wurde ein Katalog von Parolen skandiert, eine Art Medley all der Beschwerden des Zeitgeistes, denen die Studenten Gehör verschaffen wollten. Natürlich hatte ich sie auch in Ulm schon gehört – die Meldungen über das Massaker von My Lai, den Obristenputsch der Rechten in Griechenland, die Unruhen in Berkeley –, allerdings war mir das alles dort unten sehr fern geblieben. Hier hingegen, in Frankfurt, war es kaum möglich, sich dem allgemeinen Gefühl zu entziehen, dass die Zeit zum Handeln gekommen sei, wie auch immer.

An diesem Tag schrieb ich mich nicht ein, weil die Belagerung des Campus durch die Studenten und in wachsendem Maße durch die Polizei schließlich in einen heftigen Straßenkampf mündete. Die Aggression sei – zumindest war das so am nächsten Tag in den Zeitungen zu lesen – von den Demonstranten provoziert worden, die »ohne Anlass« Flaschen, Steine und sogar Molotowcocktails gegen die Polizei geworfen hätten. Die Frage, wer angefangen hatte, war für mich allerdings irrelevant geworden, seit ich in der Nacht gemeinsam mit einer fröhlichen Hebammenschülerin namens Claudia Wuppke und ihrer politisch, so schien es, eben im Erwachen begriffenen Clique bei einer friedfertigen Sitzblockade von einer offensichtlichen Übermacht der Polizei mit Wasserwerfern und Schlagstöcken überrannt worden war. Eben noch hatten wir geschwatzt und gesungen, zum Zeltlager hatte eigentlich nur noch ein Lagerfeuer gefehlt, eine Flasche Wein machte die Runde, da tauchte eine teils berittene Garde der Polizei in Kampfmontur auf, und unsere zufällig konstituierte Gruppe zerstob in ihre Einzelteile. Ich rannte; als ich mich umsah, hatte ich die anderen aus den Augen verloren. Während ich selbst, ich weiß nicht wie, mich allen Handgreiflichkeiten entziehen konnte und mich ein wenig fühlte wie bei einer erwachsenen Version von Räuber und Gendarm, ging es für viele nicht so harmlos zu. Männer wie Frauen wurden, teilweise an ihren Haaren, über den Asphalt gezerrt, während drei, vier oder fünf Polizisten wie im Rausch auf sie eindroschen. Diese Übergriffe durchkreuzten schon bald Strategie und Ziel meiner eigenen Bewegungen, irgendwie schloss ich mich einer anderen Gruppe an, und bald entsann ich mich schon nicht mehr, welche Absperrung wir zu überwinden versuchten und aus welchem Grund. Was wir wollten, schien überhaupt unerheblich: Plötzlich waren wir im Widerstand.

Irgendwann tauchte aus der nur von Leuchtgranaten erhellten Dunkelheit ein Karren mit Pflastersteinen auf, wie eine Lieferung per Expressversand, bitte bei Erhalt quittieren: Ausgestattet mit diesem Kampfmaterial erschien es nicht nur mir völlig folgerichtig, es auch zu benutzen. Ich spürte wenig von meiner Furcht, geschweige denn Skrupel, dafür eine mir bis dahin völlig unbekannte Erregtheit, die Furcht in Aktion übersetzte. Mir stand das Bild eines Abenteurers vor Augen, eines Gerechten, der in irgendwelchen Wirrnissen kämpft, über deren Zusammenhänge er kaum etwas weiß, nicht für sich selbst, sondern für andere, und sich darin für einen Gesandten in heiliger Angelegenheit hält.

Letztlich entkam ich im allgemeinen Durcheinander durch Bockenheimer Nebenstraßen, in denen brusthoch das Tränengas stand, wie ein Nachtschwärmer nach reizvollen, aber kraftraubenden Ausschweifungen.

Auf meiner Bude am nächsten Morgen fühlte ich mich wie verkatert, während mir nach und nach die Details jener Dummheiten wieder ins Bewusstsein stiegen, zu denen ich mich in der Menge hatte hinreißen lassen. Mein erster Gedanke nach dem Aufwachen galt jenem gesichts- und namenlosen Beamten, den ich vielleicht verletzt, jenem unbeteiligten Privatmenschen, dessen Auto ich ganz sicher beschädigt hatte. Wozu, fragte ich mich: Was hatte mich da geritten? Mein Gerechtigkeitsgefühl? Die Inbrunst der Nacht war mir peinlich. Von dem Perser hörte ich nie wieder.

Wenn ich zurückdenke an die Monate im Sommer 1969, als die Motoren des Protestes auf höchster Umdrehung heißliefen und sich schließlich an dem festfraßen, was damals wie heute gesellschaftlicher Konsens war, kann ich in mir keine Wut entdecken, nicht einmal Empörung, lediglich Erstaunen. Es war vermutlich mein schlechtes Gewissen angesichts fehlender Solidarität, das mein Engagement, oder was ich dafür hielt, entfacht hatte.

Das schlechte Gewissen blieb; mein Engagement aber nahm ich mir nicht ab. Nach der Befreiung Baaders erlebte ich den Verfall einer politischen Kultur, die Argumente durch unablässiges Geschrei ersetzte. Ich beobachtete das mit einem Gefühl wachsenden Heimwehs nach dem Frankfurt, das ich mir ersehnt hatte, so als wären die, deretwegen ich gekommen war, gegen Fremde ausgetauscht worden, mit denen ich kaum Gemeinsamkeiten hatte. Adorno war tot, Krahl und Dutschke zumindest außer Gefecht; die deutsche Linke wohnte ihrer Zersplitterung als ihr eigenes johlendes Publikum bei. Die Außerparlamentarischen – oder was noch von ihnen übrig war – gerierten sich nur noch als hypertrophe Schwätzer, die Baader-Gruppe hingegen hatte es mit ihren konfusen Aktionen geschafft, sogar die meisten Studenten gegen sich aufzubringen. All den Grabenkämpfen war schmerzlich die Sinnlosigkeit eingeschrieben, die Lebensbedingungen von Menschen verbessern zu wollen, denen sie längst gut genug waren. Man trommelte weiter und versuchte, sich nicht am hohlen Tönen zu stören, doch es fiel sicher nicht nur mir auf, dass der Beat niemanden mehr wirklich ergriff.

Im März 1971 erhielt ich einen Brief von der Bundesstelle für Entwicklungshilfe in Bonn. Einer meiner Professoren in Ulm hatte mich dort ins Gespräch gebracht, nachdem er selbst eine Anfrage aus Chile aus gesundheitlichen Gründen hatte ablehnen müssen. Der dortige Verband für staatliche Wirtschaftsförderung, die Corporación de Fomento de la Producción, CORFO, suchte einen Leiter für eine Projektgruppe an der Universidad de Chile in der Hauptstadt Santiago, die schnellstmöglich auf den State of the Art im Fachbereich Industriedesign, genauer: Produktentwicklung, gebracht werden sollte. Nach der Wahl des Sozialisten Salvador Allende zum Präsidenten verließen die Fachkräfte seit Ende 1970 massenweise das Land, weil sie erwarteten, dass Chile unter Allende auf eine wirtschaftliche Steinzeit zusteuern würde.

Allendes Regierungsbündnis, die Unidad Popular, war als erste sozialrevolutionäre Bewegung in der Geschichte durch freie, demokratische Wahlen an die Macht gelangt. Niemand mochte so recht glauben, dass sie sich dort lange würde halten können, denn aus dem bürgerlichen Lager blies ihr eine Sturmfront entgegen. Schon die Stichwahl, in der die UP ihre hauchdünne Mehrheit hatte verteidigen müssen, wäre beinahe gescheitert, nachdem der Dienstwagen des Militärchefs General René Schneider am Morgen des 22. Oktober, zwei Tage vor der Entscheidung, in der Nähe seines Hauses von drei Fahrzeugen eingekeilt und beschossen worden war. Schneider erlag seinen schweren Verletzungen wenig später im Krankenhaus. Offenkundig war er als Anschlagsopfer ausgewählt worden, weil er als Oberkommandierender und überzeugter Loyalist der Verfassung entscheidenden Einfluss auf die gesamten Streitkräfte hatte; im Falle von Allendes Wahlsieg wäre er somit für einen sofortigen Putsch der Opposition nicht zu gewinnen gewesen.

Der Anschlag auf Schneider war indes bei Weitem nicht Allendes einziges Problem. Unter den Konservativen war er wegen seiner sozialistischen Agenda, unter vielen Linken wegen seiner duldsamen Amtsführung verhasst. Die Arbeiter und Landlosen allerdings verehrten ihn wie einen Heiligen, weil er in kürzester Zeit die Löhne angehoben, die Preise gesenkt, die Großgrundbesitzer enteignet und eine staatliche Gesundheitsversorgung eingeführt hatte. Für diese und andere Maßnahmen hatten ihm wiederum USA und Weltbank den Geldhahn zugedreht und die heimische Bourgeoisie den Krieg erklärt. Allende weigerte sich dennoch beharrlich, die Bürgerrechte einzuschränken, was zur Folge hatte, dass er weder politische Saboteure wirksam verfolgen noch die reaktionäre Propaganda etwa durch die Tageszeitung El Mercurio einschränken konnte, deren Finanzierung durch die CIA ein offenes Geheimnis war. Kurz gesagt bot der neue Präsident seinen Feinden jede nur erdenkliche Flanke.

Sein größtes Problem war allerdings, das hatte ich mir aus Zeitungsberichten zusammengereimt, dass ihm mit rasender Geschwindigkeit das Geld ausging. Er war darauf angewiesen, möglichst schnell die Importabhängigkeit seiner Wirtschaft zu überwinden, um Devisen zu sparen, musste also so viel wie möglich selbst produzieren – während ihm täglich die Spezialisten wegliefen, die er ohnehin nicht hätte bezahlen können. Leute wie ich waren für ihn ein Geschenk zur richtigen Zeit. Ich glaube, ich hätte sogar zugesagt, wenn sie mich nicht bezahlt hätten.

In der folgenden Woche gab ich mein Zimmer auf und verkaufte mein Auto sowie meine sämtlichen Schallplatten. Für das Geld buchte ich einen einfachen Flug nach Chile und kaufte ein spanisches Wörterbuch. Meiner Mutter schickte ich erst aus Santiago eine Postkarte.