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Inhalt

[Cover]

Titel

Widmung

Zitat

Die Helianloggia

Amsterdamer Epiphanie

1

2

Das Reisen und die Angst

Antarktika, Antarktika

Feuerland

Falkland-Inseln

Südgeorgien

Elephant Island

Antarktis

Drake-Passage

Kap Hoorn

Buenos Aires

Herbst in New York

1

2

3

4

5

Ein unmöglicher Brief

Ausflug mit dem Zerberus

1

2

3

4

5

Die lebenswarme Hand

1

2

Quellenhinweise

Autorenporträt

Über das Buch

Impressum

[Leseprobe – Lichter als der Tag]

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Für meine Brüder
Stephan und Andreas

im Andenken an
Manfred Kreher
(1925 – 1944)

Es gibt keinen anderen Weg zur Welt
als den Weg des Mitgefühls.
Zbigniew Herbert

Die Helianloggia

Schön ist der Mensch und erscheinend im Dunkel
Georg Trakl

Der Sommer 1986 war einer der heißesten, an die ich mich erinnere. Ich war einundzwanzig und wollte Urlaub – von was? – im Tessin machen. Drei Tage brauchte ich, um per Anhalter von Hamburg nach Bellinzona zu kommen, dann sah ich den Lago Maggiore und sah ihn versinken. Es regnete an dem See so unbändig, dass es die Blüten von den Sträuchern drosch. In den Rinnsteinen der Uferstraßen schwammen Hibiskusblüten, und die Geranien in den Blumenkästen der Pensionen wurden blass und blasser, bis alle ihre Farben davongespült waren.

Auf dem verwaisten Campingplatz zwischen Locarno und Ascona lag ich in meinem Einmannzelt. Im Dröhnen des zur Erde stürzenden Wassers las ich Otto Basils Monografie über das Leben Georg Trakls. Als ich das Buch durchgelesen und im Rucksack verstaut hatte, baute ich das Zelt ab und trampte durchnässt an türkisblauen Alpenseen vorüber, die sich in Regendunst und Nebel so endlos in die Ferne zogen wie Meere, zwei Tage und eine Nacht lang nach Tirol.

Basils Buch mit den grobkörnigen Schwarzweißfotografien darin aufgeschlagen, stand ich vor der Rauchvilla im mittlerweile zu Innsbruck gehörenden Mühlau und verglich das Gebäude mit der Abbildung des Hauses. Ich suchte nach der Loggia im ersten Stock, hinter deren Fenstern Trakl seine Dichtung »Helian« geschrieben haben soll, fand sie jedoch nirgends. Nie und nimmer konnte es demnach dieses Haus sein. Also ging ich weiter, und ich summte dabei:

Verse, die Trakl in Mühlau geschrieben hatte unter dem Einfluss seiner Lektüre von Johannes Schlafs Übersetzungen der »Leaves of Grass« von Walt Whitman.

Wenig später sprach mich ein Pärchen an, dem mein literarischer Reiseführer aufgefallen war. Der Niederländer mit seiner amerikanischen Begleiterin las gleichfalls in der dunkelblauen Monografie mit dem hellblauen Porträt Trakls als Umschlagbild, er verglich und zweifelte wie ich. Wir beschlossen, im Dorf nach der echten Rauchvilla zu fragen, und saßen eine Stunde darauf im Garten des Hauses, wo uns die Parterremieter mit Limonade bewirteten. Es war ein drückend heißer Julinachmittag. Ich erzählte von der Sintflut am Lago Maggiore. Elstern keckerten dazu in den Tannen, über die hinweg man in den Talkessel blickte, Innsbruck lag dort. Und der Inn durchbrauste grün die von beschneiten Berggipfeln umgebene Stadt.

Pier war Verhaltensforscher. An Georg Trakl interessierten ihn alte physiognomische Studien, die man anhand von Porträts des Dichters angestellt hatte. Ein seltsamer Zugang zur Dichtung, fand ich und sagte das auch, woraufhin Pier, der in Amsterdam Dozent war, mit hellem Lachen erwiderte: »Es geht um Menschen, in der Forschung wie in der Dichtung.« Ich nippte an meinem Glas und schlug, eine Wonne unter diesen Fenstern, den »Helian« auf:

Schön ist der Mensch und erscheinend im Dunkel

Pier scherzte, dass er auch mich untersuchen würde – anhand der Fotos, die seine Freundin Rhonda bereits heimlich von mir gemacht habe. Ein kalter Scherz; die mal unerklärlich traurigen, wie erjagten, mal sich selbst entstellenden, geradezu brutal offensiven Aufnahmen von Trakls Antlitz vor Augen, konnte ich das nicht komisch finden.

Dennoch musste ich einräumen – wohl kaum damals, aber später, als ich Aufsätze von ihm las –, dass Pier wie ich auf Spurensuche war. Was er in den Bildern las, in Mimik und Gestik, suchte ich in den Zeilen, die Trakl in Tirol geschrieben hatte, in Versen und Briefen. Ich glaube heute, es ging zwischen Pier und mir darum, wessen Georg Trakl der wahrere war, oder besser: ob er oder ich Trakl näher kam, indem er ihm ins Gesicht und ich ihm ins Gedicht schaute.

Rhonda vermittelte. Sie fuhr uns zu Schloss Hohenburg bei Igls, wo Trakl, schon in größter seelischer Not, in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg Zuflucht gesucht hatte. Eine Aufnahme zeigt ihn eingehakt bei der Besitzerin, freundlich lächelnd, beinahe sanft, und doch mit gekrümmter Haltung. Am Arm der stattlichen jungen Dame wirkt er unpassend, so verloren wie auf jedem Foto, das es von ihm gibt. In seinem Gedicht »Hohenburg« heißt es:

So gingen wir vier Sommertage lang durch die Bilder und Aufzeichnungen von Trakls Tirol. Wir schritten Innsbruck ab, sprachen dabei über Venedig, wo er einmal in der Sommerfrische gewesen und wo am Lido ein Foto von ihm entstanden war, das ihn im schwarzen Badeanzug zeigt. Oder wir fuhren nach Lans hinauf und wanderten über die Berghänge zurück nach Mühlau bis zum Neuen Friedhof, wo Georg Trakl seit 1925 beerdigt liegt. Elf Jahre zuvor war er als Medikamentenakzessist »Georg Frankl« im weit entfernten Galizien Gräueln des Großen Krieges ausgesetzt, die ihm auch den letzten Lebensmut nahmen. Zur Beobachtung seines Geisteszustands in ein Krakauer Garnisonsspital abkommandiert, starb er dort an einer Kokainvergiftung. Pier und Rhonda waren wie in Venedig auch in Krakau gewesen und hatten dort das alte Spital gesucht, aber nicht gefunden.

»Ich bin«, schrieb Trakl einmal in einem Brief, »wie ein Toter an Hall vorbeigefahren, an einer schwarzen Stadt, die durch mich durchgestürzt ist, wie ein Inferno durch einen Verfluchten.«

Hätten wir nicht Rhondas Auto gehabt, wir wären in den Zug gestiegen, um einmal an Innsbrucks Nachbarstadt Hall vorbeizufahren.

Während der Fahrt sprachen wir über Walt Whitman, über eines der wenigen Fotos von ihm. George C. Cox machte es 1887, in Trakls Geburtsjahr. Die Aufnahme zeigt den von Schlaganfällen gezeichneten Whitman fünf Jahre vor seinem Tod mit Hut, langem schneeweißen Bart und den hochgezogenen Augenbrauen, von denen es heißt, sie hätten seinem Gesicht den Ausdruck müder Weisheit, sturer Gelassenheit und beständiger leichter Überraschung verliehen. Noch auf dem Totenbett und vierzig Jahre nach ihrer Erstveröffentlichung schrieb Whitman Gedichte für seine »Grashalme«. Wie hätte wohl Georg Trakl 1960 ausgesehen, mit Mitte siebzig? Wie, fragte ich, stürzt eine Stadt durch dich hindurch, an der du vorbeifährst?

»Es ist eine Erscheinung«, sagte Pier. »Sie stürzt durch dein Gesicht.«

Amsterdamer Epiphanie

Wir hassen alte Freunde: Wir hassen alte Bücher.
William Hazlitt

1

Es ist wohl ein Irrtum, anzunehmen, der Wunsch nach Aussöhnung spiele im Empfinden und Denken eine wichtige Rolle. Warum auch einem verzeihen, der mich verletzt und herabwürdigt. Zum Teufel soll er gehen, zumindest, bis ich ihn vergessen habe. Aussöhnung ist nur ein anderer, mag sein schönerer Begriff für Verdrängung, und das menschliche Drama wird deshalb dort umso dramatischer, wo einer im Spiel ist, der nicht vergessen kann, weil er nicht vergessen will.

So ein Mensch ist mein Großonkel – weshalb meine Großtante, die Tante meiner Mutter, sich täuschte, als sie glaubte, ihr früherer Mann hätte sie gebeten, zu ihm zu kommen, damit sie sich versöhnten. In Wirklichkeit war es ihm egal, was sie fühlte oder dachte, ja im Nachhinein muss man annehmen, dass zumindest damals in Pankow, wo er, meine Mutter und ich unter einem Dach lebten, meinem Großonkel unser aller Gedanken und Empfindungen gleichgültig waren.

Aber auch uns war zutiefst gleichgültig, was ihn zu einem derartigen Ungeheuer hatte werden lassen. Für meine Mutter und mich war er ein alter, mit Diabetes geschlagener Mann, von dem wir außer Rechthabereien und melancholischen Anfällen kaum noch etwas erwarteten. Ich kann nicht behaupten, dass ich ihn liebte. Aber ich glaube, ich tat es nur deshalb nicht, weil ich Angst davor hatte, in den Bann seiner Zerrüttung gezogen zu werden. Nichts ist ja so einem Zweifler durch und durch abscheulicher als die Zufriedenheit eines Kindes. Ich fand die ganze Welt und damit auch ihn erstaunlich. Ihm hingegen erschien alles und damit auch seine Familie als einziges Unglück.

Es sei ihm nur darauf noch angekommen, erzählte er mir kürzlich, dass meine Großtante in der Nähe war, wenn er dem Leben, das sie zugrunde gerichtet habe, ein Ende setzte. Und dass sie in dem von ihr gestifteten Chaos zurückblieb – so wie er die achtzehn Jahre seit ihrer Scheidung damit allein gewesen sei. Nur darum habe er ihr seinerzeit geschrieben und sie gefragt, ob sie ihn besuchen wolle. Gebeten habe er sie mit keiner Silbe. Aber wie schnell sie zugestimmt habe … »Lieber Herr Jesus!«, rief er mir ins Gesicht – ein aufschlussreicher Ausruf, wenn man wie mein Großonkel weiß, was Friedrich Nietzsche in seinem »Antichrist« von Jesus von Nazareth schreibt, nämlich dass er sich nicht gewehrt, nicht gezürnt, keinen verantwortlich gemacht, nicht einmal dem Bösen widerstanden, vielmehr auch ihn geliebt habe. Im Grunde, so Nietzsche, habe es nur einen einzigen Christen gegeben, und der sei am Kreuz gestorben.

Oft sagt mein Großonkel, er trage sein Kreuz. Doch keine Sekunde lang sollte meine Großtante sehen, was er darunter versteht: ein Wrack zu sein, ein fetter, alter, zuckerkranker Sack, der rieche und sich einsaue trotz der Binde zwischen den Beinen, immer griffbereit seinen Shakespeare, »The Complete Works«, erschienen in der Oxford University Press 1908, kein anderes Buch habe so dünnes Papier. Beinahe den ganzen »Sturm« hatte er Seite für Seite herausgerissen, um sich von Pantoffeln und Fingern die auf der Toilette übersehenen Flecken zu wischen. Prospero und Caliban, Miranda und Ariel, auf diese Weise zogen sie noch einmal an ihm vorüber, Gestalten, die wirklicher für ihn waren als so manches Mädchen, das er geküsst, oder so mancher Spund, mit dem er die Schulbank gedrückt hatte in seinem vertanen Leben. Und der schönen Passage mit der toten Fliege wegen wäre gleich als nächstes »Titus Andronicus« an die Reihe gekommen, Shakespeares düsterstes Stück. Dafür sei leider an dem Tag, als meine Großtante nach Pankow fuhr, keine Zeit mehr geblieben. Aber er kannte die Passage eh auswendig. Und wie hatte es sie angewidert, wenn er die Stelle aufsagte, sobald sich nur ein grün oder blau schimmernder Brummer verzückt und gierig auf dem Esstisch vor ihnen beiden niederließ. Mit dem Messer zerdrückt Marcus fröhlich eine Fliege auf seinem Teller. Woraufhin Titus zu ihm sagt, er sei ein Mörder, sein Herz habe er soeben gemordet, er solle ihm aus den Augen gehen. »Hinweg«, sagt er zu Marcus, »ich seh, du taugst für meinen Umgang nicht.« Mehrmals hat mein Großonkel seine Lieblingsshakespearestelle auch mir aufgesagt, und ein jedes Mal aufs Neue konnte ich dabei nachfühlen, was meine Großtante überkommen haben wird: Immer habe ich mich mit Marcus, nie mit Titus identifiziert, ich fühlte mich bloßgestellt, gemaßregelt, niedergeschmettert.

Meine Mutter war mich suchen gegangen an jenem Tag, ich in dem wilden Garten hinterm Schulhof setzte einer Elster nach, wird erzählt, und drüben vorm Fenster meines Großonkels mähten die Gärtner den Gymnasiumrasen. Er setzte die Brille auf, verstopfte sich die Ohren mit Wachskügelchen, wie er es immer tat, um allein zu sein, umbrandet von einer lärmenden Galaxie, und nahm die Lupe zur Hand. Und dann, wie der Schwimmer am Atlantik, der er einmal gewesen war und der dort von den Klippen sprang mit einem wunderbar leichten und gesunden Körper, versenkte er sich erneut in die Reproduktion eines Gemäldes, über das seine Augen schon seit Stunden hin und her gewandert waren.

Das Bild, eines von Runge, das er auch heute noch liebt, spielt für meinen Großonkel in unserem Leben eine Schlüsselrolle. Zu mir sagte er einmal, die drei Figuren darauf würden ihn ansehen, als wüssten sie alles, was er wisse. Sie hatten gelebt, waren gemalt worden, waren gestorben und waren noch als Tote und Gespenster verbrannt. Philipp Otto Runge hatte seinen Bruder, seine Frau und sich in Öl gebannt, seit Jahrhunderten lebten sie nicht mehr, doch vor fünfundsiebzig Jahren war das Bild in Flammen aufgegangen und seither unwiederbringlich verloren. Meinem Großonkel bedeuteten die drei jedoch weit mehr. Sie waren in gewisser Weise seine Kronzeugen, die Einzigen, die dabeigewesen waren, als sein Leben in Stücke ging. Von ihnen war die Rede gewesen, als er begriff, wie es um seine Ehe stand, ein Moment, der nichts zu tun gehabt hatte mit Albert Camus und den vergeblichen Anstrengungen, gemeinsam mit seiner Frau, meiner Großtante, eine Darstellung von Camus’ Leben zu Wege zu bringen, nichts mit unterschiedlichen Vorstellungen, Ansätzen, Ausführungen, den Wortgefechten und Grabenkämpfen um diese oder jene Passage in »Die Pest« oder »Der Mythos des Sisyphos«. Die eine Frage, über der sie sich schließlich entzweit und einander den Krieg erklärt hatten, die Frage nach dem Raum für wilde Spekulationen, die Frage, ob es möglich sei, dass Camus’ Tod im Januar 1960 auf einer Landstraße südlich von Paris kein Unfall war –, nicht einmal dieser chronische, unüberwindbare Streitpunkt spielte noch eine Rolle, als mein Großonkel in der Wohnung einer fremden Frau mitten in Amsterdam den Gedanken fasste, dass ihn seine eigene Frau hinterging.

Doch wie alles begann, das hat mir mein Großonkel erst sehr viel später erzählt, nämlich, wenn ich mich recht erinnere, im Runge-Zimmer der Hamburger Kunsthalle und zu einer Zeit, als ich quasi aufgehört hatte zu existieren, so absorbiert war ich von den Besuchen bei meiner Großtante in München, wohin sie gezogen war, und meinem Großonkel in Berlin, unseren Gesprächen, Telefonaten und später, als beide sich dazu überwinden konnten, weil ich nach Hamburg zog, unserem E-Mail-Wechsel. Ich ging ganz auf in der Rekonstruktion ihres Unglücks, merkte aber irgendwann, dass ich mein eigenes Glück dabei vergaß. Der Glaube, alles auf der Welt sei erstaunlich, irgendwo war er mir verloren gegangen und wie ein Staubkorn in einem Kaleidoskop aufgerieben worden von lauter bunten Steinchen.

Es war der Stoff meines Lebens, der durchschimmerte in ihren Erzählungen. Meine Erinnerungen an Dinge, die ich selber erlebt hatte, bestanden sie nicht mindestens zur Hälfte aus ihren Geschichten, aber auch, wie mir dämmerte, ihren Erfindungen, die wiederum mindestens zur Hälfte auf Sätze zurückgingen, die sie irgendwo gelesen hatten? Wie groß, fragte ich mich, war wohl der Anteil eines Friedrich Nietzsche oder Philipp Otto Runge an meiner Persönlichkeit, meiner Sozialisation, meiner erwachenden Liebe zum Leben, und das, obwohl ich, zumindest mit dreizehn, noch nie von diesen Menschen gehört hatte?

Im Runge-Zimmer der Hamburger Kunsthalle jedenfalls muss es gewesen sein, als mir mein Großonkel vor einigen Jahren erstmals von dem Ort erzählte, wo alles begann, dem »Mexico-City«, einer Spelunke in Amsterdam. In Albert Camus’ Roman »Der Fall« predigt dort der selbsternannte Bußrichter Jean-Baptiste Clamence von Gott, der Welt und sich selbst: Wenn er sich um andere gekümmert habe, geschah dies – in aller Freiheit – aus reiner Herablassung, und das Verdienst habe ihm allein zugestanden. Seine Eigenliebe sei wieder um ein Stück gewachsen, sagt Clamence im »Mexico-City«. Dieses von allerlei Gelichter frequentierte Etablissement an einer Gracht irgendwo in der Amsterdamer Innenstadt wollte im Frühling 1984 ein Freund und Kollege meines Großonkels und meiner Großtante, der führende Camus-Kenner der Niederlande, Pieter van den Hoghdalem, wie ich ihn nennen will, nach langen Recherchen entdeckt haben. »Der grüne Affe« heiße das »Mexico-City« in Wahrheit, teilte Pieter den beiden mit. Kein Zweifel, die Kneipe aus dem Roman, für den Camus den Nobelpreis erhielt, er habe sie gefunden.

So hat es begonnen in der Erinnerung meines Großonkels, eigentlich aber damit, dass er mit dem goldenen VW Scirocco, den seine Frau damals besaß, nach Holland fuhr. »Heute Nacht gibt es Nebel auf der Zuidersee« lautet sein Lieblingssatz aus »Der Fall«, weshalb sich mein Großonkel auf der Autobahn vornahm, nicht allzu lang bei den van den Hoghdalems in Hilversum zu bleiben, sondern es sich endlich anzusehen, das IJsselmeer bei Nacht, wenn der Nebel herankroch und man allein am Ufer stand.

Der Freund aber platzte vor Stolz, ja, wenn es stimmt, was mein Großonkel erzählt, dann führte Pieter sich auf wie Jean-Baptiste Clamence persönlich, als sie im »Grünen Affen« saßen und die Details verglichen. Und er musste es zugeben: Pieter hatte Recht. Sie bestellten ein Bier nach dem anderen, kippten Bessen-Genever dazu bis nach Mitternacht, als sich mein Großonkel über ein Mäuerchen hinweg in die Gracht erbrach, eine Brüstung, sagt er gern, deren kalten Stein er so deutlich an den Händen fühle, als habe er sich erst gestern und nicht in einer Nacht vor Jahrzehnten daran festgeklammert. Kräftig, massig sei er schon damals gewesen, aber doch noch flink und wendig, mit einem Körper, der ihm gehorchte und den er als den seinen empfand, selbst wenn er doppelt sah und die ganze Welt schwankte. Und er erinnere sich, wie schwarz unten das Wasser gewesen sei. Kleines Glitzern auf dem Wellengekräusel. Nie habe er sich so mit Camus verbunden gefühlt: Falls Albert Camus in Holland das Kotzen gekommen sei, dann an diesem trostlosen Ufer.

Von seinem Triumph euphorisiert, schien Pieter van den Hoghdalem hingegen alles andere als betrunken. Er war genau in der richtigen Stimmung für ein Männergeständnis. Er hatte eine Geliebte, jung, eine Studentin, verheiratet, sie lebte in Amsterdam. Und Pieter schlug vor, zu ihr zu gehen, sie wohne in der Nähe, auf einen Kaffee, ehe es zurückgehe nach Hilversum zu endlosem Krach und ewiger Versöhnung. Und der Mann? Welcher Mann. Ach, der Mann! Sei im Ausland, weit weg, am Golf von Jemen, ein Ingenieur. Er baue eine Meerwasserentsalzungsanlage.

In seiner Erinnerung ähnelt meine Mutter in so manchem der jungen Frau, in deren Flur er in jener Nacht stand. Ohne meine Mutter hätte er diese hübsche, übermüdete junge Dame, die Pieter und er aus dem Bett klingelten, wahrscheinlich zur Gänze so vergessen, wie er ihren Namen vergessen hatte. Barfuß, im Pyjama, stand sie bibbernd an der Fahrstuhltür, die direkt in die Wohnung mündete. Pieter küsste sie auf die Wange, und sie führte die beiden Männer in ein ganz und gar weißes Wohnzimmer, wo es sich jeder auf einem eigenen Sofa hätte bequem machen können. Stattdessen nahmen Pieter und er auf Barhockern Platz, am Tresen der Pantry, wo die junge Frau in eine Decke gehüllt den Espresso für sie aufbrühte und darauf bestand, dass sie Französisch sprachen, keiner sollte sich ausgeschlossen fühlen. Er fragte sie nach ihrem Studium, und sie, Kunststudentin, fragte ihn nach Hamburg, ob er die dort aufbewahrten Blumenzeichnungen Runges kenne, die »Lichtlilie«, die »Konstruierte Kornblume«.

Das Französisch meines Großonkels ist beeindruckend, selbst für einen, zumindest damals, europaweit angesehenen Camus-Kenner. Trotz seines Alkoholpegels erzählte er mühelos von der Hamburger Kunsthalle und ihrem Kupferstichkabinett, fast das gesamte Runge’sche Œuvre sei ja in der Hansestadt zu sehen. Und auch sie schien Eindruck machen zu wollen, schenkte den Kaffee ein, lehnte sich an Pieter an und meinte, wie schade es sei, dass Runges großes Gemälde »Wir drei« 1931 beim Brand des Münchener Glaspalastes vernichtet worden sei, ob er Reproduktionen des Bildes kenne.

Er verneinte. Sollte sie ihren vermeintlichen Wissensvorsprung auskosten. Und sie erzählte, was auf dem Dreierporträt zu sehen gewesen sei, nämlich Runge, seine Frau Pauline und sein Bruder Daniel in, wie sie in seiner Erinnerung sagte, trauter Verbundenheit. Mein Großonkel kannte das Bild sehr genau, so genau, sagte er zu mir, wie man ein Bild, das es nicht mehr gab, zu kennen in der Lage sei. Und deshalb verstörte ihn dieses Gespräch auch, eine Irritation, die nur zum Teil seinem Rausch geschuldet sein konnte, die vielmehr mit dem Bild selbst zusammenhing. Denn so oft er sich Reproduktionen von Runges »Wir drei« angesehen habe, nie sei es ihm in den Sinn gekommen, das in Flammen aufgegangene Gemälde als Darstellung trauter Verbundenheit eines Malers mit seiner Frau und seinem Bruder zu interpretieren. Sie war eine Studentin, sie lernte noch.

Groß ist die Verlockung, an dieser Stelle eine Abbildung von Philipp Otto Runges Gemälde einzufügen, so wie es vielleicht W. G. Sebald gemacht hätte. Er ist ein Lieblingsautor und war bis zu seinem Unfalltod beinahe zwanzig Jahre lang gelegentlicher Briefpartner meiner Großtante. Auf einer Reise nach Laugharne in Wales, einer literarischen Pilgerfahrt zum Haus von Dylan Thomas, hatte sie Anfang der achtziger Jahre bei der Besichtigung eines Herrenhausparks in Norfolk Sebald kennen gelernt. Dessen Buch »Die Ringe des Saturn« beschreibt ausführlich unter anderem ein Gemälde, das, wie wiederum meiner Großtante auffiel, gleichfalls eine Szene darstellt, die in Amsterdam spielt, wenn auch runde dreihundertfünfzig Jahre vor der nächtlichen Odyssee meines Großonkels, nämlich Rembrandts Bild »Die Anatomiestunde des Dr. Nicolaes Tulp«. Lange war es mir nicht einsichtig, warum Sebald seine verblüffenden Ausführungen über die von Rembrandt dargestellte Obduktion des wegen Diebstahl gehenkten Stadtgauners Aris Kindt mit gleich zwei notgedrungen miserablen Schwarzweiß-Reproduktionen des Gemäldes hat illustrieren müssen. Ich fand, die Beschreibung jenes frivolen Denkerbanketts im Theatrum anatomicum, an dem auch René Descartes teilgenommen haben soll, gewann durch Bebilderung nichts, im Gegenteil.

Erst meine Großtante machte mich darauf aufmerksam, dass sich, ganz wie die ja tatsächlich ringartig angeordneten Kapitel von Sebalds Buch, auch die zahlreichen Abbildungen darin aufeinander beziehen. Man habe es zum einen mit einem Ring aus Texten, zum anderen aber mit einem Bilderreigen zu tun. Beide zusammengenommen würden auf der formalen Ebene von Sebalds Buch erst jene titelgebenden Ringe bilden – ein Verfahren, schrieb sie mir kürzlich als Anmerkung zu diesen Zeilen, das im übrigen keineswegs eine Erfindung W.G. Sebalds sei. Vielmehr stelle sich das Verfahren selbst in den Reigen einer Tradition, und wie um diese These wasserdicht zu machen, übersandte sie mir gemeinsam mit ihrem Brief auch gleich zwei Bücher, in denen, wie sie schreibt, zwar auf andere, aber durchaus verwandte Weise Text und Bild ineinandergreifen würden, André Bretons »Nadja« nämlich sowie Vladimir Nabokovs Autobiographie »Erinnerung, sprich«. Ich war nicht wenig überrascht, als ich in diesen »durchgesehenen Memoiren« Nabokovs, die ursprünglich »Schlüssige Beweise« hießen, ein Gruppenbild fand, das neben Eltern und Geschwistern des Autors auch seine Großmutter zeigt. Jene Baronin Maria von Korff, eine so hochfliegend stolze wie düster melancholische Dame, bei deren Anblick man sich wünscht, bloß nie im Clinch mit ihr zu liegen, ähnelt nämlich bedenklich meiner Großtante, und was Nabokov zu dem Foto anmerkt, könnte er genauso über sie geschrieben haben: »Meine Großmutter väterlicherseits hält in dekorativer, aber prekärer Pose meine beiden jüngeren Schwestern, die sie im wirklichen Leben niemals hielt …« Jedenfalls will ich der Versuchung widerstehen, hier eine Reproduktion von Philipp Otto Runges zerstörtem Gemälde einzufügen, auch darum, weil es von so vielen Motiven, die in der Geschichte von der Amsterdamer Erscheinung meines Großonkels eine wichtige Rolle spielen, ebensowenig ein Foto gibt, das Teil eines Rings oder Reigens sein könnte.

Daniel Runge lehnt an einem Eichbaum. Neben ihm Pauline hat die Stirn an Philipp Otto Runges Wange und den Arm um seine Schultern gelegt, Runge aber hat die Arme verschränkt, und Pauline hält Daniels Hand, hält die Hand ihres Schwagers in einer lockeren, sanften Verschränkung ihrer beider Finger. Es ist ein die Empfindungen aufwühlendes Bild nicht nur deshalb, weil es die drei Runges im Freien, in einem Garten oder Park darstellt, durch den der Wind fährt und wo es aus schweren, tiefgrauen Wolken, die darüber hinjagen, zu regnen scheint. Bei der Eiche, so kommt es einem vor, haben sie sich untergestellt, sie sind in Sicherheit. Aber nichts von Sicherheit liegt in ihren Zügen oder gar den Augen, diesen funkelnd dunklen, unwandelbar den Betrachter fixierenden, unvergesslich eindringlichen drei Augenpaaren.

2

Gemeinsam auf und ab schreitend in dem fensterlosen Zimmer im ersten Stock der Hamburger Kunsthalle, hin und her wandernd zwischen Runges »Großem Morgen«, den »Hülsenbeckschen Kindern« und den »Eltern des Künstlers«, fragte mich mein Großonkel das, was er sich in jener Nacht in Amsterdam nicht zu fragen getraut hatte: Wer, hätte er gern von der jungen Frau gewusst, als sie sich an ihren vor Lust bebenden Liebhaber schmiegte, den für sie viel zu alten, aufgeschwemmten, aufgeblähten, trinksüchtigen Pieter van den Hoghdalem, in dessen auch ins Deutsche übersetzter Camus-Biographie kein einziger Satz von Gewicht vorkam, alles abgeschrieben, alles zusammengestückelt, wer, hätte er sie nicht nur fragen können, sondern fragen müssen, sei denn der Betrachter von Runges Bild? Wer, von uns allen abgesehen, komme dafür in Frage? Wer denn, wenn nicht paradoxerweise einzig Philipp Otto Runge selbst.

Stattdessen hatten sie Konversation gemacht. Pieter wusste alles über die deutsche Romantik, so wie er alles wusste über Watteau, Vermeer, van Gogh, Vincent, wie er ihn nannte, so als würde van Goghs Signatur ihn ins Recht setzen, den Maler zu rufen wie ein alter Bekannter oder sein wundersam zum Leben erweckter Bruder, Theo van Gogh, wiedergeboren als Pieter van den Hoghdalem, 1984 Reden schwingend in Amsterdam. Die Natur und ihre Landschaft, der Mensch und seine Gefühle, der Künstler und die Gesellschaft, der Gläubige und die Religion – Vincent, sagte Pieter lallend, Vincent habe der modernen Malerei das Äußerste abverlangt. Alle Malerei nach Vincent trete auf der Stelle, sei ein verzweifelter, ratloser, vergeblicher, zum Scheitern verurteilter, selbstzerstörerischer Aufguss von Vincents Kunst.

Mein Großonkel hat seinen Freund Pieter nach diesem nächtlichen Absturz nicht wiedergesehen. Jahrelang, erzählt er, hielt sich in ihm eine so tiefe Abscheu vor dem Mann, dass er selber oft vor Grauen gelähmt war. So dass seine Frau, solange sie es noch war, ihn verleugnen musste, wenn der arme Pieter anrief, um doch endlich bitte zu erfahren, was los sei. Der arme Pieter bitte um eine Audienz, er solle nicht so sein und rangehen, sagte sie dann, aber er, nein, er trug sein Kreuz, müde winkte er ab, und irgendwann hörten die Anrufe auf.

Verstörend, darin sind mein Großonkel und ich uns von Anfang an einig gewesen, verstörend ist das Gemälde »Wir drei« vor allem deshalb, weil sich Philipp Otto Runge zugleich in das Bild hinein und aus ihm hinaus gemalt hat. Er berührt darauf weder seine Frau noch den Bruder. Er steht am Bildrand, verschlossen, entschlossen, und auch wenn die ihn umfangende und sich an ihn schmiegende Pauline ihren Mann zu halten versucht, so nehmen es doch Runges wild suchender Blick und Paulines Hand, die die des Schwagers hält, vorweg: Runge wird im nächsten Moment aus dem Blickfeld hinaustreten. Von Zweifeln gespalten, als mittelloser Maler für sie der rechte Mann und Vater ihrer Kinder sein zu können, wird er Pauline alleinlassen mit dem älteren Bruder, dem ehelos gebliebenen Kaufmann, seinem Förderer. Selbst größte Innigkeit, Liebe und Bruderbindung können, so versteht mein Großonkel das Bild, nicht hinwegtäuschen darüber, dass jeder für sich ist und die Möglichkeit, sich mitzuteilen, gering und von kurzer Dauer. Wenn traute Verbundenheit, dann nur in dem aufgewühlten Bewusstsein, dass sie sich nicht festhalten lässt und verlischt. Die Malerei, was überhaupt sei sie, fragt W.G. Sebald, wenn nicht eine Art von Prosekturgeschäft angesichts des schwarzen Tods und der weißen Ewigkeit. Sie drei in jener Nacht in Amsterdam, die Studentin, die ihren Mann betrog, betrog mit Pieter, der seine Frau betrog, und er, mein Großonkel, der sie in gewisser Weise beide betrog, so gespielt offen, wie er ihnen gegenüber war, verband weit weniger, als die drei auf dem verbrannten Gemälde verbunden hatte. Die Vereinzelung aber war dieselbe, sie war immer, ob nun vor zwanzig oder vor zweihundert Jahren, dieselbe gewesen, sie sei wohl, sagte mein Großonkel in der Kunsthalle zu mir, so ewig wie der Wind und die Gewitter, die hinwegfegen über Runges Garten.

Lange nach drei Uhr morgens, als sie sich wirklich auf zweien der weißen Sofas niedergelassen hatten, nutzte er die Gelegenheit und schenkte wenigstens der jungen Gastgeberin reinen Wein ein. Den Kopf auf ihrem Schoß, war Pieter eingeschlafen, während sie ihm Schläfen und Stirn massierte. Mein Großonkel gab vor, sich plötzlich an das Gemälde zu erinnern, und dann teilte er ihr sehr ausführlich seine Gedanken dazu mit. Sie hörte zu. Unmöglich, zu entscheiden, sagte er mir, ob sich die junge Frau durch seine Kenntnisse blamiert fühlte. Sie tranken, was, wisse er nicht mehr, irgendwann aber sei er wieder so blau gewesen, dass er sich sogar getraut habe, sie nach ihrem Mann zu fragen, wie lange sie ihn kenne und ob er oft unterwegs sei. Es sei nicht die erste Meerwasserentsalzungsanlage, deren Bau sie miterleben dürfe, sagte sie, und so ein Wunderwerk der Technik, das brauche schon ein halbes Jahr, bis klares frisches Wasser daraus hervorsprudele – sie lachte. Und mein Großonkel meint, er höre noch immer deutlich, wie sie sagte, seit drei Monaten sei sie nun allein, ein Drittel Kind hätte sie in dieser Zeit austragen können.

Sie schlug vor, dass Pieter und er über Nacht blieben und, wenn sie sich ausgeschlafen hätten, mit ihr gemeinsam ins Rijksmuseum gingen, dort könnten sie frühstücken. Ob Pauline wohl Runge mit dessen Bruder Daniel betrogen habe, fragte sie. Da standen sie schon auf der Treppe, die hinauf zur Galerie führte, zu Gästezimmer und Bad. Er wusste keine Antwort darauf. Die Frage, das fand auch ich, war absurd, keiner konnte sie beantworten. Und sie hatte nichts zu tun mit dem, was mein Großonkel über Runges Gemälde gesagt hatte. Auf die Hände, wie Runge sie gemalt habe, solle er einmal achten, sagte sie, die aufstrebende Linie der drei Hände in dem Gemälde, sie bilde die Verbindung zwischen Daniel, Pauline, Philipp. Aber seltsam, Pauline halte Daniels Rechte, seine Herzhand, während Runge die eigene Hand wie verkümmert dargestellt habe, mit einem gekrümmten, auf sich selbst weisenden kleinen Finger. Ratlosigkeit, mein Großonkel erinnert sich deutlich an seine Ratlosigkeit in der nächtlichen Wohnung, vor deren Fensterfront das dunkle Amsterdam lag. Und was den Betrachter betreffe, sagte sie, so habe Runge das Bild ja wohl für die Eltern gemalt, sie seien seine fiktiven Betrachter. Nebeneinander standen sie auf der Galerie und sahen hinunter. Aufgebahrt auf dem Sofa, am Fuß der geschwungenen Treppe, lag der schlafende Pieter, sein wirrer blonder Haarschopf, sein rotes Gesicht.

Dann sei der Moment gekommen. Noch seien die Wogen der Schwermut nicht durch ihn hindurchgerollt, sagt er bitter, wenn er sich an den Augenblick in dem fremden Badezimmer erinnert, noch sei er nicht wie die Jahre darauf ein Korsar auf dem salzigen Meer der Trübsal gewesen. Vielmehr habe er sich wie ein schwankendes Floß gefühlt, an das Welle um Welle seine Übelkeit brandete, als er inmitten von Schminkzeug, Deodorant und Parfüm stand, intimsten Utensilien, die ihm gerade aufgrund ihrer Vertrautheit wildfremd erschienen. Kein interstellarer Spion auf einer völlig aus dem Ruder gelaufenen Mission hätte sich so verloren gefühlt. Irrtümlicherweise hatte man ihn materialisiert im Badezimmer eines niederländischen Ehepaars. Hinter der Tür hingen die Bademäntel dieser Menschen. Und auf dem kleinen Bord vor dem Spiegel stand der Rasierpinsel des Mannes, der im Jemen weilte, während seine hinreißende Frau sich einem drittklassigen Abschreiber hingab, ein Rasierpinsel, wie auch mein Großonkel einen besaß, weil es davon Millionen auf dem Planeten gab, mit einem Knauf aus Elfenbeinimitat, mit hellen, von einem dunkleren Band gezeichneten Borsten. Er nahm ihn und hielt ihn sich dicht vor die Augen. Und um sicherzugehen, dass stimmte, was er sah, presste er sich das Ding an die Wange, ans Kinn, auf den Mund, die Empfindung blieb dieselbe, so sturzbetrunken er war, er täuschte sich nicht, der Rasierpinsel war nass.

Seifenschaum war daran. Der Pinsel war erst vor kur

Was in den nächsten Stunden mit ihm passierte, veränderte für meinen Großonkel alles, sein Leben und die Welt, wie er sie gekannt hatte. Er wartete, bis es in der Wohnung still war. Dann schlüpfte er in den Fahrstuhl und verließ das Haus. Über der Stadt wurde es hell. Er lief zum Bahnhof. Er nahm den ersten Zug nach Hilversum, dort ein Taxi zu seinem Wagen, geparkt vorm Haus der van den Hoghdalems. Die Fenster waren dunkel, Pieters Frau schlief noch oder war gar nicht da.

An diesem Morgen nach der Amsterdamer Epiphanie beschloss er, sich dennoch seinen Herzenswunsch zu erfüllen. Er stellte den Scirocco auf einem Parkplatz ab und ging durch die Dünen zum Wasser hinunter. Es war noch nicht Mittag, als ihn allmählich die Kraft verließ und er so müde wurde, dass er sich in einem windgeschützten Winkel in den Sand legte. Dort drehte er sich auf die Seite und sah dann noch so lange auf die graue Zuidersee, bis ihm die Augen zufielen.

Die bittersüße Pein, nie habe man sie satt, sagt William Hazlitt, der scharfzüngige Chronist der englischen Restauration, dessen Vorfahren Niederländer mit Namen Haesluyt gewesen sein sollen. Mein Großonkel erzählt, bevor er in den Dünen am IJsselmeer eingeschlafen sei, habe er über einen Ausspruch von Hazlitt nachgedacht: »Ein Quäntchen zuviel, und aus Liebe wird Gleichgültigkeit oder Abscheu. Hass allein ist unvergänglich.« Pieter und er im »Grünen Affen« beim Bessen-Genever, und die Amsterdamer Gracht, in die er sich erbrach, und barfuß, im Pyjama, die Studentin, wie sie bibbernd an der Fahrstuhltür stand, und ihr auf Französisch geführter Smalltalk über das Wunderwerk Meerwasserentsalzungsanlage, und wie sie lachte, und wie sie sagte, ein Drittel Kind hätte sie bereits austragen können, die Galerie, und am Fuß der geschwungenen Treppe der Schlafende, sein Haarschopf, die vertrauten Dinge in dem fremden Badezimmer, an der Tür die Bademäntel, und der Rasierpinsel eines Fremden, der sein eigener hätte sein können, sein Irren durch die morgendliche Stadt, und die Zugfahrt, der goldene Wagen seiner Frau, und die Zuidersee, die er endlich sah, so müde, wie mein Großonkel meint, so müde wie nie zuvor in seinem Leben, alles das und auch die Gleichgültigkeit und Abscheu, von der Hazlitt spricht, lagen für ihn im Blick jener Drei auf dem Gemälde, im Blick von Pauline, Daniel und Philipp Otto Runge.

Ich stelle mir vor, wie er aufsah von dem Bild, allein hinter seinen Büchern, Katalogen, Fotobänden, Atlanten und alten Zeitungen an dem Nachmittag, als meine Großtante im Glauben nach Berlin reiste, sie könne sich mit ihm aussöhnen. Drüben gingen vielleicht die Gärtner über den Rasen, sonnengegerbte Greise mit hellen karierten Hemden, die ihnen hinten aus der Hose hingen. Sie trieben Späße miteinander. Wie immer, wenn es auf Feierabend ging, knufften sie einander, streckten einander die Zunge heraus und ähnelten so noch mehr alten und weisen Jungs, kaum älter, als ich damals war, die zwar in knochigen, von Falten bedeckten Körpern steckten, aber gewitzt waren und geschmeidig, sobald sie sich unbeobachtet glaubten. Verglichen mit ihnen, kam er sich hinter seinen Bücherpalisaden immer wie ein Fleischberg vor, unfähig, sich aus eigener Kraft anders zu bewegen als eine der riesigen Nacktschnecken, die ich ihm manchmal mitbrachte aus dem wilden Garten. Eine halbe Stunde brauchte er an einem guten Tag für den Weg vom Fenstersessel nach hinten durch den Flur ins Bad, drei Stunden war sein Rekord, von denen er allerdings zwei rücklings auf den Fliesen vor der Badewanne liegend zugebracht hatte, ehe meine Mutter ihn dort fand, einen Nachbarn rief und die beiden ihn zurück auf die Beine hievten.

Kräftig, massig, aber doch noch flink und wendig, mit einem Körper, der ihm gehorchte und den er als den seinen empfand, selbst wenn er doppelt sah und die ganze Welt schwankte, so hatte er noch auf dem verlassenen Parkplatz an der Zuidersee den Volkswagen meiner Großtante zerlegt. Beweise für ihren Liebhaber fand er keine, aber doch Spuren, Hinweise auf ein Parallelleben, zerknüllte holländische Parkscheine aus einer Kleinstadt nahe der Grenze, dutzende Male musste sie dort gewesen sein. Im Kofferraum lag eine Wolldecke, Tannenreiser klebten daran, hellgrün, biegsam, noch voller Saft.

Ein geheimes, anderes Leben zu haben, schöner und reicher als Augenschein und Alltag, das ist es, was Titus Andronicus in seiner gepeinigten Fantasie selbst einer Stubenfliege zugesteht. Da konnte man der eigenen Frau nicht dasselbe zugestehen? Nein. Nein! Eine Fliege log nicht. Sie flog durch die Gegend, fraß, paarte und putzte sich. Es hing vom Betrachter ab, ob er sich daran erfreuen konnte, dass eine Fliege offenbar auch etwas wie Freizeit hatte, in der sie sich auf einer Fensterbank in einem Treppenhaus sonnte. Seine Frau hatte ihn hintergangen, wenn nicht betrogen. Sie hatte seine Gutgläubigkeit so lange ausgenutzt, wie sie von Vorteil für sie gewesen war – leere Worte. Nichts drückten sie aus von seiner Enttäuschung, seinem Unwertgefühl.

Mit Camus hatte das für ihn nur am Rande zu tun. Für meinen Großonkel war es unerheblich, ob ihre gemeinsame Camus-Biographie nicht zustande gekommen war, weil sich seine Frau irgendwann entschloss, die Arbeit ihres holländischen Freundes an dessen eigener Camus-Biographie mit vertraulichen Informationen zu unterstützen. Bei Runge, Hazlitt oder Nietzsche dagegen fand er die Schlüssel zu seinem Unglück – auf einem verbrannten Gemälde, in vergilbten Büchern. Erst kürzlich zeigte er mir die Oxford-Ausgabe mit dem extradünnen Papier. Und wirklich, »Der Sturm« kommt darin nicht vor, das Stück ist eliminiert, als hätte Shakespeare es nie geschrieben. Genauso fehlen einige Seiten von »Titus Andronicus«, die nämlich habe er doch noch herausgetrennt an dem Tag, als meine Großtante nach Pankow kam. Zerknüllt, sich in den Mund gestopft und hinuntergeschluckt habe er die Blätter – er habe die ganze Fliegenszene aufgegessen.

»Harmlose arme Fliege«, sagt Titus dort zu Marcus, »die mit dem hübschen summenden Gesang herkam, uns zu erheitern – und du tötest sie.«