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Inhalt

[Cover]

Titel

Widmung

Erster Teil
DER HÖLZERNE FISCH

1
Gummistiefel und Schokolade

2
Emyr, Gwendolyn, Dafydd und Regyn

3
Postlagernd Recalada

4
Ennid und das Äffchen

5
Schiffbruch

6
Im Gewimmel der Geschützrohrmatrosen

7
Heizerhände

8
»Wie geht es Ihnen, Mister Blackboro?«

9
Käpt’n Scotts Wolldecke

10
Shackleton

11
Vorstellungsgespräche

12
»Kormorane, hoiho!«

Zweiter Teil
DIE AUSGELASSENE KÜSTE

1
Grytviken

2
»Woher das Schwein?«

3
Der Ausflug

4
Ein junger Held

5
Der Jonas-Orden

6
Die Bibliothek

7
Skipperliebling

8
Die Predigt

9
Cook oder:
Wo wir sind, wissen wir nicht genau

10
Im Eis

Dritter Teil
DIE GEFRORENEN BÜCHER

1
»Wir brauchen einen Spalt!«

2
Ein Fahrrad, ein Klavier und ein Ballon

3
Das Gewicht des Lebens spüren

4
Die antarktische Uhr

5
Maschinistenwache

6
Feindschaften

7
Das zitternde Wrack

8
Ein Berg aus Habseligkeiten

9
Die brennende Puppe

10
28 Fische für das Lager der Geduld

11
Weißer Fleck im Schnee

Vierter Teil
DIE NAMENLOSEN BERGE

1
Drei Boote

2
Der Handschuh

3
Auf dem schwarzen Strand

4
Anweisungen für die Zeit der Abwesenheit

5
Woge

6
Der unsichtbare Vierte

7
Gespenster

Fünfter Teil
DIE FLIEGENDE ENNID

1
Zwischen Ebbw und Usk

2
Sag willkommen, und winke zum Abschied

Mitglieder der Imperial …

Figuren und Ereignisse …

Impressum

Kurzbeschreibung

Autorenporträt

[Leseprobe – Lichter als der Tag]

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Für Julika

Wer ist der Dritte, der immer neben dir geht?
Wenn ich zähle, bekomm ich nur dich und mich zusammen

T.S. Eliot

Erster Teil
DER HÖLZERNE FISCH

Gummistiefel und Schokolade
Emyr, Gwendolyn, Dafydd und Regyn
Postlagernd Recalada – Ennid und das Äffchen
Schiffbruch – Im Gewimmel der
Geschützrohrmatrosen – Heizerhände
»Wie geht es Ihnen, Mister Blackboro?«
Käpt’n Scotts Wolldecke – Shackleton
Vorstellungsgespräche – »Kormorane, hoiho!«

1
Gummistiefel und Schokolade

Ein zartes Schaukeln seines Gerippes, ein Knacken seiner hölzernen Knöchel, dann einmal gegen die Pier gerumst, damit jetzt keiner mehr eindöst … so vertreibt sich das Schiff die Zeit.

Es wartet darauf, dass es ablegen kann.

Und Recht hat es mit seiner Ungeduld. Worauf warten wir denn?

»Es geht los«, hat Bakewell gesagt. Aber es passiert nichts. Seit Stunden dasselbe, Schaukeln im Dunkel. Völlig gleich, ob ich die Augen auf oder zu habe. Es ist duster wie nachts in einem schwarzen Zelt.

Mensch, schmeckt das Wasser herrlich.

»Hier, musst was trinken«, hat er gesagt und mir die Pulle in den Schrank gereicht. Im Türspalt sein verrußtes Gesicht.

»Und, Kleiner, alles klar? Tu mir bloß einen Gefallen: Wenn du Hunger hast, iss nicht meine Gummistiefel. Iss die von McLeod.«

»Ho ho, Bakewell, sehr lustig, ho ho.« Schon nuckelte ich an der Flasche.

»Na komm, es geht ja los jetzt. Wir beide, was!«

Der Sage nach hat einmal König Artus in meinem Heimatdorf übernachtet – keine Ahnung, ob in einem Schrank, einem Zelt oder im Gasthof »Zur schütteren Linde« an der Landstraße nach Mynyddislwyn. So oder so ist das lange her. Und Pillgwenlly, Wales, ist weit weit weg. Heute ist einer der letzten Tage im Oktober 1914, und ich verlasse Buenos Aires. Ich fahre auf der britischen Barkantine ENDURANCE. Bin ein blinder Passagier.

Drei ihrer Matrosen haben mich auf die ENDURANCE geschmuggelt und in einem Spind für Ölzeug versteckt. Die Missetäter sind Bakewell, mit dem ich auf der USS JOHN LONDON herüberkam, How, den sie Hownow nennen, sowie McLeod, der schon auf der TERRA NOVA von Kapitän Scott Richtung Südpol gefahren ist. Nach dem Städtchen, in dem er geboren wurde, wird McLeod Stornoway gerufen. Und Stornoway dürfte kaum bekannter sein als Pillgwenlly, doch hält McLeod viel auf seine Herkunft, und wenn es nach ihm ginge, würde wohl die ganze Welt wissen, wo Stornoway liegt: »Auf den Hebrrriden!«

McLeod, How und Bakewell gehören zu den 27 Männern der Imperial Trans-Antarctic Expedition von Sir Ernest Shackleton. Wenn sie es denn schafft, loszukommen, wird die ENDURANCE Kurs auf die Antarktis nehmen, die erstmals zu Fuß durchquert werden soll.

Wie es aussieht, habe ich vor, ihr 28. Mann zu werden. Und meine Chancen stehen nicht schlecht: Hat die ENDURANCE erst das Feuerschiff bei Recalada passiert, geht sie auf offene See. Über Bord wird der Sir mich nicht werfen lassen, und ob ich als der siebzigste Schlittenhund ende, wie Stornoway in seinem Suff gestern Nacht vorhergesagt hat, wird sich zeigen.

Ein Bullauge müsste der Schrank haben, und unter dem Fenster am besten gleich auch ein Bett. Ich bräuchte nur den Kopf zu heben, und schon läge ich in der silbernen Sonne überm Rio de la Plata. Blitzsauber funkelt die neue Schwebefähre. Es gibt ein besonders langes Hörner- und Trötenkonzert, weil es nicht alle Tage passiert, dass ein britischer Nationalheld unter der Transporterbrücke hindurchfährt. Hunderte von Porteños, Leute aus den Vierteln am Hafen, dürften auf der Pier stehen und Shackletons Walnuss zum Abschied viel Glück wünschen.

»Heilige Seeschlange, riecht es hier drin nach Gummi!«, hat Bakewell gesagt. Ausgerechnet den Ölzeugspind mussten die drei Teerjacken für mich ausgucken, und sie selbst lassen sich oben zwischen den kläffenden Hunden die Sonne aufs Gesicht brennen. Leb wohl, Argentinien!

Auf den Dächern der dottergelben Kontorhäuser von La Boca heulen die Sirenen. Tröten von allen Seiten. Nicht mehr lang, und der Schlepper wird die ENDURANCE freigeben. Gut geraten! Schon johlen sie, jetzt ist sie los! Und ich piepse mit. Heiho! Es geht ins Eis, ins weiße, weiße Eis!

Wir schauen uns den Beardmore-Gletscher an, und wir bestaunen Mount Erebus und Mount Terror, die beiden Eiffeltürme der Antarktis … Mit ein bisschen Glück entdecken wir den Blackboro-Pinguin oder sind die Ersten, die an der unbekannten Schelfeiskante stehen … Pillgwenlly-Land.

Ho ho, ho ho. Wenn schon, denn schon.

So sieht es aus! Was könnte ich nicht alles erzählen, wäre ich nicht so mutterseelenallein. Ich bin ein junger Mann aus einem Nest bei Newport. Bin ein Kind meiner Mutter. Nicht auszudenken! Doch, doch, ein Kind seiner Mutter zu sein ist in Zeiten des großen Krieges etwas Besonderes. In keinem unserer Feindländer bin ich je gewesen, aber ich kenne russische und deutsche Matrosen. Von Großbritannien kenne ich nur Wales und von Wales bloß ein Stück. Um genau zu sein, kenne ich Newport und die südlichen Dörfer zwischen dem Usk und dem Ebbw. Im Usk tummeln sich die größten Forellen von Wales. Ich bin sicher, dass auch König Artus das wusste.

Ich habe einen älteren Bruder, Dafydd, und eine Schwester, Regyn; ihr Mann Herman ist Vorsteher in der ältesten Fabrik von Wales, die ohne zu übertreiben von sich behaupten kann, zugleich die älteste Fabrik der Welt zu sein. In Wales stand die Wiege der industriellen Revolution, aber auch das ist lange her. Mein Schwager Herman und mein Bruder Dafydd gingen am Tag der Generalmobilmachung zum Bahnhof und fuhren zur neuen Fliegerkaserne von Merthyr Tydfil.

How erzählt, die ENDURANCE lag am selben Tag in der Themsemündung vor Anker und wartete auf den königlichen Bescheid, ob die Expedition trotz des Kriegsausbruchs stattfinden solle. Jetzt johlen sie, meine Motorschlittenkameraden, weil es ins weiße Land geht. Und mit »Hurra, hurra!« werden sie den Union Jack aufpflanzen. Aber hätte König Georg nicht bloß sein eines majestätisches Wort telegraphiert – »Go« –, sondern zwei weitere drangehängt: »to War« …, sie hätten alle gehorcht und wären in die Kanonenboote und Schützengräben gestiegen: der Sir und sein Vertreter Wild, Käpt’n Worsley und die beiden Ärzte Macklin und McIlroy, die Forscher, der Maler und der Fotograf, McNeish der Zimmermann, Green der Koch, die beiden Heizer genauso wie Vincent der Bootsmann und alle seine Matrosen. Bloß Bakewell hätte sich an die Mütze getippt und ahoi gesagt: »Nichts für mich. Bin ein Yankee ohne Heimat, und Krieg ist nur wichtig für Leute mit Heimat.«

Recht hast du, Bakie! Und weißt du was? Dass es Wichtigeres gibt, als möglichst viele Deutsche und Russen zu erschießen, das hat auch der König erkannt und nichts anderes hat er gemeint mit seinem »Go«. Der König will, dass wir etwas aus unserem Leben machen. Er will, dass wir die Ersten sind, die die Antarktis von Weddellmeer bis Rossmeer zu Fuß durchqueren. Noch unseren Urenkeln sollen wir erzählen können, wie wir es geschafft haben. Und weil das alles zu viel ist, um es in ein Telegramm zu schreiben, hat der König nur dieses eine aufmunternde Wort schreiben lassen.

Go! Get all the canvas set, boys!

Georg V., König von England, ist ein so vernünftiger Mann wie mein Freund Bakewell aus Joliet, Illinois.

Was an Leinwand da ist, hinauf damit an die Rahen.

Der Sir und der Skipper schreiten an Deck die Reihen der Zwinger ab. Orde-Lees prüft die Zurringe der Schlitten, die keine Zughunde brauchen, weil sie motorbetrieben sind, made in Wales. Am Schanzkleid steht Hurley und filmt. Und hoch oben an einer Rahnock tanzen Bakie, Hownow und Stornoway Tango mit den ersten langbeinigen Böen von Kap Hoorn.

Auf in den Süden des Südens. Zweieinhalb Jahre ist es her, dass Scott, Wilson und Bowers auf dem Rückmarsch vom Pol erfroren sind. Jede Stufe der Tragödie, seit Amundsen ihnen zuvorgekommen war, hat Kapitän Scott in seinem Tagebuch festgehalten, nächtelang hat mein Bruder mir daraus vorgelesen und haben wir uns auszumalen versucht, wie es gewesen sein muss in dem kleinen Zelt inmitten dieses zehn Tage lang brüllenden Blizzards.

Antarktika, Antarktika.

Ich kauere hier seit einer Nacht und einem halben Tag und futtere nichts als Schokolade.

2
Emyr, Gwendolyn, Dafydd und Regyn

Ich weiß noch, welches Gesicht meine Mutter machte, als mein Bruder und mein Schwager aus Merthyr Tydfil schrieben: »Mom, sie haben uns hier tatsächlich zum Hangartrupp abkommandiert. Es ist fantastisch. Wir kommen zurück, wenn das Problem der Propellerbewaffnung gelöst ist.«

Mom wusste bis dahin nicht einmal genau, was ein Flugzeug ist.

Für mich bedeutete die ungelöste Propellerbewaffnung, dass ich eine Arbeit annehmen musste, um für die Familie mitzuverdienen. In der Woche nach der Generalmobilmachung begann ich in der Werft zu arbeiten, in der mein Vater seit vierzig Jahren Schiffe baut. Er ist Innenausstatter; besonders der Kunstfertigkeit seiner Täfelungen wegen ist mein Vater Emyr Blackboro in den Häfen am Usk und Severn ein gefragter, wenn nicht berühmter Mann. Meinen muffigen Ölzeugspind könnte er in Tagesfrist in eine reich verzierte Kammer verwandeln. Sie wäre zwar noch genauso unbequem und finster, doch ich bin mir sicher, es würde hier so duften wie nach einem Sommerregen im Obstgarten unseres alten Kontormeisters Simms.

In den Newporter Alexandra Docks übernahm ich eine Reihe kleinerer Jobs: Botengänge, Flick- und Malerarbeiten. Nach Schichtende mischte ich mich unter die Seeleute, die Pfeife rauchend am Wasser saßen und von den Häfen erzählten, in denen sie gewesen waren. Nie nahm einer der Matrosen Notiz von mir. Ich hockte auf dem Berg Kabeltau, den ich seit dem frühen Morgen gespleißt hatte, und merkte, wie ich Stück für Stück immer weiter in mich zusammensank. Ich war so müde wie Checker, der Hund, der durch den Ärmelkanal schwamm.

Die Augen fielen mir zu und die Ohren, so kam es mir vor, auch. Mit einem halben Ohr hörte ich noch, wie sie über die Häuser redeten, die sie in New York besuchen wollten: dass amerikanische Freunde von ihnen versprochen hätten, auf dem Hoboken-Kai zu sein, wenn der Pott in Manhattan anlegte, um sie mitsamt ihren Seekisten geradewegs zum Times Square mitzunehmen, wo die feinen Freunde angeblich wohnten. Der »Froschteich« war ihnen herzlich gleichgültig. Es schien sie nicht im mindesten zu interessieren, dass sie zuvor den Atlantik von Newport nach New York überqueren mussten. Tausende Kilometer schäumenden Ozeans, in dem neben einem ganzen Haufen anderer Unwägbarkeiten auch die Unterseebootflotte des deutschen Kaisers auf der Lauer lag, waren für sie nicht der Rede wert.

Den meisten Matrosen, die ich kennen gelernt habe, scheint das Meer nichts zu bedeuten. Sie tun gerade so, als sei es gar nicht da. Wer will das begreifen? Ich stelle mir meinen Vater vor, der alles liebt, was aus Holz ist. Wie wäre es, wenn er so täte, als sei an einem Baum nichts Besonderes? Hier, meine kalte Plankenwand: Zwei, drei Handbreit dahinter ist nichts als Wasser. Auch im Dunkeln wüsste er sofort, aus welchem Baum sie ist. Er würde daran riechen, einmal mit der Hand darüberfahren … »Ulme, Junge, Ulme.«

Ein paar Abende an der Pier, und ich wusste nicht mehr, was ich von Seeleuten halten sollte. Nur so viel wurde mir klar: dass diese Männer, die oft nur ein paar Jahre älter waren als ich, bestimmt nicht die Sonntagsschule besucht haben konnten. Denn sie fluchten und logen, dass mir Hören und Sehen verging. Inzwischen weiß ich, dass die einzige wahre Liebe dieser gelbzähnigen Maulhelden die Liebe zur Übertreibung ist. Vor ein paar Monaten wusste ich es noch nicht, weswegen ich auch nicht merkte, dass ich schon längst angesteckt war und alles, was ich fühlte, genauso hoffnungslos übertrieb.

Mein Vater schickte mich ab und zu in die Skinner Street, um beim dortigen Schiffsausrüster Muldoon eine Rechnung zu bezahlen. So lernte ich sie kennen: Ennid.

Es dauerte Monate, so kam es mir vor, bis ich mit Ennid Muldoon ins Gespräch kam. Denn zunächst verständigten wir uns abgesehen von den üblichen Begrüßungsformeln nur über Zahlen. Wenn ich den Laden betrat, grüßte ich, wie es sich gehört. Mister Muldoon musterte mich. Ennid erwiderte meinen Gruß. Ich nannte meinen Namen, und Mister Muldoon klappte ein rot eingeschlagenes Buch auf und reichte es seiner Tochter. Ennid nahm das Buch, kam damit zu mir gehinkt – sie hat einen Gehfehler – und sagte: »97.« Ich öffnete Dads Börse und zählte die Summe ab: »97.« Ennid zählte Scheine und Münzen nach: »97!« Im nächsten Moment stand ich draußen vor dem ganz mit grünen Blechplättchen beschlagenen Haus in der Skinner Street und wusste nicht, wie mir geschehen war.

Taumelnd lief ich zum Hafen hinunter. Aber ich sah die Schiffe gar nicht. Ich war so glücklich, ich hätte den erstbesten Matrosen, der mir an der Pier entgegengeschlurft kam, auf den Mund küssen mögen. Und bestimmt hätte ich ihn wenigstens so angelächelt, wie Ennid Muldoon mich angelächelt hatte, wenn ich nicht so traurig gewesen wäre.

Dreht es sich ums Älterwerden, ums Reifen an einer schwierigen Lebenslage, pflegt mein Vater zu sagen, dass man immer derselbe sei: Alles, was sich im Laufe des Lebens verändert, ist in den Augen meines Alten Herrn die wachsende Fähigkeit, Glück oder Unglück als solches zu erkennen. Da ich in Schicksalsdingen nie etwas anderes von ihm gehört habe und er somit der lebende Beweis für seine Theorie ist, wird er schon nicht ganz falsch damit liegen. Nur half es mir wenig, wenn ich mir klar machte, dass ich derselbe war vor und nach Ausbruch des Krieges, derselbe vor und nach einem Tag Schinderei über einem zu flickenden, brettharten Segel, vor und nach Ennid Muldoon. Und mein Glück glaubte ich durchaus erkannt zu haben. Nur deshalb hatte ich ja das verwirrende Gefühl, dass mich mein Glück unglücklich machte.

Ich verstand nicht, was mit mir los war. Die beiden Menschen, die ich um Rat hätte fragen können, hatten andere Sorgen. Mein Bruder Dafydd und mein Schwager Herman bauten ein MG hinter den Propeller von Flieger-Ass William Bishop, und ich wollte nicht schuld daran sein, wenn der sich, statt einen der Richthofenbrüder vom Himmel zu holen, im Luftkampf über Paris selbst durchlöcherte, nur weil seine zwei walisischen Schnellfeuergewehringenieure nicht bei der Sache gewesen waren. Daher entschloss ich mich, Regyn nach Ennid Muldoon zu fragen. Aber ich erntete bloß schwesterliches Unverständnis.

Meine Mutter Gwendolyn riet mir, die Sache zu vergessen und meinen Vater am besten erst gar nicht zu fragen. Mein Vater behauptete später, er hätte sofort gewusst, welche Stunde es geschlagen hatte, und ich will es ihm glauben, obwohl er nie etwas sagte, wenn wir ins Wochenende gingen und am Usk entlang nach Haus ins Dorf zockelten. Ich war stumm, er war stumm, oder ich war stumm, und er pfiff eines seiner selbsterdachten Liedchen.

Eines Morgens aber sagte er auf dem Weg zum Dockkontor: »Schau heute mal in die Zeitung. Da steht alles drin. Lies sie und du weißt, was mit dir los ist.«

Er ließ die Peitsche knallen, und unser Pony Alfonso, das den Montagmorgen so verabscheut wie ich, schnaubte mürrisch und legte einen Zahn zu.

Er meinte es ernst. Wie sollte das funktionieren! Ich war verliebt in Ennid Muldoon, das wusste ich von selbst. Ich war schon einige Male verliebt gewesen, sogar das gefrorene Herz meiner Schwester hatte ich mir warm gebetet. Und ein väterlicher Rat ist immer gut gemeint, man soll ihn nicht einfach in den Wind schlagen.

Nach Feierabend kaufte ich mir den South Wales Echo und verzog mich mit dem zusammengerollten Orakel in die nach Leim duftende Back eines Dampfers, der soeben auf den schönen Namen SAINT-CHRISTOLY getauft worden war.

Und ich überflog die Schlagzeilen:

USA drängen auf Anerkennung der Londoner Seerechtsdeklaration durch die Krieg führenden Mächte

Skandinavische Staaten wollen strikte Neutralität wahren

Japan fordert Aufgabe des kaiserdeutschen Stützpunktes Tsingtao in China

Der Vormarsch des Krieges war in aller Munde. Die Meldungen in der Abendzeitung vertieften bloß die Informationen, die man im Laufe des Tages überall im Hafen zu hören bekam. Doch je mehr Meldungen ich las, desto mehr hatte ich das Gefühl, dass sie genauso mich betrafen, wenn auch auf eine Weise, mit der ich nicht gerechnet hatte.

Einige Artikel las ich immer wieder. Und als ich dann noch einmal die Schlagzeilen überflog, passierte, was Dad vorausgesagt hatte:

USA drängen auf Anerkennung der Londoner Seerechtsdeklaration durch die Krieg führenden Mächte

Skandinavische Staaten wollen strikte Neutralität wahren

Der junge Merce Blackboro aus Newport will Seemann werden

Im Leimgeruch der SAINT-CHRISTOLY wusste ich mit einem Mal, dass nichts anderes als die See der Grund für meine Traurigkeit war.

Ich hatte Fernweh, verzehrte mich vor Sehnsucht, wegzukommen, weg aus Pillgwenlly, weg von meinen Eltern und meiner Schwester, weit weg von Merthyr Tydfil mit seinen Hangars und seiner ältesten Fabrik der Welt. Alles erschien mir so alt wie die Sage von König Artus, so alt wie das Gälisch, das wir sprachen, sobald wir unter uns waren, alt wie die Kelten, die so alt waren wie Moses, der ausgesetzt wurde im Schilf am Ufer des Wassers, yn yr hesg ar fin yr afon.

Ich wollte weg, dorthin, wo alles neu für mich wäre. So wie die Meldungen des South Wales Echo nur ein einziges Thema kannten, den Krieg, der um die Welt lief, so verhieß mir jede seiner Schlagzeilen eine Möglichkeit, die Welt kennen zu lernen, bevor es zu spät war … bevor ich mein Glück machte mit Ennid Muldoon und der Kunstfertigkeit meiner eigenen Täfelung.

Ich will meinem Vater nicht unterstellen, dass er sich wünschte, ich würde zur Kriegsmarine gehen. Ich selbst wünschte nur, er hätte offen mit mir geredet, etwa über seine Enttäuschung darüber, dass es Dafydd, statt zur See zu fahren wie alle guten Waliser, den Franzosen nachmachte und an Flugmaschinen herumschraubte. In Dads Augen ist ein Aeroplan bloß zu einem gut, nämlich dazu, in den Kanal zu stürzen. Fünf Jahre ist es her, dass die ANTOINETTE von Calais nach Dover flog, und noch immer ist Blériot für meinen Vater ein gottloser Schwindler. Hätten wir zur Abwechslung einmal über meine Zukunft gesprochen, ich hätte ihm gesagt, dass Panzerschiffe zwar Matrosen benötigen, die mit ihnen untergehen, dass sie jedoch keine Täfelung benötigen, und sei sie auch so schön anzusehen wie die von Emyr Blackboro.

Aber vor allem hätte ich gern über Ennid mit ihm geredet. Ganz besonders eines Nachmittags, als wir die Droschke im Kontorhof stehen ließen und am Usk entlang zu Fuß nach Hause gingen, vorbei an den von Glockenblumen blauen Weiden, an der Sägemühle und über das Brückchen, wo der Ebbw in den Usk fließt. Dort blieben wir stehen und schauten zu den Goldkringeln um die Kiesel im Wasser hinunter.

»Da! Gesehen? Eine ganz dicke.«

Er zeigte auf die Forelle, die er erspäht hatte. Unbeweglich stand sie mit dem Kopf zur Strömung im Schatten der Brombeersträucher, sie hatte rote und schwarze, hell umrandete Tüpfel. Ein einziger Schlag seiner Schwanzflosse genügte, und der Fisch, erschreckt von unseren Stimmen, verschwand unter einen Stein.

Er schrie mir nach: »Die hinkende Ennid? Das Balg dieses Juden? Kommt gar nicht in Frage. Merce, bleib stehen. Merce …! Merce …!!«

3
Postlagernd Recalada

Jeder Pott hat seine unverwechselbare Tröte, und diese hier kenne ich. So freudig tutet auf dem Rio de la Plata nur ein einziges Horn, und bezeichnenderweise ist es das letzte, bevor nur noch der Wind bläst. An der Mündung in den Atlantik liegt das Recalada-Feuerschiff.

Der Signalgruß heißt: »Pull den Mann rüber, ENDURANCE, aber pull ihn sachte. Die Nächsten sollen so viel von ihm haben wie ihr.«

Bei Recalada geht der Lotse von Bord. Ab hier hat für gewöhnlich der Skipper das Sagen, und nur der Skipper. Auf der ENDURANCE ist das anders. Hier hat Shackleton das letzte Wort.

Und still … plötzlich stampft es nicht mehr. Die Maschinen sind aus. So leicht, wie die ENDURANCE hinläuft, haben wir glatte, ruhige See. Gleich rasseln die Ketten, und der Anker fällt.

»Fier weg das Boot!«

Ein Schiff macht immer dieselben Geräusche, ob es hinausfährt oder hereinkommt. Das ist nicht weiter verwunderlich, denn ein Schiff ändert sich ja nicht, es bleibt gleich, solange seine Mannschaft es nicht zuschanden fährt. Ein Schiff kann weder über seinen Schatten springen noch kann es aus seiner Haut, und dabei spielt es keine Rolle, wie oft die überpinselt wurde. Allein im Hafen von Newport kenne ich ein Dutzend Knirpse, deren Klamotten vom Lackieren der Bordwände mit der Zeit so bunt wie eine Blumenwiese geworden sind. Alle sind sie so grün hinter den Ohren, wie ich es war. Keiner auf diesen Schaukeln, die über der Wasserlinie baumeln, ändert ein Schiff, nur weil er’s heute gelb wie die Sonne und morgen in Tarnfarben anmalt. Der Pott bleibt derselbe.

Was sich unter den Krusten und Schichten aus Farbe verwandelt, ist der Junge. Er verwandelt sich, weil er auf seiner Schaukel Zeit hat, auf dumme Gedanken zu kommen. Und nicht nur dort … egal, was man anpackt, solange es sich nur schön endlos hinzieht und dabei herrlich monoton ist, solange arbeiten die Hände von ganz allein. Man hält es nicht für möglich, welche Erkenntnisse einem in den Kopf steigen, sitzt man erst oben auf seinem zu spleißenden Berg Kabeltau. Man wird der reinste Buddha. Wahrheiten überkamen mich reihenweise. Ich erkannte die Wahrheit über meinen Schwager: Herman hatte die erstbeste Gelegenheit genutzt, um Regyn zu entfliehen. Er hatte meine Schwester satt. Ich erkannte die Wahrheit über Mister Muldoon: Indem er mir mit Geringschätzung begegnete, zeigte er zugleich seine Geringschätzung für meinen Vater, obwohl der seit vierzig Jahren sein Kunde ist. Ennids Vater verdiente eine ordentliche Abreibung. Und mein Vater? Er war anders. Er war nicht nur anders als Mister Muldoon, sondern vor allem anders als ich. Stets derselbe, stets fleißig, stets unbeirrt darauf bedacht, sein Teil zu erfüllen, ist er meiner Liebe für alle Zeit sicher. Doch wenn ich eines nicht bin, dann unbeirrt. Ich gleiche mir selbst keine zwei Tage. Auf der JOHN LONDON haben Bakewell und ich Stunden erlebt, in denen wurden wir umgekrempelt, ausgewrungen, zerteilt und neu zusammengeflickt. Fragend sahen wir einander an: »Bist du’s?« Etwas von Bakewell ist zu einem Teil von mir geworden, und umgekehrt: Ein Stück von mir steckt seither in Bakewell. Immer ist man zum Teil auch der, der vor einem steht. Und vor einem steht immer wieder ein Neuer.

Das Schiff ist nur das Schiff. Es ist weder Teil der See, auf der es schwimmt, noch gehört es zum Land, wo es gebaut wurde und wieder verschrottet wird. Es ist etwas dazwischen. Das Schiff verändert sich auch nicht durch die Behandlung einer Crew. Es fährt gut vorm Wind oder es schabt durch die Wellen wie ein Hobel über zu weiches Holz. An dem Schiff ändert das nichts: Die nächste Mannschaft hat es besser im Griff. Das Schiff bleibt immer gleich, weshalb auch die Geräusche immer gleich sind, die es macht, wenn es in den Hafen kommt und wenn es wieder in See sticht.

Die ENDURANCE lässt das Rattern und Kollern der Ketten hören. Aber weil er sich durchs Eis rammen soll, ist ihr Bug aus meterdickem Holz, so dass der Anker, wird er über Stag gelassen, dumpf gegen die Bordwand donnert, bevor er ins Wasser rauscht und auf Grund fällt. Das Rasseln der Winschen, das Herumlaufen, Herumtrampeln, die Kommandos von Worsley und das Fluchen von einem, der sich nur so zur Kraftarbeit anspornen kann, das alles und noch zig andere Geräusche, etwa mein Magenknurren, gehören dazu, wenn die ENDURANCE stoppt und vor Anker geht.

»Pull! Pull eins, pull zwei, pullpull!«

Am Recalada-Feuerschiff geht der Lotse aus Buenos Aires, Punta del Este oder Montevideo von Bord. An dem Morgen, als sie Bakewell, mich und weitere elf, die überlebt hatten, aus den am Wellenbrecher zerschmissenen Überresten der USS JOHN LONDON zogen und mit uns hierher fuhren, um den Lotsen für Montevideo zu übernehmen, da war auf dem kleinen Feuerschiff ein regelrechtes Lotsenfest im Gang.

Natürlich trinken die Männer nichts; aber sie hocken im Kreis an Deck, schmauchen ihren gelben Virginia oder schniefen den Snuff, der im Döslein die Runde macht. Stünde ich an der Reling, könnte ich sie lachen hören: Antáricanos! Wir haben Scott in freies Gewässer gezogen und Amundsen und Filchner über den Strom gelotst. Kaum ist Mawson vom Pol zurück, dampft Shackleton los. Was soll uns das Weddellmeer! Die See ist überall flüssig, auch unterm Packeis. Aber so silbern, so ist nur der Plata, er ist Gottes Silbertablett.

Wenn es dunkel wird, leuchten die beiden Türme auf Kap Antonio, und die Nachtlotsen kommen. Die übrigen steigen gemeinsam auf das letzte Schiff, das hineinfährt. Es ist ein freundliches Schiff, das feuerrote Recalada-Feuerschiff.

Wenn ein Seemann noch einen Brief nach Haus geschrieben hat, kann er ihn hier abgeben; der Lotse nimmt ihn gegen eine kleine Gebühr in den Hafen mit und verschickt ihn. Und wenn ein Seemann noch einen Brief von zu Haus geschrieben bekommen hat, kann er ihn hier abholen; der Lotse hat ihn gegen eine kleine Gebühr aus dem Hafenpostamt mitgenommen und an Bord hinterlegt, postlagernd Recalada.

Vielleicht erhält Shackleton auf diese Weise einen letzten Gruß vom Ersten Lord der Admiralität Churchill, verfasst von der duftenden Rechten seines Ministerialsekretärs. Oder Königinmutter Alexandra hat eine Note gekritzelt und erinnert zur Erbauung an die gewidmete Bibel, die sie dem Sir ins Gepäck gegeben. Stornoway bekommt Post aus Stornoway. Und Hownow erhält einen liebevoll-mahnenden Brief seiner Frau Helen, die ihm von ihrem Baby berichtet: Es ist ein Junge und heißt wie du, Walter. Bakewell geht, wie die meisten, leer aus. Abgesehen von mir, der ich erstens gerade verhindert und zweitens in seiner Nähe bin, hat er niemanden, der ihm schreiben könnte.

Als Bakewell aus Illinois davonlief, war er elf Jahre alt. Jetzt ist er 26, war Farmersgehilfe in Missouri, Kutschenlenker in Michigan und Eisenbahnbauer in Montana, bevor er als Toppgast nach Newport kam, wo ihm schließlich ich vor Müdigkeit in den Schoß kippte.

Nein, ganz bestimmt und auch wenn es ihn kaum kümmern dürfte, geht der Matrose William Lincoln Bakewell am Recalada-Feuerschiff leer aus.

Das Gleiche gilt für mich. Und dabei hätte ich doch sogar zwei Adressen anzubieten:

Merce Blackboro
Blinder Passagier
Ölzeugspind
ENDURANCE

und, für Absender, die es nicht eilig haben:

Merce Blackboro
Seemann
USS JOHN LONDON
poste restante Meeresgrund

4
Ennid und das Äffchen

Bevor ich in Newport an Bord ging, schenkte mir meine Mutter diese sturmfeste Jacke. Ich liebe sie. Ich habe den Grego seitdem nur zum Waschen und Trocknen ausgezogen. Seine Kapuze hält mir Nacken und Ohren auch in meinem Eisschrank schön warm, und weil Mom die hellblaue Joppe mit einem zweiten Futter versehen hat, kann ich auch über mangelnde Polsterung nicht klagen.

Was soll ich traurig sein über fehlende Post von daheim, wenn ich in den Abschiedsbrief meiner Eltern hineinschlüpfen kann?

Außerdem habe ich Ennid Muldoons Fisch. Ennids Glücksbringer ist immer bei mir, seit ich während einer Freiwache im Klüverbaumnetz der durch ruhige See laufenden JOHN LONDON meinem Grego eine mit Knopf verschlossene Tasche zwischen die Futter genäht habe. Darin steckt der kleine Holzfisch und hat einen Zettel im Bauch, den ich erst lesen soll, wenn mich der Mut verlässt.

Aber selbst wenn ich es wollte, könnte ich im Dunkeln nicht lesen, was er mir wohl rät, Ennids weiser Fisch, der sich durch den Stoff wie ein Tannenzapfen anfühlt.

Und ich will es auch gar nicht wissen. Ich war nur einmal drauf und dran, den Zettel zu lesen: als ich auf dem Wrack der JOHN LONDON Bakewell von Ennid erzählte. Wir trieben eine ganze Woche lang hilflos durch stürmische See, und trotzdem fand ich mich nicht sonderlich mutlos. Drum blieb der Fisch in der Tasche. Da werde ich ihn jetzt nicht herausholen.

Runde schlafen? Yes, Sir. Yesser, kleines Nickerchen. Mut, Merce! Mutig ein Bett aus Gummistiefeln gebaut. Bis zum großen Anpfiff ist noch Zeit. Erst wenn die dicke ENDURANCE auf offener See ist und Kurs Südgeorgien nimmt, gibt es für sie kein Umkehren mehr.

Jeder Tag zählt, wenn es ins Eis geht. Selbst Shackleton kann die Antarktis nicht im antarktischen Winter durchqueren. Und doch dürfte Bakewell allmählich auf eine günstige Gelegenheit aus sein, um mich aus dem Spind zu holen und vor den Skipper zu stellen. Hinaus muss ich ja doch irgendwann … soll ja hier unten nicht schwarz werden. Ganz gleich, wie gut Käpt’n Worsley gelaunt ist, weil sich die Segel bis hinauf zur Großoberbramrah im Wind blähen oder weil der Sir, der sich freut wie ein Kind, ihm den Arm um die Schultern gelegt hat – der Käpt’n wird sich kräftig die Lungen freibrüllen, wenn ich mit meinem hellblauen Grego erst vor ihm stehe und mir die Augen reibe, geblendet von so viel Licht.

Die JOHN LONDON war einer der Frachtschoner, die vor dem Krieg die Südamerikaroute befuhren. Meist Dreimaster mit Verstärkungsmaschine, beförderten die Schiffe größeres Stückgut aus Stahl und Eisen, aber auch Holz. Es waren ramponierte Kähne, die oft ins Dock gingen. Die betagte JOHN LONDON stand bei einer Kompanie mit Sitz in Swansea unter Vertrag; den Bauch voller Eisenbahnbohlen, pendelte sie seit Jahren zwischen Wales und Uruguay. Bei uns in Newport war sie schon öfter gewesen, weshalb mein Vater sie kannte; vor Jahren hatte er auf dem Vorderdeck ein neues Forecastle für die Mannschaftsquartiere gezimmert. Als die JOHN LONDON zu Anfang des Sommers an der Pier der Parks-Werft festmachte, gingen wir an Bord, um den Zustand des Forecastles in Augenschein zu nehmen und die nötigen Ausbesserungen in die Wege zu leiten.

Wir arbeiteten mehrere Wochen lang an Aufbauten und Quartieren unter Deck, die in erbarmungswürdigem Zustand waren. Während des Schleppens, Sägens, Einpassens, Schleifens, Feilens und Pinselns lernte ich so gut wie jeden Winkel auf dem Schiff kennen. Ich bemerkte überall Zeichen von Verwahrlosung. Doch unsere drei Schreiner und ich möbelten die alte Amerikanerin noch einmal so richtig auf. Und Dad schenkte ihr sogar einen Hut, mit dem sie stolz tun konnte, denn das Forecastle bekam ein neues Dach aus leuchtendem Kirschbaum.

Wir waren fast fertig, als eines Morgens auf dem sonst immer menschenleeren Schiff das Leben neu zu pulsieren begann. Matrosen und Heizer kamen an Bord. Muldoons Leute lieferten die neue Bewantung der Fock. Ein Automobil brachte den Käpt’n auf die Werft, der sich zunächst mit meinem Vater unterhielt, bevor er unter Deck verschwand. Und schließlich erschienen zwei zwar befrackte und doch nicht sonderlich elegante Herren, der eine Amerikaner, der andere von der Swanseaer Kompanie. Das Anheuern begann.

Unter den ersten Seeleuten, die aus der Back, wo die Prozedur stattfand, wieder ans Licht kamen, war einer, der sich zu mir stellte und anfing, mich über meine Arbeit auszufragen. Wir unterhielten uns eine Weile. Er erzählte, dass er für Montevideo und Rutsch zurück angeheuert habe. Und dann wollte er wissen, ohne dass ich etwas in dieser Richtung angedeutet hatte, ob ich nicht auch Lust hätte.

Vielleicht, sagte ich. Und er lachte, leise und ganz freundlich.

So habe ich Bakewell getroffen. Seither gab es keinen Tag, an dem wir nicht die Köpfe zusammengesteckt haben. Wenn ich überlege, ist es bloß dreierlei, was ich in meinem Schrank vermisse: die Seeluft, das Licht über dem Meer und Bakewell.

»Hier, ihr müsst trinken, du und dein Holzfisch!«

Ein paar Tage später sprach ich mit meinem Vater und sagte ihm, dass ich als Matrose an Bord der JOHN LONDON nach Uruguay fahren wolle. Ich rechnete ihm vor, dass meine Heuer für die drei Monate Fahrt größer sein würde als mein Verdienst für ein halbes Jahr Arbeit im Hafen. Und ich bat ihn, ja zu sagen, weil ich meinen eigenen Weg machen müsse.

Als Matrose ließen mich Käpt’n Coon und sein Bootsmann mit einem müden Lächeln abblitzen. Dieser Bootsmann, den man wie auf fast allen Schiffen, wo Englisch gesprochen wird, Bos’n nannte und der Mister Albert hieß, war ein Typ von Seemann, wie ich ihn bis dahin nicht kannte: Er hatte nichts von den bärbeißigen Schnackern an sich, die auf der Pier herumlungern und nichts Besseres im Sinn haben, als vor einer Frau mit ihrer Potenz zu prahlen oder deren sich aufplusterndem Gatten Dresche anzudrohen. Mister Albert, der Bos’n, fragte mich, ob ich wisse, was das Meer sei.

»Yesser«, sagte ich. »Es ist das Wasser zwischen den Kontinenten.«

»Verteufelt viel Wasser.«

»Sehr viel.«

»Wie gut kannst du schwimmen, Blackboro?«, fragte er und sah in sein Heft.

»Ich glaube, ich schwimme gut, Sir«, sagte ich. »Nicht so gut wie ein Fisch, aber gut.«

»Nicht so gut wie ein Fisch?«

»Nosser.«

»Und wie gut kannst du kochen?«

Einigermaßen perplex gab ich zu, dass ich überhaupt nicht kochen könne … weil ich es noch nie versucht hätte.

»Also könntest du Nachhilfe gebrauchen. Unterschreib hier, und du bist angeheuert als Küchenhilfe.«

Der Messboy verdient nur die Hälfte der Heuer eines Matrosen, so dass ich in puncto Anreize für Dad, mich fahren zu lassen, meine Felle davonschwimmen sah.

Aber dem war nicht so.

Mein Vater erklärte sich einverstanden, und meine Mutter erklärte mir, weshalb er es ruhigen Gewissens tat: Im Verlauf der Abnahme des Forecastles hatte er Käpt’n Coon beiseite genommen und angekündigt, die neuen Aufbauten der JOHN LONDON eigenhändig Stück für Stück wieder abzureißen, falls ihm Coon nicht sein Ehrenwort gab, dass unter seinem Kommando zu fahren für mich bedeute, unter seiner persönlichen Obhut zu stehen. Käpt’n Coon hatte meinem Vater diese Zusicherung gegeben.

Ich verbrachte die letzten Tage vor Auslaufen meines Schiffes in einer merkwürdigen Stimmung. Einerseits hatte ich keine Möglichkeit, an etwas anderes zu denken: Meiner Schwester traten Tränen in die Augen, sobald sie mich ansah, und meine Eltern waren schon deshalb in heller Aufregung, weil sich die Nachricht, dass ihr Sohn nach Uruguay segeln würde, in Windeseile herumsprach. Ich merkte, wie die Leute über mich redeten, und das alles zusammengenommen machte mich so nervös, dass ich nachts nicht mehr schlafen konnte.

Andererseits spürte ich plötzlich eine bohrende Unlust. Wenn ich darüber nachdachte, und das tat ich pausenlos, dann fand ich meinen Entschluss, zur See zu fahren, peinlich und blöd. Was hatte ich mir dabei gedacht? Nichts! Es war bloß ein Gefühl gewesen, und jetzt war da eine ganze Armada aus Gefühlen, die einander schützten und stärkten, um einem jeden vernünftigen Gedanken auf der Stelle den Garaus zu machen. Mal kam ich mir lächerlich vor, dann wieder brach ich in Jubel aus und applaudierte mir für meinen grenzenlosen Mut. Ich durchforstete die Bücherschränke meiner Eltern und Geschwister nach Schilderungen von Schiffsuntergängen. Schauder jagten mir über den Rücken, als ich entdeckte, dass Jack London eigentlich John London hieß, genau wie mein Schiff! Und wenn ich dann die ersten Sätze las, kam es mir vor, als ruderte ich weit auf das Wasser hinaus.

Einzig dank dieser Bücher bin ich in den Tagen vor meiner Abreise noch halbwegs zurechnungsfähig geblieben. In einer durchwachten Nacht las ich den gesamten Robinson Crusoe. In einer anderen schrieb ich Ennid einen Liebesbrief, der in einer Hymne auf ihr Hinken gipfelte. Glücklicherweise las ich ihn mir morgens noch einmal durch.

So einfach, wie ich den Brief wegwerfen konnte, ließ sich die auf der Heuerliste geleistete Unterschrift nicht rückgängig machen. Und als mir klar wurde, dass es kein Entrinnen gab, wurde ich krank vor Angst. Ich weiß noch, wie ich auf dem Rückweg von einer Besorgung für Vater durch die Dock Street kam. Am Ende der Gasse sah ich die Schiffe an der Pier liegen. Die JOHN LONDON war nicht dabei, und doch wurden mir bei dem Anblick die Knie weich. Ich konnte nicht weitergehen. So wie die Leute mich anstarrten, muss ich zum Fürchten ausgesehen haben. Mit glühendem Kopf und wilden Blicken drückte ich mich an eine Wand. Ich fühlte mich in die Enge getrieben, schrecklich allein. Ja, das war der schlimmste Moment. Schlimmer wurde es nicht. Ich rannte davon, und danach ging es mir langsam besser.

Am letzten Tag vor Auslaufen ging ich in Muldoons Laden, um mich von Ennid zu verabschieden. Aber sie war nicht da. Sie sei krank. Mister Muldoon fragte, ob er etwas ausrichten könne, und ich erfand irgendeine Geschichte mit Ennid und Regyn.

»Auf Wiedersehen, Sir!« Ich hielt ihm die Hand hin.

Er griff sie, sah mich aber nicht an.

»Ich habe eine Frage«, sagte ich. Da hob er den Blick und sah mich, wie es schien, zum ersten Mal klar und deutlich vor sich stehen.

»Ich liebe Ihren Laden, Sir. Alles –«, ich zeigte durch das muffige dunkle Geschäft, in dem Ennid zur hinkenden Ennid verkam, »alles hier liebe ich, das, das, alles. Ich würde gern … ich meine, wenn ich zurück bin, Sir, können Sie da vielleicht einen Gehilfen gebrauchen?«

Mister Muldoon klappte sein Buch auf und sah hinein, als stünde dort eine Antwort.

Da ist die Glocke. Vier Schläge.

Auf einer kleinen Schonerbark wie der ENDURANCE hört man die Schiffsglocke in jedem noch so versteckten Kabuff unter Deck. So weiß auch der blinde Passagier, wie spät es ist: vier Glasen. Über dem Meer zwischen Patagonien und den Falkland-Inseln dürfte es nicht heller sein als in meiner Kammer.

Ich will Shackletons Entscheidung nicht vorgreifen, aber mich eingerechnet wird derzeit nicht mehr als ein halbes Dutzend von den 28 Mann Besatzung wach sein: ein Rudergänger, drei auf Wache an Deck, ein Ausguck und der Mann im Ölzeugspind. Der Rest hat Wachskugeln in den Ohren und schlummert. Wenn ich die Augen zumache, sehe ich die große Kastanie auf dem Platz vor Muldoons Laden vor mir und wie ich durch die Straßen am Hafen lief, um mich von dem zu verabschieden, was ich in Wirklichkeit liebte, zum Beispiel die Bäume, anhand deren mir mein Vater die unverwechselbaren Eigenschaften eines jeden Holzes erklärte. Die Angst und alle die Gefühle, die mich bedrückt hatten, waren verschwunden. Am letzten Tag in Newport blieb bloß Wehmut übrig. Ich spürte, wie sich meine Arme und Beine bewegten, und die Luft war so mild und umfloss mich, dass ich meinte, ich würde darin schwimmen, auf der Rodney Street zum Kontor gehen und doch aufrecht dorthin schwimmen.

Von unserem alten Kontormeister Simms erfuhr ich, dass die JOHN LONDON beladen, ausgerüstet und verproviantiert war.

Er zog mich auf: »Crew vollzählig, sobald Küchenhilfe Blackboro heil an Bord gelangt.« Und er teilte mir die Auslaufzeit mit: »Beginn Rattenwache.«

Das sagte mir nichts.

»Mitternacht, Merce.«

Wir plauderten über die Zeiteinteilung an Bord in Glasen und in Wachen, und Simms, der lange Jahre Steuermann gewesen ist, riet mir, ich solle auf der Hut sein, wenn ich nicht Schiffsnauke werden wolle.

Während er weiter Rechnungen sortierte, erklärte er mir, das jedes Schiff seinen Nauken habe.

»Nauke ist so eine Art schwarzes Schaf. Der Buhmann an Bord, das ist Nauke. Er ist immer schuld. Kommt eine Rah herabgerasselt – Nauke war’s. Und bricht Feuer aus im Kohlenbunker – Naukes Schuld. Jeder Skipper erwischt mal einen üblen Tag; dann pfeift er den Steuermann an. Der Steuermann geht zum Bos’n und beschimpft ihn. Die Schikane rappelt die Ränge hinunter, bis sich alle einig sind: Dafür muss Nauke büßen. Es gibt Schiffe mit mehreren Nauken, auf denen musst du aufpassen, dass du nicht Nauke der Nauken wirst. Und es gibt Schiffe, auf denen sind alle …«

Weiter kam er nicht. Vor dem gläsernen Kabuff, in dem Simms sein Bestes gab, um mich vor Naukes Los zu bewahren, stand Ennid. Sie lächelte flüchtig, als sie uns entdeckte, und hob unschlüssig die Hand.

»Die kleine Muldoon«, sagte Simms.

Ich führte sie in Vaters leeres Büro. Es war das erste Mal, dass wir allein waren. Fantastisch sah sie aus mit dem Regenmantel und dem Schirm, der ihr am Arm baumelte. Sie war gar nicht krank, Ennid stand vor mir, und ich fing an zu zählen – zwanghaft, ein Zählzwang. Ich zählte die Fenster im Büro meines Vaters und die Knöpfe an Ennids Mantel. Ich überschlug, dass ich sie fünfmal im Laden ihres Vaters und einmal im Freien gesehen hatte: draußen in den Alexandra Docks auf halbem Wege nach Pillgwenlly. Aber auch da waren wir nicht allein gewesen. Und geredet hatten unsere Väter, während wir einander Blicke sandten, die nicht tief genug sein konnten. Sie stellte sich an eines der Fenster. Es sind vier, dachte ich, tatsächlich vier. Und ich setzte mich auf eine Ecke des Schreibtischs, davon gab es auch vier.

Das gegenüberliegende, neugebaute Kontorhaus hatte dagegen so viele Fenster, dass ich ihre Anzahl nur schätzen konnte. Es war ein ungeheurer Kasten.

»Es ist so«, begann sie. »Ich möchte nicht, dass du auf diese Weise mit meinem Vater redest. Vielleicht kannst du dir denken, dass er dich seit heute für völlig übergeschnappt hält. Was hast du dir dabei gedacht, Merce Blackboro, hm?«

Sie bekam einen hässlichen Mund, das lag in der Familie. Also gut, dachte ich, streiten wir uns. Das wird dir leidtun, um Mitternacht bin ich weg. Beginn Rattenwache. An der Wand über dem Wartestuhl in der Ecke sah ich das in Gold gerahmte Bild hängen, das mir geheimnisvoll und bedeutsam erschien, seit ich es als Junge zum ersten Mal betrachtet hatte. Kaiser Napoleon ist darauf zu sehen, wie er einsam an einem Strand steht und über das Meer blickt. Mein Vater behauptet, es sei die Küste von Südengland, an der Bonaparte einmal irrtümlich gelandet war.

Auch Ennid schwieg. Zum Streit kam es also nicht. Ennid suchte etwas in ihrem Handtäschchen und durchbohrte mich mit einem Blick, als sie es gefunden hatte.

»Ich habe etwas für dich.« Sie hielt es mir hin. Es war bunt, bunt angemalt, ich nahm es und sah, dass es ein kleiner Fisch aus Holz war.

»Es ist ein Glücksbringer.« Sie kam zu mir und nahm mir den Fisch aus der Hand. Sie drehte ihn um und klappte ihn an der Bauchseite auf. Es lag ein Zettel darin.

»Wenn du einmal nicht weiterwissen solltest, dann lies das.«

Sie gab mir den Fisch zurück. Keine Armlänge entfernt stand sie vor mir. Ich zog sie zu mir heran, vergrub das Gesicht in ihrer Halsbeuge und küsste mich nach oben zu ihrem Mund.

»Ich muss gehen«, keuchte sie und machte sich los, und ich hatte die Vorstellung, sie würde mir unter den Lippen zerbröckeln.

»Bleib noch!«

»Wozu?«

Auf dem Stuhl unter dem verlorenen Napoleon ließ mein Vater Arbeiter sitzen, bis sie mumifiziert waren. Da hatte ich einmal mit Zahnschmerzen gesessen, bis ich fast die Besinnung verlor. Ennid setzte sich auf meinen Schoß. Ich küsste sie, und sie sagte zum ersten Mal: »Du Äffchen.« Immer wieder, in jeder Pause zwischen unseren Küssen, sagte sie die zwei Worte. Sie öffnete meinen Gürtel, griff unter ihr Kleid und keuchte: »Du Äffchen. Äffchen!«

Als sie wieder aufstand und sich die Sachen zurechtzupfte, hatte ich den Fisch noch in der Hand. Mein Puls raste, als ich ihr von der verunglückten Hymne auf ihr Hinken erzählte und davon, dass ich den Liebesbrief in den Usk geworfen hatte.

»Dein Glück!«, sagte sie bloß, »dein Glück, mein Äffchen.«

Natürlich frage ich mich, was wohl auf dem Zettel stehen mag. Ich frage mich das, sobald ich nur die Arme verschränke und den Fisch auf der Brust spüre.

Eins, zwei, drei, vier, fünf Schläge. Fünf Glasen.

Bakewell glaubt, allein aus Platzgründen kann auf dem Zettel bloß entweder eine Bibelziffer stehen, ein Spruch wie »Denk an mich!« oder ein einzelnes Wort, so wie in dem Telegramm von König Georg. Und er meint, ich solle besser ihn den Zettel lesen lassen, schon damit er mir sagen kann, was darauf stand, falls ich Ennids Fisch verliere.

Schlau gedacht, Bakewell. Aber nicht schlau genug.