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Inhalt

[Cover]

Titel

Dicker Mann im Meer

Dicker Mann im Meer

Die Zeitmaschine

Der Tiger

Hinter der Front

Der Zwillingsbruder

Ballon über der Landschaft

Die Modellbahn

Die Schändung

Wahlnacht

Bluthund

Die Schiffstaufe

Entlasstag

Kalte Ente

Samstagnachmittag zu Hause

Der Infant

Der Deichgraf

Der Pfeiler

Montage

Das Ultimatum

Der Hauptgewinn

Der Sprayer

Sechs Richtige

Brautschau

Die Nachricht

Unter der Geburt

Kalte Ente

Die Nötigung

Der Reservetorwart

Der Reservetorwart

Glatze

Der Witwer

Sturm im Wasserglas

Finale

Die Krankheit

Waise

Training

Der Lebensretter

Ehebruch

Der Fan

Vater

Bankrott

Der Voyeur

Erpresser

Nobelpreisträger

Notlügen

Damenwahl

Ente Orange

Totschläger

Schmerzpatient

Flying Dutchman

Arbeitslos

Attentäter

Wiener Naht

Die Flucht

An die Front

Wiener Naht

Tischfußball

Trainee Max

Pornografische Novelle

Editorische Notiz

Autorenporträt

Über das Buch

Impressum

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Dicker Mann im Meer

Dicker Mann im Meer

Kläsner trug eine schwarz-weiße Badehose mit geometrischem Muster. Ihr breites Gummiband umspannte seinen Bauch an der Stelle, da er am umfangreichsten war und unterhalb derer er sich beinahe über die Scham wölbte.

Kläsner stand bis zu den Knien im Meer. Das Wasser war angenehm, er spürte, wie es die Wärme zurückstrahlte. Er schwitzte, aber von unten kühlte ihn das Wasser. Er tastete mit dem Fuß, dann machte er ein paar Schritte weg vom Ufer; schön war es, wenn die Füße in den weichen Meeresboden sanken. Bald reichte das Wasser bis zu den Säumen der Badehose. Kam eine Welle, so schwappte sie über den Nabel. Kläsner sah sich um. Wie weit der Strand schon entfernt war, sicher eine optische Täuschung. Seine Frau rieb gerade ihre Arme mit Sonnenöl ein und sprach mit den Zimmernachbarn aus dem Hotel, einem Paar aus Bielefeld. Oder aus Braunschweig, Kläsner hatte es vergessen. Man traf sich morgens auf dem Flur; beim Mittagstisch spätestens sah man sich wieder, aber meistens lag man schon den Vormittag zusammen am Strand. Die Bielefelder spielten leidenschaftlich Canasta, und immer bestanden sie darauf, eine Mannschaft zu sein.

Kläsner sah wieder zum Horizont, dort ging das dunkle Blau des Meeres in ein silbriges Flimmern über, darüber war der weißliche Himmel. Manchmal fuhren große Schiffe von links nach rechts. Es ist eine Schifffahrtsstraße, hatte Kläsner gedacht. Schifffahrtsstraßen sind geschwungene Linien auf den Seekarten. Auf ihnen herrscht viel Betrieb, ein paar tausend Meter abseits könnte einer tagelang im Wasser treiben. Niemand würde ihn sichten.

Kläsner ging ein paar Schritte weiter. Hier konnte er noch bequem stehen. Er kreuzte die Arme über der Brust, damit seine Hände trocken blieben. Das war wichtig, denn wenn er sich mit Meerwasser den Schweiß von der Stirn wischte, würde er Ausschlag bekommen.

Die Wellen waren jetzt eher zu spüren. Die größeren hoben Kläsner ein wenig an und setzten ihn dann sachte auf den Meeresboden. Als er sich noch einmal umdrehte, winkte seine Frau. Die Bielefelder riefen etwas herüber. Als ob er das noch verstehen könnte! Er winkte zurück. Dann kehrte er dem Strand wieder den Rücken zu. Das ist der letzte Tag, dachte er. Ein schöner Urlaub ist das gewesen. Gegens Hotel nichts einzuwenden. Freundliches Personal, gutes Essen, die Zimmer klein, aber ruhig. Und natürlich der schöne Strand. Es war kein Fehler gewesen, hierhin zu fahren.

Für Kläsner war es der erste Urlaub ohne die Kinder. Im letzten Jahr war der Jüngste noch mitgefahren, das Nesthäkchen, eigentlich ein Stubenhocker, aber ein aufgeweckter Junge, das sagten alle. Ihm zuliebe war Kläsner in Museen gegangen, obwohl das viele Stehen ihm nicht behagte und die Luft dort schlecht war. Er hatte sich Bilder und Steine erklären lassen. Schön war es, wenn der Kleine erzählte, was er sich zusammengelesen hatte. Jetzt war er in England, mit einer Gruppe. Man musste sich keine Sorgen machen.

Aus einer Welle tauchte ein Schwimmer auf. »Spitze, das Wasser heute«, sagte der Schwimmer. Obwohl er hätte stehen können, machte er weiter Schwimmbewegungen. Er trug eine Badekappe und eine kleine Schwimmbrille.

»Ohne Zweifel«, sagte Kläsner. »Es ist über Nacht noch wärmer geworden. Vielleicht sind es auch Strömungen.«

»Bestimmt«, sagte der Schwimmer. »Ich tippe auf Strömungen. Wenn man weiter hinausschwimmt, merkt man sie ganz deutlich. Da muss man ganz schön gegen anschwimmen.«

»Geben Sie auf sich acht«, sagte Kläsner.

Der Schwimmer hob grüßend die Hand an die Badekappe, und mit einer Tauchbewegung verschwand er im Meer.

Etwa zweihundert Meter voraus lag die hölzerne Plattform mit dem Sprungturm darauf im Meeresboden verankert. Kläsner überlegte, ob er hinschwimmen sollte. Er war den ganzen Urlaub über noch nicht dagewesen, dabei schwamm er nicht schlecht. Auf der Plattform trafen sich abends die jungen Leute aus den Hotels. Einmal hatten sie sogar eine Party dort veranstaltet. Sie hatten ihre Kleider, die Getränke, Lampions und ein Radio in wasserdichten Taschen verstaut, und damit waren sie hinausgeschwommen. Dann hatten sie sich wieder angezogen, hatten die Lampions an den Sprungturm gehängt und das Radio eingeschaltet. Kläsner hatte es zuerst vom Strand, später vom Balkon des Hotelzimmers beobachtet. Bis in die Nacht hatten sie getanzt, dann waren sie zurückgeschwommen.

Jetzt spürte Kläsner etwas an seiner Wade. Er schaute hinunter. Es war ein ziemlich großer Fisch, der ihn zu beriechen schien. Sonst sah man eigentlich keine Fische hier. Kläsner versuchte, sehr still zu halten. Sollte er den Fisch fangen? Nein, das war unmöglich. Ob es giftige Fische gibt, fragte er sich. Dass man immer gleich an das Schlimmste denkt. Plötzlich war der Fisch verschwunden.

Ich schwimme doch zu der Plattform, dachte Kläsner. Den Kopf halte ich einfach über Wasser. Er ließ den Oberkörper nach vorne gleiten, drückte sich mit den Füßen ab und machte langsame, gleichmäßige Schwimmzüge. Rasch kam die Plattform näher. Fast hatte er sie erreicht, da sah er, wie ein junger Mann und ein junges Mädchen lachend aus dem Wasser auftauchten und sich mit einem Schwung auf die Holzbretter zogen. Kläsner schwamm an der Plattform vorbei, er fühlte die sanfte Strömung, die ihn vom Land wegzog.

Bald war er so weit hinausgeschwommen, dass er um die Landzunge herum in die nächste Bucht sehen konnte. Sie waren mehrmals dort gewesen, in einem Restaurant, das die Bielefelder empfohlen hatten. Der Strand in der Nachbarbucht war immer voller junger Leute, die Ballspiele machten und unablässig riefen und lachten. In ihrer eigenen Bucht war es ruhiger, wesentlich ruhiger. Aber nicht zu ruhig, gerade richtig.

Ohne Ankündigung kam der Schmerz. Kläsner fühlte plötzlich ein Ziehen im linken Arm. Erst dachte er, das Rheuma in der Schulter melde sich wieder, dann war seine ganze Brust voller dumpfer, zehrender Angst. Seine Kiefer pressten sich aufeinander, alle Kraft brauchte er für den nächsten Atemzug. An Schwimmen war nicht mehr zu denken. Kläsner ließ es sein, obwohl er wusste, dass er dann untergehen würde. Da war nichts mehr zu entscheiden. Er sackte ab. Und stand, Kopf und Schultern über Wasser. Kläsner stand auf einem Fels, einer Untiefe.

Nach und nach erholte er sich. Die Arme hatte er auf das Wasser gelegt, den Kopf in den Nacken, so bekam er besser Luft. Nach fünf Minuten war kaum noch etwas zu spüren. Kläsner hatte festen Stand. Die Dünung wiegte ihn sanft, nur schwere Wellen hätten ihn herunterstoßen können, und es war ein ruhiger Tag mit gleichmäßigem, leichtem Wind.

Kläsner wandte sich vorsichtig um, den Strand konnte er nicht sehen, die hölzerne Plattform mit dem Sprungturm nahm ihm die Sicht. Und die jungen Leute waren wieder verschwunden. Es ist nicht gesagt, dass ich einen zweiten Anfall bekomme, wenn ich jetzt langsam zurückschwimme, dachte er. Er ruderte einmal mit den Armen, dann ließ er es wieder. Die Angst war zu groß. Bis zu der Plattform waren es vielleicht hundert Meter. Aber dort hätte er sich einen halben Meter hinaufziehen müssen, eine Leiter ins Wasser gab es nicht. Dafür bin ich zu schwer, dachte Kläsner. Er drehte sich um. Da war nur das offene Meer, was sonst.

Kläsner dachte an den Tod. Für seine Frau müsste es schrecklich sein. Wahrscheinlich würde man ihr verbieten, seine Leiche mit nach Hause zu nehmen, oder es wäre einfach zu teuer. Dann würde er also hier begraben werden. Vorausgesetzt, sie fänden seinen Körper. Vielleicht würde er ja hinausgetrieben. Dann müsste seine Frau wochenlang warten, bis man ihn für tot erklärte. Wo sollte sie in der Zeit wohnen? Doch nicht in einem Ferienhotel, das war unmöglich.

Dabei war er selbst schuld. Kläsner fuhr unter Wasser vorsichtig über seinen Bauch. Er war natürlich zu dick. Und er trieb keinen Sport, er trank Bier, er rauchte. Und ließ die Dinge treiben.

Kläsner erschrak. Er hatte nicht vorgehabt, sein Leben an sich vorbeiziehen zu lassen. So sagte man doch? Das war ihm immer fremd gewesen. Es geht schon irgendwie weiter, das war seine Devise. Gerade jetzt zog draußen wieder ein Schiff vorbei. Kläsner sah ihm nach; abseits der Schifffahrtslinien. Sollte er laut rufen? Vielleicht würde dann ein Bademeister herausrudern und ihn in ein Boot ziehen. Welch eine Peinlichkeit. Und solange er sich nicht bewegte, war die Angst nicht da.

Nicht weit von der Stelle, an der Kläsner auf einem Felsen im Meer stand, war ein Streit ausgebrochen. »Es ist immer dasselbe mit dir«, hatte er gesagt, und darauf hatte sie die Hotelzimmertür hinter sich ins Schloss geworfen. Er saß dann auf der Bettkante und dachte nach. Man kann kaputte Beziehungen nicht im Urlaub reparieren. Das hätte er vorher wissen können. Aber was weiß man schon vorher? Bei der Vorstellung, dass sie übermorgen wieder gemeinsam im Büro sitzen mussten, schüttelte es ihn. Und die Kollegen würden fragen, wie es war. Er schwor sich, nie wieder etwas mit einer Kollegin anzufangen.

Wolfgang stand auf und ging hinunter zum Strand. Karin war nirgends zu sehen. Er beobachtete den Bademeister, einen braungebrannten Italiener. Karin schwärmte nicht für solche Typen. Nein, Karin war eigentlich ein patenter Kerl. Daran hatte es nicht gelegen.

Der Bademeister schlenderte heran. »Letzter Tag?«, sagte er. Wolfgang nickte. Wo denn die Signorina Karina sei? Wolfgang zuckte mit den Schultern. »Ist noch ein Brett da?«, fragte er.

»Si, claro!«, sagte der Bademeister und lief davon. Auch über das Windsurfen hatte es nie Streit gegeben, obwohl er oft stundenlang auf dem Wasser gewesen war und Karin allein am Strand gesessen hatte. Er solle nur vorsichtig sein, hatte sie gesagt.

Wolfgang stieg jetzt auf das Surfbrett, zog das Segel hoch und hielt es gegen den schwachen Wind. Nach ein paar Pendelbewegungen nahm das Brett Fahrt auf. Es ging langsam voran, zuerst am Ufer entlang. Als er schnell genug war, drehte Wolfgang durch den Wind, im rechten Winkel weg vom Ufer, hinaus aufs Meer. Wenn er eine Welle schnitt, glitt es kühl über seine Füße. Schön war es, so auf dem Wasser zu schweben, es war anders als Schwimmen und anders als das Fahren in einem Boot. Wolfgang war ein guter Windsurfer, aber er wollte keinen Sport daraus machen.

Nach kurzer Fahrt konnte er um die Landzunge herum in die Nachbarbucht sehen. Auf der hölzernen Plattform, die vor dem Ufer im Wasser schwamm, hatten sie zu Beginn des Urlaubs mit anderen Hotelgästen ein Fest gefeiert. Hin und zurück waren sie geschwommen, es war wie ein Abenteuer. Spät in der Nacht hatte er zu Karin gesagt, dass sie noch einmal ganz von vorne anfangen sollten. Karin war ein bisschen betrunken gewesen. Wolfgang beschloss, zu der Plattform zu fahren.

Kläsner wurde es kühl um die Schultern, nicht kalt, unangenehm kalt, nur eben kühl. Es war fast eine Erfrischung. Etwa in der Mitte des Urlaubs hatten sie ein Aquarium besucht, in dem es unerträglich heiß gewesen war. Eigentlich lächerlich, am Meer zu sein und in ein Aquarium zu gehen. Aber die Bielefelder hatten hingewollt, man musste sogar ein Taxi nehmen. In den halbdunklen Räumen des Aquariums hatte Kläsner vor den grün und blau schimmernden Fenstern der Bassins gestanden und furchtbar schwitzen müssen. Der Bielefelder hatte ihm die Fische erklärt; war er nicht Biologielehrer? In eines der Becken hinein hing ein Metallstab. Wenn der Zitterrochen ihn berührte, leuchtete das Schild mit dem Namen des Tieres auf. Es gab auch ein Jux-Bassin. Vor der Scheibe hingen geschliffene Linsen. Schwamm ein Fisch vorbei, wurde er lächerlich vergrößert.

In der Tiefsee-Abteilung war es fast völlig dunkel, einige der Fische leuchteten phosphoreszierend. Der Bielefelder erkundigte sich bei einem der Wärter nach dem Kofferfisch, aber der Wärter verstand kein Deutsch. Der Bielefelder tat, als trüge er einen Koffer, dann machte er Schwimmbewegungen. Es half nichts. Danach waren sie in ein Fisch-Restaurant in der Nähe gegangen. Kläsner hatte Witze gemacht: Ob man die Fische esse, die das Aquarium übrig habe.

Jetzt sah er sich wieder um. War vielleicht die Plattform weiter abgetrieben? Nein, unmöglich, man sah die schweren Ketten, mit denen sie im Meeresboden verankert war. Kläsner überlegte, ob er nicht doch hinschwimmen sollte. Er bewegte wieder die Arme und zog die Beine an; es ging nicht, die Angst kam gleich zurück. Er blieb, wo er war.

Als Wolfgang die Landzunge umrundet hatte, steckte er den Kurs zu der Plattform ab. Der Wind schien leicht aufgefrischt zu haben, und da er genau aus Richtung der Plattform kam, konnte Wolfgang nicht direkt auf sie zufahren. Also hielt er auf einen Punkt etwa zweihundert Meter seewärts. Er würde an der Plattform vorbeiziehen und sie nach der nächsten Wende direkt ansteuern. Solch navigatorische Überlegungen gefielen ihm. In einem Segelboot waren sie viel wichtiger, doch da sprachen alle darüber. Wolfgang mochte das nicht, er nannte es fachsimpeln.

Nach der Wende, unterwegs zu der Plattform, fiel ihm ein, dass sie noch packen mussten. Das hatte Karin übernommen. Er konnte nicht packen, er hasste Koffer. Es wäre schrecklich, wenn Karin sich weigern würde, seinen Koffer zu packen, doch damit war zu rechnen. Plötzlich sah Wolfgang einen dicken Mann, der bis zur Brust im Meer zu stehen schien und ihn heranwinkte. Er änderte leicht seinen Kurs und ließ einige Meter vor dem Mann das Segel aufs Wasser klatschen. Dann setzte er sich rittlings auf das Brett und ruderte mit den Händen heran.

»Was ist los?«, sagte er.

»Ich bin in einer misslichen Situation«, sagte Kläsner. »Ich hatte eben so etwas wie einen Herzanfall, und jetzt kann ich nicht zurückschwimmen.«

»Ach so! Worauf stehen Sie eigentlich?«

»Ich weiß nicht. Es spielt keine Rolle. Eine Sandbank vielleicht, ein Felsen. Meine Rettung jedenfalls, wenn Sie so wollen.«

Wolfgang überlegte kurz. »Soll ich nicht die Wasserwache oder so was Ähnliches holen? Die könnten Sie an Land bringen.«

Eine größere Welle war vorbeigekommen. Kläsner ruderte ein wenig mit den Armen. Dann stand er wieder sicher. »Im Prinzip keine schlechte Idee«, sagte er. »Aber ich habe ein wenig Angst vor dem Aufwand. Es wäre sehr schön, wenn niemand etwas davon erfahren würde. Verstehen Sie?«

»Nein«, sagte Wolfgang. »Was kann man denn sonst tun?«

»Sehen Sie«, sagte Kläsner, »ich dachte, ich hänge mich einfach an Ihr Surfbrett, und Sie ziehen oder paddeln mich an Land. Ganz unauffällig quasi. Wir könnten so tun, als würden wir uns unterhalten.«

»Uns unterhalten? Worüber?«

»Über den Urlaub. Es gibt genug Themen. Wohnen Sie auch in dieser Bucht?«

»Nein«, sagte Wolfgang. »Aber ich war schon einmal hier, auf der Plattform, nachts, zu einer Party.«

»Sehen Sie«, sagte Kläsner, »dann kennen wir uns ja beinahe. Ich habe Sie beobachtet in dieser Nacht, vom Hotel aus.« Er zeigte über die Plattform hinweg. »Da. Man kann es jetzt nicht sehen.«

»Also gut«, sagte Wolfgang. »Ich werde den Mast abmontieren. Dann geht es leichter.« Er kniete auf dem Brett und löste die Befestigungen.

»Wird das Segel nicht abtreiben?«, fragte Kläsner.

»Nicht weit, ich hole es später.« Wolfgang paddelte noch näher heran, bis das Heck des Brettes vor Kläsners Brust war. »Jetzt«, sagte er. »Greifen Sie mit beiden Händen zu, und versuchen Sie, sich hochzuziehen.«

Kläsner wollte schon zugreifen. »Moment noch«, rief Wolfgang. »Ich setze mich ganz nach vorn, zum Ausgleich.«

Kläsner fühlte die glatte Oberfläche des Brettes unter seiner Brust. Kein unangenehmes Gefühl, aber sofort war die Angst wieder da.

»Alles klar?«, rief Wolfgang. »Dann los!« Sie setzten sich in Bewegung. Spritzer trafen Kläsner am Kopf. Ich werde es nicht aushalten, dachte er.

»Alles klar?«, hörte er von vorne. Er versuchte, den Kopf zu heben. »Nein«, sagte er, »bitte zur Plattform.«

Bis dahin war es noch weit. Wolfgang paddelte kräftiger. Wenn ich mit den Beinen Schwimmbewegungen mache, geht es vielleicht schneller, dachte Kläsner, doch er wagte es nicht.

Sie legten an der Meerseite der Plattform an. Kläsner bekam mit der rechten Hand einen der Balken zu fassen und ließ sich ins Wasser gleiten. Er atmete schwer. Wolfgang rutschte vom Brett und schwamm zu ihm. »Was ist los?«, sagte er.

Den Rücken zur Plattform, legte Kläsner den zweiten Arm um einen anderen Balken, nahm den Kopf in den Nacken und streckte die Beine nach vorn. Er trieb leicht auf dem Wasser. »So ist es besser«, sagte er. »Es drückte so auf der Brust, wissen Sie.«

»Ich hole lieber einen Arzt«, sagte Wolfgang.

»Nein, bitte!«, sagte Kläsner. »Bleiben Sie noch hier. Es muss ja bald vorbei sein. Lassen Sie uns von etwas anderem reden. Wie war Ihr Urlaub?«

Wolfgang setzte sich wieder auf das Brett. Das Segel konnte er noch sehen. Es glitzerte im Wasser, wenn die Sonne darauf schien. »Nicht so besonders«, sagte er.

»Ach«, sagte Kläsner. »Darf man fragen, warum?«

»Wir hatten Krach, meine Freundin und ich.«

»Das geht vorbei«, sagte Kläsner.

»Ich glaube, es ist endgültig«, sagte Wolfgang. »Es geht nicht mit uns. Vielleicht passen wir einfach nicht zusammen. Ich kann nicht sagen, woran es liegt.«

»Das tut mir leid«, sagte Kläsner.

»Vielleicht besser so.« Wolfgang musste wieder paddeln, da das Brett abtrieb. Der Wind wurde noch frischer. »Sehen Sie«, sagte er, »wir haben uns im Büro kennen gelernt. Wir waren irgendwie schon aneinander gewöhnt. Es war nie so richtig spannend.«

»Das Spannende verliert sich immer«, sagte Kläsner, »glauben Sie einem alten Ehemann.«

»Aber am Anfang muss es da sein. Man muss etwas haben, an das man sich erinnern kann.«

»Wie Sie reden«, sagte Kläsner tadelnd. »Sie sind doch noch ein junger Mann. Was soll ich da erst sagen?«

»Ich habe es vielleicht falsch formuliert«, sagte Wolfgang. »Jedenfalls fehlt so das Eigentliche. Ich kann es nicht besser ausdrücken.«

»Ja, wenn das so ist.« Kläsner schaute zum Horizont. »Sehen Sie«, sagte er, »wieder so ein Dampfer. Wo die wohl herkommen? Und wo die hinfahren?«

»Geht es Ihnen besser?«

»Schon, ja. Wissen Sie, wir machen es anders. Ich versuche, mich rücklings auf das Brett zu legen, wegen des Drucks auf der Brust.«

»Wird denn das gehen?«

»Sicher, Sie werden sehen. Das klappt bestimmt.«

Kläsner stieß sich langsam von der Plattform ab und griff nach dem Brett. Vorsichtig drehte er sich herum, bis das Heck in seinem Nacken lag, und griff mit den Armen soweit wie möglich hinter sich. »Jetzt«, rief er und versuchte, sich hochzuziehen. Er rutschte ab und sank in die Tiefe. Wolfgang tauchte ihm nach und zog ihn am Arm wieder herauf.

»Sie sind wahnsinnig«, sagte er, als er Kläsner zu der Plattform bugsiert hatte. »So geht das einfach nicht. Ich hole jetzt Hilfe.«

»Bitte bleiben Sie«, sagte Kläsner.

»Aber so kommen wir hier nie mehr weg. Es wird dunkel werden. Wir frieren uns tot. Oder es gibt Sturm. Am Ende wird man nach uns suchen. Ich rufe um Hilfe.« Er schwang sich mit einer kräftigen Bewegung auf die Plattform.

»Nein«, rief Kläsner ihm aus dem Wasser zu. »Wir können das alles in Grenzen halten. Ein wenig Geduld noch, bitte, und wir kriegen es so hin, dass kein Wort zu viel davon gemacht werden muss.«

Wolfgang beugte sich zu Kläsner hinunter. »Was wollen Sie eigentlich? Was sind Sie eigentlich für einer, he? Stehen hier im Wasser wie ein dicker Leuchtturm und markieren den Empfindlichen. Was reden Sie überhaupt?«

»Bitte, regen Sie sich nicht auf«, sagte Kläsner. Da plötzlich erfasste ihn ein wohliges Gefühl, die Spannung wich aus seinem Körper. Er machte ein paar Schwimmzüge. Keine Frage, es ging wieder. Die Angst war verschwunden.

»Sehen Sie«, sagte er, »ich habe recht gehabt. Jetzt ist es vorbei. Ich schwimme gleich zurück. Sehen Sie, wie gut es war, kein Aufhebens zu machen. Haben Sie vielen Dank für Ihre Hilfe.« Damit hielt er schon auf den Strand zu.

Wolfgang schüttelte den Kopf und sah ihm nach. Da schwamm dieser dicke Mann, der im Meer gestanden hatte. Menschen gab es! Wolfgang blieb noch lange auf der Plattform sitzen und dachte nach. Er würde Karin erzählen wollen, was ihm da geschehen war. Vielleicht kam man so wieder ins Gespräch, wenigstens für den Abend.

Plötzlich fiel ihm das Segel ein. Er machte einen Kopfsprung ins Wasser und schwamm in die Richtung, in der er es vermutete. Aber er fand es nicht. Er schwamm zurück zur Plattform und hielt Ausschau. Überall glitzerte das Meer, die Sonnenstrahlen brachen sich in jeder Welle. Man müsste ein Idiot sein, um nicht einzusehen, dass das Segel verloren war. Wolfgang glitt wieder ins Wasser, setzte sich auf das Brett und paddelte zum Ufer. Als er dort ankam, saß Kläsner mit zwei Frauen und einem Mann um einen Klapptisch. Sie spielten Karten.

»Sie müssen mir das Segel bezahlen«, sagte Wolfgang.

»Ach«, sagte Kläsner. »Sagen Sie bloß, Sie haben es nicht wiederfinden können?«

»Was will der Mann von dir?«, sagte eine der Frauen.

»Waren Sie etwa die ganze Zeit beim Surfen?«, sagte der andere Mann und lachte. »Ein heimliches Hobby vielleicht?«

Kläsner winkte ab. »Wir haben uns da draußen getroffen. Wir haben lange geplaudert. Der junge Mann machte das Segel von seinem Brett los. Ich habe ihn noch gewarnt, aber er wollte nicht auf mich hören.«

»Sie gemeiner Lügner!« Wolfgang trat drohend vor Kläsner. Der versuchte, aus dem Klappstuhl aufzustehen, verlor dabei das Gleichgewicht und fiel hintenüber. Seine Arme ruderten nach vorne, und als Wolfgang sie griff, um ihn zu halten, zog der dicke Mann ihn mit sich. Kläsner schlug hart mit dem Rücken auf die Lehne des umgestürzten Stuhls. Für ein paar Sekunden lag Wolfgang auf seiner Brust, doch er rollte rasch zur Seite, und kniend half er Kläsner, sich von dem Stuhl freizumachen und sich flach auf den Sand zu legen. Kläsner atmete schwer und hielt sich die linke Seite.

»Schnell, holen Sie einen Arzt!«, rief Wolfgang.

»Wieso?«, sagte die Frau. Eine Gruppe von Strandgästen stand schon rings um den Liegenden.

»Schnell!«, rief Wolfgang noch einmal, und als niemand Anstalten machte, sich zu bewegen, sprang er auf und lief so schnell er konnte in Richtung der Hotels.

Die Zeitmaschine

Der alte Mann am Kiosk schlug mit der flachen Hand auf das Zeitungsblatt.

»Unglaublich«, rief er, »der reine Nonsens!«

Dann las er, ohne aufzublicken, eine Passage aus der Zeitung: »Mit großer Sorge hat sich der Außenminister des Weststaatenbundes über die Entwicklung der Beziehungen zu den östlichen Nachbarn geäußert. Die, wie er sagte, zunehmende Frostigkeit in den Gesprächen und Verlautbarungen dürfe keinesfalls die Leitlinien kommender Politik bestimmen, sondern müsse als pure Stimmungsmache einflussreicher Minderheiten in beiden Lagern bewertet werden.« Der Mann faltete die Zeitung unsauber und geräuschvoll zusammen und drückte sie in einen Papierkorb.

Hellwich wollte Zigaretten kaufen. Er hatte warten müssen, weil der Kioskbesitzer seine Marke suchte. Jetzt sprach der alte Mann ihn an: »Aufgeregtheiten, nicht wahr? Und im Grunde wegen nichts und wieder nichts, oder?«

Hellwich nickte und wandte sich zum Gehen.

»Sie sind also meiner Meinung?« Der Mann folgte ihm.

»Jaja«, sagte Hellwich und sah den Mann genauer an. Er war alt, doch nichts an seiner Erscheinung wies darauf hin, dass er verrückt oder gefährlich sein könnte. Wahrscheinlich war ihm sterbenslangweilig, und er suchte jemanden zum Reden. Hellwich ließ es darauf ankommen. »Und um was, glauben Sie«, sagte er, seine Schritte verlangsamend, »sollte man sich stattdessen kümmern?«

Der Mann lachte ihn an. »Ich sehe, Sie verstehen, wovon Sie reden«, sagte er. »Sie lassen sich nicht durch dieses Geschwätz irremachen. Schön, wirklich schön, Ihnen begegnet zu sein. Darf ich Sie vielleicht auf einen Kaffee einladen? Hier, gleich um die Ecke.« Er ging voran in eine Seitenstraße, Hellwich folgte ihm und betrat hinter ihm ein kleines, helles Café mit Chromstühlen und Glastischen.

»Hübsch, nicht wahr?«, sagte der Mann. »Und alles ganz sauber, darauf können Sie sich verlassen. Ich bin häufiger hier. Der Inhaber ist ein netter Mensch, sehr jung noch, aber sehr nett.«

Hellwich nannte sich leise einen Idioten. Mit Neugier war das nicht zu erklären. Nur mit Dummheit. Mit einer gewissen Reaktionsschwäche, die er nur zu gut kannte. Freilich gab es kein Zurück. Um Zeit zu sparen, nahm Hellwich sich vor, auf keinen Fall zu argumentieren.

Der Mann bestellte gleich Kaffee. »Nun«, sagte er und machte mit der rechten Hand eine ausladende Bewegung, »Ihre Frage ist natürlich nicht in einem Satz zu beantworten, aber glauben Sie mir, wenn man sich wie ich seit etlichen Jahren, was sage ich, Jahrzehnten, dieses ewig gleiche larmoyante Gewäsch der Leute anhören muss und dabei doch weiß, was sage ich weiß, wenn man als Einziger beurteilen kann, wovon wirklich die Rede sein sollte – ich sage Ihnen, das ist bitter.«

Hellwich trank seinen Kaffee. Ein Weltbeglücker, dachte er. Einer, der die Lösung aller Probleme kennt und dem keiner zuhört. Der Erfinder des Perpetuum mobile. »Ach ja?«, sagte er und zog die Stirn in Falten.

Der Mann sah ihn scharf an. »Sie halten mich für einen alten Spinner«, sagte er ruhig. Er lachte. Hellwich sah, dass er ein makelloses falsches Gebiss hatte. »Natürlich«, sagte der Mann, »ich bin ein Greis, der seit Jahr und Tag dasselbe unsagbar dumme und verdrehte Märchen erzählt und der schon nicht mehr weiß, was von seinem Gerede eigentlich stimmt und was er sich selbst hinzugelogen hat. Das denken Sie doch?«

Hellwich wollte etwas sagen, aber der Mann achtete nicht darauf. Er lehnte sich zurück. »Vielleicht haben Sie recht«, sagte er. »Vielleicht ist mein Erinnerungsvermögen nur eine besonders feine Geisteskrankheit – und die Wahrheit meiner Geschichte, gemessen an der Wahrheit der Weltgeschichte, eine freche Lüge.«

Hellwich wurde ein wenig unruhig. Er suchte nach einer passenden Frage. »Das müssen Sie mir genauer erklären«, sagte er vorsichtig.

»Gut«, antwortete der Mann, »aber seien Sie gewarnt. Sie werden nichts von alldem glauben. Sie werden denken, ich sei verrückt. Und was noch schlimmer ist, Sie werden kein Mittel finden, mir zu beweisen, dass ich unrecht habe. Alle Fakten sprechen für mich. Sie werden immer wieder denken müssen: Vielleicht hat er doch die Wahrheit gesagt. Ich verspreche Ihnen, das kann unangenehm werden.«

Hellwich nickte nur zur Antwort.

Der Alte begann. »Ich wurde neunzehnhundertvierundfünfzig hier in der Gegend geboren. – Nein! Sagen Sie nichts! Ich weiß, dass ich demnach heute noch ein halbes Kind sein müsste. Hören Sie nur zu! Also, es war eine ganz nette Zeit damals, ziemlich ruhig und friedlich, jedenfalls hier in Europa, und wir haben nicht schlecht gelebt. Natürlich kein Vergleich mit heute, aber passabel, sage ich Ihnen, passabel. Außerdem war es eben meine Jugend, und wer erinnert sich nicht gern an seine Jugend. Sehen Sie, der Krieg lag schon so lange zurück …«

Hellwich hob die Hand, aber der Mann unterbrach ihn. »Nein nein, nicht der Krieg, den Sie meinen, vierzehnachtzehn, ich meine den, der danach kam, das heißt natürlich, der dann nicht kam. Sie unterbrechen mich besser gar nicht! Sie verstehen alles nur, wenn Sie keine Fragen stellen und mich erzählen lassen. Es klärt sich dann am Ende alles von selbst.«

Hellwich machte eine Handbewegung, dass er verstanden habe. Noch einmal verfluchte er seine Schwäche.

»Also der Krieg war überstanden, und bis auf die üblichen Drohgebärden war alles ruhig. Jeder redete von nuklearen Katastrophen, dabei waren alle felsenfest davon überzeugt, dass nichts passieren würde.« Der Mann lächelte. »Es war eigentlich eine komische Zeit.«

Hellwich konnte nun doch nicht an sich halten. »Aber Sie reden von unserer Zeit!«, rief er.

»Eben nicht«, sagte der Mann und trank seinen Kaffee aus. »Und Sie müssen mich, wie gesagt, ausreden lassen, um alles zu verstehen.«

Hellwich hob entschuldigend beide Hände.

»Sehen Sie«, fuhr der Mann fort, »ich hatte es mir damals ganz gemütlich eingerichtet. Meine Eltern waren nicht unvermögend, nach dem Abitur studierte ich Geschichte, nicht um einen bestimmten Beruf zu ergreifen, sondern um meine privaten Interessen zu begleiten. Und als sich dann meine Übernahme in ein Beamtenverhältnis als schwierig erwies und ich arbeitslos wurde, kam mir das gar nicht so ungelegen. Ich verbrachte einige Monate mit Reisen und Studien. Schließlich, mehr um meine Eltern zu beruhigen, bewarb ich mich auf eine Zeitungsanzeige, in der ein Historiker gesucht wurde. Ich erinnere mich an jede Einzelheit. Es war ein duftiger Morgen im Mai, wenn Sie so wollen, als ich mich in einer Privatwohnung am Rande der Stadt vorzustellen hatte. Außer mir schien niemand erwartet zu werden, eine Frau ließ mich ein, und ich verbrachte eine Viertelstunde in einem mit hässlichen neuen Möbeln vollgestellten Raum. Endlich bat mich ein Herr mittleren Alters in sein Arbeitszimmer. Ich hatte bereits vermutet, der Famulus eines Privatgelehrten zu werden, was mir, ich kann nicht sagen, warum, gar nicht unangenehm gewesen wäre, doch schon die ersten Fragen, die der Mann an mich richtete, zerstörten alle meine Vorstellungen und machten mich immer unwissender und neugieriger.«

Der Mann bestellte noch einen Kaffee und sah Hellwich fragend an. Der schüttelte nur den Kopf.

»Ob ich verheiratet sei, ob ich gerne große Reisen mache, wollte er wissen. Und ohne die Wahrheit zu achten, versuchte ich, gerade die Antworten zu geben, die er zu erhoffen schien. Doch als er dann fragte, ob ich glaube, die Weltgeschichte wiederhole sich in regelmäßigen Zyklen, und ob ich einmal gewünscht habe, meine Zeit zu verlassen, da konnte ich natürlich nur sagen, was mir gerade in den Sinn kam. Allein, ich schien es zu treffen. Jedenfalls wurde der Mann im Verlaufe des Gespräches immer zufriedener, manchmal lobte er mich sogar für meine Antworten. Schließlich, nach einem kurzen Schweigen, in dem er eine Entscheidung zu fällen schien, erkundigte er sich in indiskretester Weise nach meinem Gesundheitszustand. Und als ihn meine Antworten befriedigten, erhob er sich, streckte mir über den Schreibtisch hinweg seine Hand entgegen und redete dann mit einem Mal so drängend auf mich ein, dass ich kaum ein Wort verstand. Er begriff bald meine Verwirrung, schwieg plötzlich und zog mich am Arm aus dem Zimmer, durch einen Korridor und in einen Arbeitsraum, in dessen Mitte ein merkwürdiger, schlittenähnlicher Apparat stand. Und es fiel mir wie Schuppen von den Augen.«

Der Mann zwinkerte. »Na, wissen Sie schon, worauf es hinausläuft?« Hellwich schüttelte den Kopf.

»Kennen Sie denn nicht Die Reise mit der Zeitmaschine von H.G. Wells?«

»Ich glaube, ich habe eine Verfilmung gesehen«, sagte Hellwich und fing nun an zu begreifen.

»Jaja, diese Verfilmung«, sagte der Mann, »habe ich natürlich auch gesehen. Und mehr als einmal. Miserabel. Ganz miserabel. Kein Vergleich mit der, die ich früher gesehen hatte und die dann nicht zustande gekommen ist. Wie so vieles, mein Lieber, wie so vieles! Aber immerhin wissen Sie jetzt Bescheid. Ich kann mir lange Erklärungen sparen. Es war tatsächlich so: Der Mann, der da vor mir stand, behauptete allen Ernstes, eine Zeitmaschine erfunden zu haben. Und ich glaubte ihm damals so wenig wie Sie mir jetzt. Eine Zeitmaschine! Himmelherrgott! Was für ein Unsinn! Dergleichen habe ich wohl auch gesagt. Und sicher noch einiges mehr. Doch der Mann war nicht einmal beleidigt. Er schien es erwartet zu haben. Er lächelte nur; wie heißt das in alten Romanen? Ja richtig, fein. Jawohl, er lächelte fein. Heute sollte ich sagen: besserwisserisch.«

Er machte eine Pause und bestellte für sich einen Cognac. Hellwich lehnte wieder ab. »Und was dann?«, fragte er.

»Um es kurz zu machen«, sagte der Alte, »dieser Mann hatte wirklich eine Zeitmaschine erfunden. Wirklich und wahrhaftig. Ich bin der lebende Beweis. Und wohlgemerkt, der einzige Beweis. Die Sache lief ab wie ein Film. Ich wollte natürlich gleich fort, er hielt mich zurück. Ob ich nicht einmal einen Versuch machen wolle, wenigstens eine kleine Reise, zehn oder zwanzig Jahre vielleicht? Ich antwortete, das solle er doch selbst tun, wenn er so darauf brenne, sein Gerät in Gang zu setzen. Darauf hielt er mir einen umständlichen Vortrag darüber, warum er nicht selbst mit seiner Maschine reisen könne. Fragen Sie mich jetzt nicht danach, ich habe es sofort wieder vergessen. Und endlich saß ich also wirklich in diesem Kasten. Wissen Sie, ich war einfach wütend auf den Mann, ich wollte, dass er sich blamiert. Er war natürlich begeistert, er hantierte an einem Schaltbrett, kleine Lampen leuchteten auf, Zeiger schlugen aus, mir wurde schwindlig, etwas wie eine Alarmglocke schlug an, schließlich verlor ich das Bewusstsein. – Und jetzt bin ich hier. Das heißt, ich war hier. Genauer gesagt, nicht hier, nur an derselben Stelle. Exakt, ich wachte auf am dreizehnten August neunzehnhundertneunzehn, etwas außerhalb der Stadt, auf einem Feld, wo das Haus, in dem ich das Bewusstsein verloren hatte, später einmal stehen sollte.«

Hellwich bemühte sich, keine Miene zu verziehen.

»Natürlich glauben Sie mir kein Wort«, sagte der Mann. »Ich verstehe das, ich habe es selbst zuerst nicht geglaubt. Ich war sehr benommen, der Apparat war wohl einen Meter oder zwei hinuntergefallen, Sie verstehen, wegen des Unterschiedes der Ebenen. Es war wie in einem Albtraum. Das Erste, was ich glaubte, als ich wieder leidlich klar denken konnte, war, dass der Mann mich hypnotisiert oder in einen Drogenrausch versetzt hatte. Aber Zeit verging, ich erholte mich, und der Albtraum wich nicht. Ich sah mich also um. Und es gab keinen Zweifel, ich befand mich in der Vergangenheit. Ich versteckte den Apparat notdürftig unter Ästen und Blättern und machte mich auf den Weg in die Stadt. Sie können es sich nicht vorstellen, die alte Stadt, völlig fremd, kaum Häuser, die ich wiedererkannte, nur die Kirchen und Plätze vertraut und manchmal der Verlauf der Straßen. Auch verstand ich anfangs kaum, was die Leute sprachen, dabei kannte ich jedes einzelne Wort. Und immer dieses Gefühl, so völlig, so absolut ausgeschlossen zu sein. Glauben Sie es oder glauben Sie es nicht, anfangs hielt ich mich sogar für unsichtbar. Mit Absicht rempelte ich Leute an, um zu sehen, ob sie mich bemerkten. Sie taten es, aber sie kümmerten sich nicht um mich, trotz meiner fremden Kleidung und meines Aussehens.« Er hielt inne und sann nach.

Wenn er lügt, dachte Hellwich, und daran besteht kein Zweifel, dann lügt er gut.

»Erst nach Stunden«, fuhr der alte Mann fort, »setzte ich mich hin und dachte nach, was zu tun sei. Aber je länger ich meine Lage erwog, desto ohnmächtiger und verzweifelter fühlte ich mich und, schlimmer noch, desto ernsthafter fürchtete ich, verrückt zu werden. Schließlich suchte ich, nur um etwas zu tun, meine Wohnung. Es gab sie natürlich nicht, ich hätte es mir ausrechnen können. Wo das Haus gestanden hatte, das heißt natürlich, wo es einmal stehen sollte, war ein freier Platz, eine Wiese, auf der Kinder spielten. Dann suchte ich nach meinen Verwandten, nach meinen Vorfahren vielmehr, und ich fand das Haus meiner Urgroßeltern, die einen Kolonialwarenladen betrieben, genau so, wie ich es von alten Fotos kannte. Aber was nutzte das? Ich konnte sie nicht ansprechen. Was hätte ich ihnen sagen sollen? Woher ich kam? Wer ich war? Bestenfalls hätten sie mich ausgelacht. Also ergab ich mich in mein Schicksal. – Sie kennen sich in Geschichte aus?«

Hellwich zuckte die Schultern. »Leidlich«, sagte er.

»Nun, dann stellen Sie sich die Zeit kurz nach dem Ersten Weltkrieg vor. Die Männer kamen aus der Armee zurück, krank, verkrüppelt, verbittert. Und zu Hause gab es keine Arbeit, kaum zu essen. Ich stand mit den Arbeitslosen vor Suppenküchen an, beim Roten Kreuz oder bei der Heilsarmee. Auf Lastwagen fuhr ich hinaus zu Erntearbeiten auf den Feldern. Nachts schlief ich in Männerheimen und oft im Freien, in Parks oder draußen vor der Stadt in Ställen und Scheunen. Haben Sie schon einmal in einer Scheune geschlafen?«

Hellwich schüttelte den Kopf.

»Nein? Tun Sie es einmal. Eines Nachts sah ich durch das aufgebrochene Scheunendach den gestirnten Himmel, so sagt man doch, nicht wahr? Und plötzlich fragte ich mich: Was tust du eigentlich hier? Man muss sich das vorstellen. Da lag ich im Stroh, ein armer, verdreckter Tagelöhner, einer von Tausenden, und wusste als einziger Mensch, wie die Weltgeschichte weitergehen wird. Ich war ja immerhin Historiker. Doch dabei sorgte ich mich nicht weiter als bis zur nächsten Mahlzeit und um nicht mehr als den täglichen Platz zum Schlafen. Es war grotesk! Also überlegte ich angestrengt, was zu tun sei. Und die Überlegung war kurz. Eigentlich war es gar keine Überlegung. Es war vielmehr ein Zwang. Ich traf keine Entscheidung, es war meine Bestimmung, der ich folgte. Nie gab es daran für mich einen Zweifel. Noch in derselben Nacht ging ich zurück in die Stadt, zum Bahnhof, und am nächsten Morgen fuhr ich, versteckt in einem Viehwaggon, mit einem Zug Richtung Süden. Ich hatte nur dieses eine Ziel. Nie habe ich daran gedacht, etwas anderes zu tun, das kann ich beschwören!«

»Und was haben Sie getan?«

»Ich habe Hitler ermordet.«

»Wen bitte?«

»Hitler.« Der Mann zuckte die Achseln. »Den kennen Sie natürlich nicht, woher auch, den kennen heute nur noch ein paar Fachleute. Ich habe dafür gesorgt, dass ihn keiner kennt, hier, mit diesen Händen.«

Er streckte seine Hände über den Tisch. Hellwich lehnte sich zurück. »Und wer war dieser Hitler?«, sagte er.

»Ein Lump«, sagte der Mann. »Eigentlich nur ein kleiner Lump. Haben Sie einmal von der NSDAP gehört?«

»Ja, ich glaube. Eine radikale Splitterpartei in den Zwanzigerjahren.«

»Splitterpartei?« Der Mann wiegte den Kopf. »Bei den Wahlen von achtundzwanzig hatten sie immerhin acht Prozent. Ich weiß noch, wie ich damals dachte, ich hätte alles umsonst gemacht. Aber es ging rasch mit ihnen zu Ende. Als der Wirtschaftsaufschwung kam, Anfang der Dreißigerjahre, da sind sie einfach verschwunden.«

»Und wer war dieser Hitler?«

»Ihr Parteivorsitzender. Das heißt, neunzehn war er es noch nicht, aber er wäre es geworden. Und er wäre dann Reichskanzler geworden, dreiunddreißig, und er hätte einen Krieg angefangen, neununddreißig, einen Krieg, wie ihn die Welt noch nicht gesehen hatte, vielmehr hätte, Millionen von Toten, Städte bis auf die Mauern zerstört, zerrissene Staaten, Heimatlose, Vertriebene und ein Elend für Jahre und Jahrzehnte. Das alles hätte er angerichtet, aber er ist nicht dazu gekommen.«

Der Mann ballte die Fäuste. »Oh, es war alles ganz leicht. Damals, neunzehn, war er Agitator bei einem Reichswehrclub. Er sprach vor Soldaten, die aus dem Osten kamen. Ein schmächtiger Kerl war er mit dunklen Ringen unter den Augen. Von Charisma keine Rede, es war lächerlich. Er wiederholte nur ein paar Phrasen, und er bewegte sich wie ein Kapellmeister. Ich sah ihn einmal, bevor ich es tat. Es war widerlich.«

»Wie taten Sie es?«

»Ich sagte Ihnen ja schon, es war ganz einfach. Bald darauf sprach er zum ersten Mal für die Partei. Er redete sich in Rage. Ich wartete auf ihn in der Toilette und erschlug ihn mit einer Eisenstange. Es war ganz leicht, verstehen Sie, er war ja kein Mensch für mich, vielleicht ein Schatten oder eine furchtbare Möglichkeit. Weiter war er nichts. Ich musste mich kaum überwinden. Und er tat mir nicht leid, denken Sie das nicht!«

Der Mann bestellte noch einen Cognac.

»Nein«, sagte er mit Bestimmtheit. »Er tat mir nicht leid. Verwandte von mir sind im Krieg gestorben, zwei Onkel, andere haben ihre Häuser verloren, ihr Geld. Und erst die Juden.«

»Was ist mit den Juden?«

»Er hätte alle Juden verbrennen lassen.«

»Das gibt es doch nicht.«

»Das sagen Sie! Nur weil es zufällig nicht geschehen ist. Weil ich es verhindert habe.«

»Und was passierte dann?«

»Nichts«, sagte der Mann ärgerlich. »Nichts. Eine dumme Frage. Die Weltgeschichte ging ihren Gang. Lesen Sie die einschlägigen Bücher, falls Ihr Schulwissen Sie im Stich lassen sollte.« Er schlug mit der Hand auf den Tisch.

»Und was wurde aus Ihnen?«, sagte Hellwich.

»Aus mir? Das sehen Sie ja!«

»Ich meine, haben Sie nie wieder in die Weltgeschichte eingegriffen, wenn man so sagen darf?«

»Ach nein«, sagte der Mann. »Sehen Sie, ich war beschäftigt, ich brauchte Papiere, eine Arbeit, eine neue Lebensgeschichte. Das alles hat Jahre gedauert. Und einfach war es nicht.«

»Und was wurde aus dem Erfinder der Zeitmaschine? Hat er nie versucht, Sie zurückzuholen?«

»Woher soll ich das wissen?« Der Mann winkte ab. »Ich glaube, der Apparat ist bei dem Sturz beschädigt worden. Später war er übrigens verschwunden. Wahrscheinlich haben Kinder ihn zum Schrotthändler gebracht, wegen des Edelmetalls.«

Hellwich dachte ein wenig nach. »Der Konstrukteur müsste doch heute, also ich meine hier, wieder leben.«

»Müsste!«, rief der Mann höhnisch. »Müsste! Natürlich müsste er das! Aber er tut es nicht. Wie so viele andere. Sehen Sie, Millionen sind nicht gestorben, und Millionen sind nicht erst geboren worden. Warum das so ist, ich weiß es nicht. Jeder Fall liegt anders. Ich habe das in den Jahren verfolgt. Mein Vater zum Beispiel hat meine Mutter gar nicht geheiratet, woraus wiederum folgt …«

»… dass Sie nicht geboren worden sind?«

»Ja. Und das war auch besser so. Es hätte mich nur zu Dummheiten verleitet. Oder möchten Sie sich selbst als Kind begegnen? Nein, vielen Dank dafür, das hatte schon seine Richtigkeit.«

»Und was taten Sie also? Ihre neue Lebensgeschichte?«

»Sie werden es nicht glauben. Ein gewisses Anfangskapital habe ich mit Wetten erworben.«

»Mit Wetten?«

»Ja, in den ersten Jahren verlief alles noch ungefähr so, wie ich es gelernt hatte. Und ich wettete auf alles, an das ich mich erinnerte, auf die Verleihung von Nobelpreisen, auf die erste Ozeanüberquerung, auf den Ausgang von großen Sportveranstaltungen, auf Wahlergebnisse, ja sogar auf Erdbebenausbrüche. Man findet Menschen, die bei so etwas mittun, glauben Sie mir. Nicht viele natürlich, aber ich setzte immer, wenn ich absolut sicher war, mein ganzes Vermögen, das war ein Anreiz. Als ich merkte, dass alles anders wurde, hörte ich natürlich damit auf. Ich eröffnete ein Geschäft für Rundfunkgeräte, das hatte ja Zukunft, da konnte man nichts falsch machen. Mein unternehmerisches Prinzip war: Immer das Neueste als Erster haben und so schnell wie möglich. Da war einfach nichts falsch zu machen.« Der Mann lachte. »Ich bin heute sehr vermögend, müssen Sie wissen.«

»Und niemand glaubt Ihnen Ihre Geschichte«, sagte Hellwich.

»Sie haben recht«, sagte der alte Mann. »Aber es macht mir nichts aus. Wirklich nicht. Ich habe nie mit jemandem darüber geredet, den ich persönlich kannte oder der mir etwas bedeutete. Meine Familie weiß nichts davon.«

»Und warum dann ich? Warum erzählen Sie alles mir?«

»Schauen Sie auf den Kalender«, sagte der Mann lächelnd. »Heute ist der Jahrestag meiner Ankunft hier. Und jedes Jahr an diesem Tag erzähle ich die ganze Geschichte einem Wildfremden. Dieses Jahr sind Sie es. Das ist alles.«

»Und wenn nun doch einmal jemand Ihre Geschichte glaubt? Ich zum Beispiel?«

»Steht ganz in Ihrem Belieben. Und ist mir vollkommen gleichgültig. Man kann mir damit nicht schaden. Außerdem würde ich alles abstreiten! Ich bin ein sehr alter Mann.«

»Wollen Sie mir nicht noch ein wenig von der Zeit erzählen, aus der Sie gekommen sind?«, bat Hellwich.

Der Mann runzelte die Stirn und sah ihn prüfend an. »Soll das heißen, dass Sie mir wirklich glauben? Machen Sie sich bitte nicht über mich lustig. Und wenn Sie sich von der Beschreibung ferner Welten bezaubern lassen wollen, dann lesen Sie die einschlägigen Werke. Lesen Sie Jules Verne oder dergleichen. Das ist nicht meine Aufgabe. Ich habe getan, was zu tun war, nicht mehr und nicht weniger.«

»Aber Ihre Reise verändert alles Denken über die Welt, unsere Vorstellungen von Raum und Zeit«, versuchte Hellwich den Mann zurückzuhalten. »Man kann gar nicht aufhören, alle Konsequenzen zu bedenken.«

Der alte Mann winkte der Bedienung. Dann sah er auf die Uhr. »Man kann sehr wohl«, sagte er, »das können Sie mir glauben.« Er legte einen Geldschein auf den Tisch und erhob sich. Hellwich wollte aufstehen, doch nicht ohne Kraft drückte der Mann ihn an der Schulter zurück.

»Bitte, tun Sie mir den Gefallen und bleiben Sie noch. Ich möchte nicht das Gefühl haben, dass Sie mir folgen. Danke. Und leben Sie wohl.« Damit verschwand er.

Hellwich blieb also. Dummheiten, dachte er, und immer lasse ich mich hineinziehen. Er bestellte einen Kaffee. Er hatte eine Verabredung versäumt und bis zur nächsten noch eine Menge Zeit.

Der Tiger

Schräder hakte einen Termin ab. Wenn er jetzt noch den Schadensfall an dem Zirkuszelt abschließen könnte, wäre sein Pensum für heute erledigt. Es war halb drei, ginge alles glatt, könnte er am Nachmittag noch etwas mit den Kindern unternehmen. Er fuhr aus der Stadt und hielt vor dem Gelände, auf dem der Zirkus sein Winterquartier aufgeschlagen hatte. Einen Mann, der welke Blätter zusammenkehrte, fragte er nach dem Wagen des Direktors Legrand.

»Da hinten, der rote«, sagte der Mann.

Schräder klopfte an die Wohnwagentür. Niemand öffnete.

»Dann ist er wahrscheinlich im Raubtierzelt«, sagte der Kehrer, »das größere blaue.«

Schräder ging zu dem Zelt, zog ein loses Stück Leinwand zur Seite und trat ein. Ein scharfer Geruch schlug ihm entgegen. Es war sehr warm und ziemlich dunkel. »Herr Direktor Legrand«, rief Schräder, noch bevor seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten.

»Ich bin hier«, antwortete es von der anderen Seite des Zeltes. »Sie sind von der Versicherung? Kommen Sie doch herüber.«

Da lag das Problem. Schräder, der jetzt alles deutlich erkennen konnte, stand starr, die Schulter an einen Pfosten gelehnt. Das Zelt war etwa dreißig Meter lang, an beiden Seiten standen Gitterkäfige auf hohen Rädern. Sie waren leer. Vom Zeltdach herab hingen an ihren Kabeln zwei Glühbirnen, und in der Mitte des Gangs zwischen den Käfigen lag, zur vollen Größe ausgestreckt, wunderbar gleichmäßig gestreift und herrlich braun, schwarz und weiß, ein riesiger Tiger.

»Was haben Sie denn? Warum kommen Sie nicht?«, rief es wieder, und zwischen den Käfigen erschien ein großes Gesicht mit schwarzen Haaren und einem schmalen schwarzen Schnurrbart.

»Da«, sagte Schräder und zeigte mit der Rechten andeutungsweise nach vorne, während er mit der Linken seine Aktentasche vor die Brust drückte.

Direktor Legrand trat in den Boxengang. Er war groß und trug einen weißen, fleckigen Overall. Blutflecken, dachte Schräder. Der Direktor wischte sich die Hände an den Hosenbeinen ab und wies auf den Tiger. »Ach so, deswegen. Das ist Madonna.«

»Um Gottes willen«, flüsterte Schräder.