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Inhalt

[Cover]

Titel

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

Autorenporträt

Über das Buch

Impressum

[Leseprobe – Zeuge des Spiels]

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MAMA MAFIA

1

Alles fing im Apple Store an. Harvy entdeckte auf einem der Holztische das neue iPhone: dünn und leicht sah es aus, silbergrau leuchtete es ihm entgegen. Er befühlte sein altes in der Hosentasche, seine Finger glitten über den Sprung im Display. Manchmal brachen die Anrufe mitten im Gespräch ab oder es kam erst gar keine Verbindung zustande. Vielleicht bockte der Akku oder was auch immer. Selbst Jeff vom Handy-Hospital hatte nur ratlos den Kopf geschüttelt, und Jeff war eine Koryphäe.

Bei seinem Job als Fahrradkurier hatte das unsägliche Gerät Harvy schon manchen Auftrag gekostet. Und auch in dem Coffee-Shop, wo er arbeitete, sorgte es immer wieder für Unmut, wenn Chefin Clarice ihn nicht erreichen konnte. Sollte er den Coffee-Job verlieren oder von den City Bike Messengers keine Aufträge mehr erhalten, wäre alles aus. Sein kompliziertes, sorgsam aufgebautes Musikerleben würde in seine Einzelteile zerfallen.

Das schlanke Ding auf dem polierten Tisch funkelte Harvy verschwörerisch an. Aber er war blank. Eigentlich war er blanker als blank, gerade stotterte er Schulden ab, und die waren nicht klein. Doch wenn nicht alles noch schlimmer werden sollte, wenn er überhaupt eine Chance haben wollte, aus diesem verfluchten Schlamassel herauszukommen, dann brauchte er ein neues Handy, eines, das tadellos funktionierte.

Er schielte auf das glänzende Teil, hatte Lust, es zu schnappen und einzustecken, aber Dutzende von Apple-Mitarbeitern standen in blauen T-Shirts um die Tische herum, es wäre Wahnsinn, einfach zuzugreifen und das Telefon in der Jackentasche verschwinden zu lassen. Gewiss würde der Alarm losgehen, wenn er es vom Kabel losmachte, oder ein Kunde würde es bemerken und einen Mitarbeiter rufen. Überall waren Kameras. Sicher gab es Ladendetektive. Es war aussichtslos. Kamikaze.

Jennifer zupfte ihn am Ärmel. »Komm, lass uns gehen«, drängte sie. Jennifer hatte ihn über die Marmortreppe auf die Galerie der Grand Central Station gelockt, in diesen gigantischen Apple Store, den größten, den es gab. Nun blickte sie hinunter zur goldenen Uhr, die immer vorging, auf das Gewusel der Pendler, die zu ihren Zügen nach Poughkeepsie und New Haven hetzten, und dann hoch zum Deckengewölbe, in den türkisfarbenen Sternenhimmel mit dem kleinen schwarzen Fleck, der an den jahrzehntelangen Qualm im Bahnhof erinnerte. Harvy sah auf das iPhone.

»Einen Moment noch«, erwiderte er. So einfach wollte er sich nicht geschlagen geben. Dass das neue iPhone so offen dalag und sich seiner Hand geradezu anbot, provozierte ihn. Es dort zu lassen, wäre feige. Die Vorstellung, das Unmögliche zu wagen und es einzustecken, war ungleich reizvoller. Er liebte dieses Herzklopfen und den Kitzel, die sich jedes Mal einstellten, wenn er zugriff. Außerdem war das Gerät unentbehrlich, um ihn aus dem Strudel zu ziehen.

Natürlich wusste er, dass das Ganze eigentlich nicht ganz richtig war – er stahl. Aber ließ die Firma Apple die Geräte nicht in China zu widerwärtigen Bedingungen herstellen? Mussten die chinesischen Arbeiter nicht unter menschenunwürdigen Umständen Handyteile zusammenbauen, ohne Pinkel- und Kaffeepause, zwölf Stunden am Stück, für einen Hungerlohn, für den er keinen Finger rühren würde? Dem Unternehmen gegenüber, das im großen Stil Moralverstöße betrieb, um den Gewinn zu maximieren, waren Skrupel nicht angebracht. Er kämpfte ums Überleben, niemand konnte ihm ernsthaft etwas vorwerfen. Mit dem gesunden Menschenverstand war die klitzekleine Umverteilung durchaus nachvollziehbar.

Ja, er war in Therapie. Stunde um Stunde saß er bei einem Shrink ab, und zusammen versuchten sie, Harvys Griffe und seine Glücksgefühle dabei zu erklären. »Pathologisches Stehlen« lautete die Diagnose, die Doktor Cohen stellte. Seit Harvy ein einziges Mal erwischt worden war, bewahrte ihn das Straflager auf der Couch immerhin vor dem Gefängnis.

Doktor Cohens Fimmel jedoch, minutenlang nichts zu sagen außer »Fahren Sie bitte fort« und danach alles auf seinen Vater zurückzuführen, der für eine Spritztour einmal einen Cadillac geknackt hatte, war Harvy von Anfang an genauso auf den Wecker gegangen wie seine Theorien über abnorme Gewohnheiten und Störungen der Impulskontrolle. Dass das Stehlen eine Ersatzbefriedigung für unterdrückte Wünsche sei – ein Witz! Dass die entwendeten Objekte bloß einen symbolischen Wert besäßen und auf verdrängte Bewusstseinsbereiche hinwiesen – absurd! Wenn er jetzt nach diesem iPhone griff, dann, weil das seine Rettung war, weil er sonst seine Jobs verlor und sein Leben auseinanderfiel.

Jennifer warf ihm ihren Na-was-ist-denn-los-Blick zu. Doch er brauchte noch ein bisschen Zeit. Er lächelte entschuldigend zurück. Jennifer trug ein blaues Kleid und braune Pumps, die laut auf dem Marmorboden klackerten. Ihr langes rotes Haar umrahmte ein hübsches Gesicht mit Wangengrübchen. Jeder halbwegs normale Mann hätte sich in sie verliebt.

Vor Kurzem hatten sie sich auf einer Partnerbörse kennengelernt. Jennifers E-Mails waren charmant und einfallsreich gewesen. Aber das Internet und die Realität hatten sich schnell als zwei ziemlich verschiedene Paar Stiefel erwiesen.

Er fühlte ein Kribbeln im Bauch. Dass Jennifer bei diesem ohnehin riskanten Einsatz dabei war und nichts ahnte, befeuerte ihn zusätzlich. Er überlegte, ein billiges Kabel zu kaufen, um das Verkaufspersonal abzulenken, dann scheinbar absichtslos durch den Laden zu schlendern und im richtigen Moment zuzugreifen. Aber vermutlich ging es auch ohne dieses Manöver. Er sah sich um, einen Augenblick war kein Verkäufer in der Nähe, ihm gegenüber hatte sich ein Chinese in eine App vertieft und ein Schwarzer spielte mit einem anderen Gerät. Er wandte sich mit dem Rücken zu Jennifer, damit sie nichts sah, und nahm das silbergraue iPhone in die Hand. Er fühlte die abgerundeten Kanten, fühlte, wie glatt es war, leicht wie eine Hostie. Wenn er es vom Kabel zog und der Alarm losginge, würde er es gleich wieder festmachen und so tun, als sei es ein Versehen gewesen. Mit Daumen und Zeigefinger fasste er das weiße Kabel und befreite das Telefon von seiner Nabelschnur. Harvy hielt den Atem an. Nichts tat sich, kein Alarm, kein Piepsen, gar nichts. Der Chinese war noch immer versunken, der Schwarze auch. Die nächsten Blaushirts standen ein paar Tische weiter hinter einer Theke im angeregten Gespräch mit Kunden. Rasch ließ er das Gerät in seiner Jackentasche verschwinden. Er spürte die wunderbare Leichtigkeit in seiner Tasche, gleich darauf bemerkte er die Blicke eines Mitarbeiters, der ihn musterte. Der Mann schaute wohlwollend, offensichtlich hatte er nichts mitbekommen. Eine Woge des Glücks überwältigte Harvy, er hätte weinen können vor Freude, und nur mit Mühe widerstand er der Versuchung, immer wieder in die Jackentasche zu greifen, um zu spüren, wie sich das Ding anfühlte.

Er winkte Jennifer, spazierte lachend zu ihr und den iPads hinüber, wollte sie galant hinausführen, als der Alarm doch noch losging – genau dort, wo er gestanden hatte. Verdammt!, fluchte er in sich hinein, und sogleich standen bei der Marmortreppe, über die man den Shop verlassen musste, verkabelte Sicherheitsleute, kahl rasierte, stiernackige, im Fitnessstudio gestählte Kraftpakete, die mit ausgesuchter Freundlichkeit die Taschen und Jacken von allen Hinausströmenden untersuchten. Verdammt!, schimpfte Harvy immer wieder im Stillen und fragte sich, ob es einen anderen Ausgang gab. Weiter hinten, in der nächsten Galerie, befanden sich eine Treppe und ein Lift, aber die führten zu den Büros der Blaushirts und in die Reparaturabteilung. Von der hintersten Galerie hätte man über ein Mäuerchen auf die Rolltreppe, die vom Metlife Building in die Halle führte, hinunterspringen können, aber das war zu waghalsig.

»Was ist denn hier los?«, fragte Jennifer überrascht, als sie die Security-Leute bei der Marmortreppe entdeckte.

»Keine Ahnung. Hat wohl jemand etwas mitgehen lassen«, versuchte er so beiläufig wie möglich zu erwidern.

Er musste handeln. Er konnte das iPhone irgendwo unauffällig ablegen, aber wenn das jemand bemerkte, war er geliefert. Er konnte es Jennifer in die halb offene Tasche schmuggeln. Oder er könnte versuchen, in seiner Jackentasche das vergilbte, speckige Lederetui seines alten iPhones unauffällig über das neue zu stülpen, in der Hoffnung, sich so bei der kahl rasierten Rübennase vorbeizumogeln, die nur darauf zu warten schien, auch dem ehrenwertesten, mit ethisch hohen Standards versehenen Umverteilungsaktivisten den Schädel einzuschlagen.

»Ich muss mal zur Genius Bar, ich habe noch eine Frage zur neuen Bike App, bin gleich wieder da«, sagte er zu Jennifer, die sich über sein Zaudern zu wundern begann, aber darauf konnte er jetzt keine Rücksicht nehmen. Er verschwand in der kleinen Halle zwischen den Galerien, wo sich weniger Leute aufhielten und wo er glaubte, die Etui-Warenbewegung ungestörter vornehmen zu können. Ein blutjunger Verkäufer, der beim Lift stand, ein Babyface mit unschuldigem Ausdruck, beäugte ihn skeptisch, und ein vierschrötiger Kraftprotz bei den Computertischen gaffte ihn aus dumpfen Augen düster an, so dass er während des Etuiwechsels spürte, wie ihm Schweißperlen auf die Stirn traten. Auch im Nacken fühlte er den Schweiß, der ihm über den Rücken in die Unterhose rann. Aber in der Jackentasche lief alles glatt, und wenn die Security-Leute bei der Treppe, wie er annahm, ein bisschen bescheuert waren, dann hatte er eine Chance. Wenn die Kahlköpfe allerdings doch nicht so auf den Kopf gefallen waren, wie sie aussahen, dann gute Nacht, dann gab es, ganz zu schweigen von der Demütigung vor Jennifer, eine Anzeige, ein Bußgeld, wenn er Pech hatte, vielleicht gar Knast, was zur Folge hätte, dass er seine Jobs verlöre, dass er nicht mehr Musik machen könnte und sein ganzes Leben aus den Fugen geriete.

Harvy schickte ein Stoßgebet zum lieben Gott, bat ihn um Beistand, um Verzeihung und versprach, das nächste Mal etwas weniger Teures mitgehen zu lassen.

Wieder bei Jennifer ließ er sein altes iPhone unbemerkt von hinten in ihre Tasche gleiten, denn zwei iPhones mitzuführen, war verdächtig. Schließlich gingen sie Richtung Ausgang zur Treppe.

Wie er vermutet hatte, wurde Jennifer nicht richtig kontrolliert, die Rübennase ließ sie mehr oder weniger unbehelligt passieren. Dabei gingen siebzig Prozent aller Diebstähle auf das Konto von Frauen! Kleptomanie war, wie er von seinem Shrink erfahren hatte, vornehmlich ein weibliches Problem, deshalb hatte Cohen ihn auch verdächtigt, schwul zu sein oder zumindest metrosexuell.

Im Gegensatz zu Jennifer wurde er mit einem Metalldetektor untersucht, sein Körper wurde von oben bis unten abgetastet, und dabei kam das iPhone im speckigen Lederetui zum Vorschein. Er hielt den Atem an, zwang sich, locker und unbeteiligt zu wirken. Sein Herz raste, während die Rübennase versunken auf das Teil starrte, es umdrehte, stutzte und in Gedanken schon daran schien, die Handschellen klicken zu lassen. Kam er notfalls an dem Brocken vorbei? War er schneller als der Bulle, konnte er über die Treppe fliehen und in der Menge der Pendler nach New Haven untertauchen? Während der Hüne das Etui begutachtete, versuchte er sich auf Meldungen aus seinem Ohrstöpsel zu konzentrieren, wurde immer gereizter und legte die Stirn in Falten. Der Faltenwurf überschritt das übliche Maß, so schien es Harvy, und der Adamsapfel der Rübennase drohte fast aus dem Hals zu springen. Der Typ brummte etwas Unverständliches in sein Headphone, horchte, dann entspannten sich seine Züge und er nickte Harvy zu.

»Danke«, sagte er höflich und winkte ihn durch.

Harvy atmete auf. Fast wie ein Heiliger schwebte er über die Marmortreppe, federte mit Jennifer durch die Halle und klopfte sich im Stillen auf die immer breiter werdende Brust. Noch bevor sie zum Kissing Room kamen, wo sich Paare in den goldenen Dreißigern verabschiedet hatten oder zur Begrüßung in die Arme gefallen waren, küsste er sie im Überschwang auf den Mund. Er hätte jeden küssen mögen, der gerade durch die Grand Central Station ging, so berauscht war er von dem Coup, der ihm gelungen war. Nach der ersten Überrumpelung küsste Jennifer zurück und drückte ihn fest an sich.

Ursprünglich hatten sie in der Nähe einen Kaffee trinken wollen, aber dieser Plan war wohl nicht mehr gültig. Beschwingt verließen sie die Grand Central Station und traten hinaus auf die Zweiundvierzigste Straße, auf der Böen ihre Haare durcheinanderwirbelten.

»Meinst du, die haben den Dieb erwischt?«, fragte Jennifer, während sie gegen den Wind ankämpften, der durch die Häuserschluchten pfiff. Sie schlug den Weg zu seinem Studio ein, woher kannte sie die Adresse?

»Vermutlich schon«, sagte Harvy. »Bei dem riesigen Sicherheitsaufgebot.«

»Schon verrückt, was die Leute riskieren. Ein saftiges Bußgeld, Eintrag ins Strafregister, Gefängnis, und das alles für so ein albernes Gerät.«

»Es kann sich eben nicht jeder ein iPhone leisten. Und nicht jeder hat einen gut bezahlten Job in einer Galerie.«

Jennifer schüttelte den Kopf, blieb mitten auf dem Gehsteig stehen und sah ihn scharf an.

»Hast du den Schwarzen dir gegenüber bemerkt?«

»Den Farbigen?«

»Ja, der mit einem iPhone herumhantierte. Der kam mir irgendwie verdächtig vor. Da ging doch der Alarm los.«

»Ich weiß nicht«, sagte Harvy, obwohl es ihm eigentlich recht sein musste, wenn sie den Schwarzen verdächtigte. Aber es war ihm zuwider, dass sie den unschuldigen Mann für den Dieb hielt. Überhaupt war ihm dieses Gespräch zuwider. Je länger es ging, desto mehr verflüchtigten sich seine Lust und seine Glücksgefühle.

»Der sah so seltsam um sich. Wie ein verängstigtes Tier.«

»Kann schon sein«, erwiderte er. »Aber wer hat keine Angst, wenn plötzlich Sicherheitsleute auftauchen, um dich von Kopf bis Fuß zu durchsuchen?«

Sie erreichten den Wolkenkratzer aus den Zwanzigern, in dem Harvy seit drei Jahren ein Studio im elften Stock bewohnte. Beim Eintreten in die Lobby fürchtete er, dass Jennifer die Nase rümpfen würde.

Im Apartment ließ sie zunächst den Blick durch den Raum gleiten: ein Bett, ein Tisch, ein Büchergestell, mehr war nicht da. Auf dem Tisch eine Schale mit Orangen. Dann entdeckte sie das Regal mit den Apparaten: eine Hasselblad mit 40 Megapixeln, eine Nikon mit ungeheurer Tonwertabstufung und flüsterleiser Auslösung, eine Panasonic mit Superzoom und eine Canon mit Schnittbildindikator – das Fotografieren war ihm mehr als nur ein Hobby, eines seiner Katzenbilder lagerte im Archiv des MoMA.

Auf einem anderen Regal standen mehrere blitzend saubere Kaffeemaschinen, eine glänzende Speedster von Kees van der Westen, ein Edelstahlteil von Marzocco, diverse Modelle von Vibiemme und Pavoni, eine schöner als die andere. Eine Sammlung eleganter Kaffeemaschinen, jede für sich ein Kunstwerk, deren bloßer Anblick den Duft von Espresso in die Nase strömen ließ. Jennifer beugte sich vor, starrte mit großen Augen auf seine Heiligtümer und brachte kein Wort heraus. Bevor sie Fragen stellen konnte, legte er die Arme von hinten um sie, führte sie zum Bett, küsste sie und gab sich ihren Küssen hin. Sie zogen sich aus, und als sie nackt vor ihm war, wollte sie, dass er ihr sagte, wie schön ihre Muschi sei, was ihm seltsam schien, das auf Befehl sagen zu müssen, auch wenn sie schön war, aber um die Situation nicht zuzuspitzen und zur Unzeit eine Diskussion darüber vom Zaun zu brechen, was er sagen wollte und was nicht, sagte er: »Hey, hast du eine schöne Muschi!«

Danach blieben sie lange liegen. Jennifer war eingeschlafen, Harvy lag hellwach, sah auf seine Kaffeemaschinen und kam sich vor wie ein trauriger Clown. Er fühlte sich einsam und leer, er hätte auf seine innere Stimme hören und nicht mit Jennifer schlafen sollen. Hoffentlich ging sie, wenn sie aufwachte. Am liebsten hätte er gleich in seine Jackentasche gegriffen. Er stellte sich den Schatz darin vor, durchlebte noch einmal den wunderbaren Moment, als die Rübennase »Danke!« gebrummt und ihn durchgewunken hatte. Er hatte verdammt viel riskiert. Und er hatte verdammt viel Schwein gehabt. Sobald Jennifer weg war, würde er das Gerät zu Jeff bringen, damit dieser die SIM-Karte ersetzte, die eingravierte Seriennummer zurechtschliff und die Innereien so präparierte, dass das iPhone vor dem Zugriff von Apple- oder FBI-Fuzzis sicher war und niemand mehr eruieren konnte, woher es stammte.

Noch ehe er den Gedanken zu Ende denken konnte, läutete es in seiner Jackentasche. Er zuckte zusammen. Jemand vom Apple Store in der Grand Central Station versuchte, ihn anzurufen, wer sonst kannte die Nummer? War es möglich, seinen Standort ausfindig zu machen? GPS-Tracking, fuhr es ihm durch den Kopf. War er mit einem Bein schon im Knast? Jennifer schreckte aus dem Schlaf.

»Warum gehst du nicht ran?«

»Ich mag jetzt mit niemandem sprechen.«

Der Anrufer war hartnäckig, ließ es klingeln und klingeln. Dann war endlich Stille.

»Deine Freundin?«, fragte Jennifer mit zusammengekniffenen Augen.

»Du kennst doch mein Online-Profil.«

Jennifer sah ihn skeptisch an, wand sich aus dem Bett und suchte ihre Sachen zusammen. Doktor Cohen hatte Harvy vorgehalten, er hätte eine stärkere Bindung zu seinen Kaffeemaschinen als zu seinen Freundinnen. Aber was wusste Cohen schon vom Reiz der Gefahr, von der Magie des Augenblicks, von den Triumphen, Höhenflügen und Peinlichkeiten, die ihm diese Apparate bescherten? Was wusste Cohen davon, dass sie in gewisser Weise die Summe seines Lebens darstellten, die Essenz seiner Ausbrüche aus der Gewöhnlichkeit des Alltags? Was wusste Cohen überhaupt vom Leben?

Eine seiner Maximen war, dass er nicht von Menschen, sondern nur in Geschäften stahl.

»Aber stehen hinter Geschäften nicht auch Menschen?«, hatte Cohen ihn gefragt.

»Hinter jedem größeren Geschäft steckt ein Verbrechen. Der Mensch ist von Geburt an gut, aber Geschäfte machen ihn schlecht. Geschäfte sind das Geld der anderen. Man muss sich davon befreien.«

Jennifer fand ihre Strumpfhalterschließe nicht mehr und ärgerte sich. Sie rutschte auf dem Boden herum, suchte neben dem Bett und darunter, aber die kleine Schnalle blieb verschwunden. Um ihren blaugrünen Lidschatten nachzutupfen, ging sie schließlich ins Bad. Harvy nutzte den Moment, um sein altes iPhone aus ihrer braunen Lederhandtasche zu fischen und in seiner Hosentasche zu verstauen. Mit hochgestecktem Haar und frischem Lidschatten kam Jennifer aus dem Bad zurück, drückte ihm einen Kuss auf die Lippen und verabschiedete sich. Als sie auf der Schwelle war, wollte er ihr etwas hinterherrufen, aber da läutete es bereits wieder in seiner Jacke.

2

Die ganze Welt wollte Kaffee. Der Duft von frisch gebrühtem Espresso und Croissants lag in der Luft. Das Surren der Kaffeemaschine erfüllte den Raum. Die Schlange im Coffee-Shop reichte bis zur Tür. Harvy rief »half caf half decaf no foam Skim Latte«, und sah über die mächtige braune Theke in die Runde. Eine Frau in einem modischen Kleid, Typ Bankerin mit Prada-Tasche, näherte sich rasch von einem der Stehtischchen. Er suchte ihre strahlenden Augen, sagte »Enjoy!«, und gab ihr ein gut gelauntes »Have a nice day!« mit auf den Weg. Sie nahm den Pappbecher entgegen, und er machte sich an die nächste Bestellung, eine Grande Latte Hazelnut.

Er träufelte den Haselnusssirup in die Mischung aus Milch und Espresso und dachte daran, wie er am Vorabend das neue iPhone zu Jeff gebracht und es narrensicher hatte frisieren lassen. Der Anrufer, der immer wieder versucht hatte, ihn zu erreichen, hatte seine Nummer unterdrückt, so dass er nicht hatte herausfinden können, wer es gewesen war, aber mit der eigenen SIM-Karte hatte sich das Problem erledigt. Seine Chefin Clarice hatte sogleich angerufen und ihn gebeten, eine halbe Stunde früher zu kommen, weil sie mit dem Kleinen zum Arzt musste.

Er rief die Hazelnut Latte aus und sah durch die großen Fenster auf die Avenue, auf der eine Harley mit Donnergroll vorbeilärmte. Draußen wie drinnen brummte das Leben, die Luft schien zu knistern vor den Möglichkeiten des neuen Tages. Er händigte die Latte einer fülligen Frau aus, die jeden Morgen kam, machte ihr ein Kompliment, worauf sie lachend zu der Theke mit den Zuckersäckchen, Servietten und Holzstäbchen ging. Mit dem Schneebesen schäumte er Milch auf und goss Vanille und Caramel für einen Macchiato dazu. Wie im Schlaf setzte er die Milchhaube auf, als er in seiner Jeans ein leises Brummen vernahm. Eine E-Mail war auf seinem iPhone eingegangen, und er versuchte, unbemerkt einen Blick darauf zu werfen. Eine Message von Dr. Black – den Namen kannte er nicht. Dr.Black@black.com – war das jemand von der Partnerbörse oder von seinem Musik-Label? Die Mail bestand aus nichts als einem Anhang. Er öffnete das Attachment. Als er das Bild sah, schreckte er zusammen. Es zeigte, wie er im Apple Store in der Grand Central Station das iPhone in seine Jackentasche gleiten ließ. Sein Gesicht war deutlich zu erkennen. Darunter stand, dass er binnen einer Woche 10000 Dollar auf ein Konto bei der Bank of America zu überweisen habe, sonst werde das Bild samt seiner Adresse an Apple und die Polizei verschickt.

»Jesus fucking Christ!«, fluchte er und verschüttete den Caramelsirup. Wütend wischte er die Spritzer mit einem Lappen zusammen. Wer mochte dahinterstecken? Bob Bolletieri kam ihm in den Sinn. Sie hatten ihn aus der Band geworfen, weil er beim Spielen oft zu spät dran gewesen war und mit seinem dauernden Genörgel eine derart schlechte Stimmung verbreitet hatte, dass die Raccoons kurz vor dem Aus gestanden hatten. Also hatten sie ihn abserviert. Bob war im Journalismus gelandet. Als die Raccoons mit ihrem dritten Album auf Tour gingen, hatte er sich revanchiert, indem er seinen Verriss, den er für die New York Post verfasst hatte, an alle möglichen Käseblätter versandte. Fast überall, wo sie auftraten, stand der Artikel in einem Provinzblatt, und so mussten sie in Boston, Boulder und Baltimore vor ausgesucht kleinem Publikum spielen. Aber Harvy hatte Bob seit damals nicht mehr gesehen, die Geschichte lag weit zurück. Es war reichlich unwahrscheinlich, dass sich der gescheiterte Gitarrist, der wie so viele andere seine Musikerambitionen begraben musste, hinter Dr. Black verbarg.

Aber wer sonst konnte es sein? Eine seiner Ex-Freundinnen, die sich rächen wollte? Meist hatte er sich mehr oder weniger friedlich von seinen Geliebten getrennt oder es war, wie Doktor Cohen zu Recht festgestellt hatte, gar nicht erst zu einer tieferen Bindung gekommen.

»Hey, wie lange geht denn das noch mit meinem Caramel Macchiato?«, wetterte ein Typ im Nadelstreifenanzug über den Tresen. Harvy schreckte aus seinen Fantasien auf.

»Kommt gleich.«

»Das dauert ja eine Ewigkeit!«, schnaubte der Krawattenträger, der unübersehbare Probleme bei der Wahl der Konfektionsgröße hatte. Seine Züge verzerrten sich zu einer Grimasse, dann lief er rot an.

»Seit fast einer Viertelstunde warte ich hier!«

Aus schmalen Schlitzen, die tief zwischen aufgedunsenen Wülsten lagen, blitzten Harvy wässrige Augen entgegen.

»Entschuldigen Sie, die Espressomaschine läuft gerade nicht so, wie sie sollte. Ihr Macchiato ist gleich fertig.«

»Unglaublich!«, brummte der Mann, sah um sich, als wolle er Mitstreiter für seine Sache gewinnen, und tatsächlich gelang es ihm, einige Leute in der Schlange aufzuwiegeln, so dass auch andere zu reklamieren begannen. Die Stimmung im Laden schlug in ein gehässiges Murren um. Harvy war immer wieder erstaunt, wie wenig es brauchte, um eine Situation zu kippen. Ein einziger Mensch reichte, und plötzlich war alles anders – was zuvor in den höchsten Tönen gelobt wurde, war nichts mehr wert, Leute, die eben noch entspannt in der Schlange gestanden hatten, fingen lautstark zu meckern an. Herdentrieb. Er schüttelte den Kopf.

»Und zwischendurch spielen Sie mit Ihrem Handy herum, statt sich um die Gäste und den verdammten Milchschaum zu kümmern!«

Ein empörtes Raunen ging durch den Raum, der Mann bewegte sich bedrohlich Richtung Theke. »Meinen Sie, ich habe ewig Zeit?«

Noch ehe Harvy etwas erwidern konnte, kam Clarice herein und wunderte sich über die gereizte Atmosphäre. Üblicherweise waren die Leute im Capisci gut gelaunt. Alle Welt liebte Kaffee. Er duftete verführerisch, und allein schon die Vorfreude auf den ersten Schluck stimmte die Menschen fröhlich. Der Laden war meist rappelvoll, weil der Kaffee ausgezeichnet und die Bedienung freundlich war.

»Was ist denn hier los?«, fragte sie Harvy halb verwundert, halb verärgert, als sie ihm hinter der Theke zur Hand ging und einen White Chocolate Mocca zubereitete.

»Dem Typen im Nadelstreifenanzug geht es zu langsam«, sagte er leise, »er macht ein Riesendrama draus. Die Espressomaschine streikt, und überhaupt ist heute ein Scheißtag.«

So freundlich wie möglich reichte er dem Mann seinen Caramel Macchiato über den Tresen. Statt sich zu beruhigen, herrschte dieser ihn wieder an: »Warum fassen Sie den Becher am Rand an und nicht am Henkel? Haben Sie denn gar keine Ahnung? Vom Becherrand trinke ich! Da haben Ihre Finger nichts verloren!«

Gleich würde ihm der Kerl noch an die Gurgel springen. Harvy wusste, dass seine Gelassenheit manche provozieren konnte, aber so etwas hatte er noch nie erlebt. Clarice kam ihm zu Hilfe und nahm ihn in Schutz. »Jetzt aber mal halb lang. Harvy ist ein großartiger Barista. Wenn Sie jemanden kennen, der einen feineren Macchiato mit einer besseren Crema macht, dann sagen Sie’s mir.«

Harvy hatte seine Chefin schon immer gemocht. Er mochte es, wie sie sich für ihren Laden ins Zeug legte. Wie enthusiastisch sie sich einsetzte. Er mochte ihre gewinnende Art. Ihre Energie. Er mochte ihre warmen, dunklen, brasilianisch anmutenden Augen. Er mochte die großzügigen Wölbungen, die sich unter ihrer Bluse abzeichneten. Aber sie hatte einen Kleinen zu Hause und einen Großen. Der Große fuhr Lastwagen. Jede Nacht brachte Clive mit seinem gigantischen Truck Tonnen von Mineralwasser in die Supermärkte Manhattans. Wenn Harvy auch nur einen Finger nach Clarice ausstrecken würde, gäbe das Ärger, furchtbaren Ärger. Harvy würde seinen Job verlieren, und dann war es aus mit der Musik. Es war aussichtslos, er wusste es. Und gerade darum so unendlich reizvoll.

»Ohne Perspektive«, hatte Doktor Cohen gesagt, als sie in der Therapie darüber gesprochen hatten, wie schwer es ihm fiel, sich Clarice aus dem Kopf zu schlagen. »Warum suchen Sie ständig aussichtslose Verbindungen? Was reizt Sie daran?«

Harvy lag auf der Couch und starrte schweigend auf den gegenüberliegenden Wolkenkratzer. Fensterputzer in schwarzen Overalls schwebten in schwindelerregender Höhe und fuhren mit Wischern an Teleskopstangen über die riesigen Glasflächen, während die Hebebühnen bei jeder Bewegung schrille Töne von sich gaben. Er sah den Schaum auf den Fenstern und meinte etwas Spitzes in der Couch zu spüren. Hatte er eine Stahlfeder im Arsch?

»Vielleicht weil ich selber ohne Perspektive bin. Strukturell aussichtslos.«

Clarice verstand es, die Situation im Capisci wieder ins Lot zu bringen. Der Mann verzog sich mit seinem Macchiato, Erleichterung machte sich breit. Am liebsten hätte er seiner Chefin von der Erpressung erzählt, ihr sein Herz ausgeschüttet. Er biss sich auf die Lippe und machte sich an einen Cappuccino, während Clarice die Stirn runzelte und ihn besorgt ansah.

»Was ist los mit dir?«, fragte sie.

Nicht auch das noch, dachte er, sie roch den Braten, selbst wenn es gar keinen gab.

»Nichts«, wich er aus.

»Aber du machst doch sonst nicht so ein Gesicht.«

»Ich habe schlecht geschlafen, das ist alles.«

Mehr sagte er nicht, und sie schien zu spüren, dass ihm nicht zum Reden zumute war.

Nach dem Ansturm säuberte er, noch immer in Aufruhr, die Tische, reinigte die Spülmaschine, putzte Messer und Zitronenpresse. Wie um sich selbst zu reinigen, wischte er den Fußboden auf, polierte Tresen und Theke. Die aus der Bäckerei gelieferten Brownies, Muffins und Cookies legte er in die Vitrine und ergänzte mit Kreide die Menütafel. Die Kaffee- und Teemischungen füllte er in die olivfarbenen Regale und hängte die neuen Werbeposter dazu. Im Grunde dachte er dabei aber immer nur an eines: die 10000 Dollar. Wie sollte er die auftreiben? War es möglich, herauszufinden, woher die E-Mail stammte? Wurde nicht jedem Computer eine IP-Adresse zugeordnet?

Er spürte das irritierend leichte Gewicht in seiner Hosentasche. Die Hostie hatte ihn in der kurzen Zeit schon ganz schön ins Schwitzen gebracht. Und wie es aussah, sollte sich daran so schnell nichts ändern.

3

Cannoli Company, Sicherheits-Dienstleistungen aller Art, fünf Mitarbeiter, im Handelsregister seit 2007. Das hatte Jeff herausgefunden und ihm gleich die Adresse des Büros in Hell’s Kitchen in die Hand gedrückt. Dank der IP-Nummer war es für Jeff einfach gewesen, den Standort des Computers zu lokalisieren, von dem die E-Mail versandt worden war.

»Pass auf dich auf, Harvy. Im Internet hat die Firma praktisch keine Spuren hinterlassen. Das lässt nichts Gutes erahnen.«

Harvy wollte kurz nach Feierabend, wenn nicht mehr viele Leute da waren, als Fahrradkurier eine von ihm selber zusammengestellte Lieferung bei Cannoli abgeben und sich rasch in den Räumen umsehen – vielleicht kam er der Identität von Dr. Black auf die Spur und konnte ihm ein Schnippchen schlagen. Denn in einer Woche zehntausend Dollar aufzutreiben, war ein Ding der Unmöglichkeit.

Er streifte das Messenger-Trikot über und den Brustgurt, in dem das Funkgerät steckte, mit dem er sonst mit der Zentrale, jetzt aber mit Jeff verbunden war. Per Funkgerät konnte er jederzeit auch eine Streife oder eine Ambulanz anfordern, das federte das Risiko ab, wenn er sich in die Höhle des Löwen wagte.

Er schlüpfte in die kurzen schwarzen Fahrradhosen. Dann schulterte er die verblichene Kuriertasche mit der Lieferung – ein Paket mit Glückskeksen aus Chinatown, das aus Versehen bei ihm liegen geblieben war, respektive Dokumente einer fingierten asiatischen Handelsfirma, die mit Cannoli ins Geschäft kommen wollte – und schwang sich auf sein Rennrad.

Nieselregen hatte eingesetzt, als er auf der Second Avenue ein Stück weit gegen die Fahrtrichtung fuhr, dann schwenkte er in die Zweiundvierzigste Straße ein und überholte im dichten Stau mal links, mal rechts die im Schritttempo fahrenden Autos und Busse. Er glitt durch die schmale Lücke zwischen einem stehenden Taxi und einem Truck, ging aus dem Sattel, fuhr in hohem Tempo auf das Rotlicht der Third Avenue zu, trotzte der nassen Fahrbahn und umkurvte die überraschten Fußgänger auf dem Zebrastreifen wie Slalomstangen, schmuggelte sich durch die hupenden Autos, die von Downtown Richtung Upper East Side rollten, um sich auf der anderen Seite zwischen den die Straße überquerenden Passanten durchzuschlängeln, hob das Vorderrad zum Wheelie und beschleunigte auf Full Speed. Die Grand Central Station passierte er wie ein Riesentorläufer, hüpfte mit schnellem Reflex über einen Haufen Scherben, fand den runden Tritt, wich pfannengroßen Schlaglöchern aus und überholte ein halbes Dutzend Touristen in Regencapes, die mit ihren schwerfälligen City Bikes auf der Straße festzukleben schienen.

»Sie sind ängstlich und zugleich ohne jede Angst«, hatte Doktor Cohen einmal festgestellt und ihn mit seiner undurchdringlichen Miene angestarrt, so dass er sich wie ein Exemplar einer äußerst seltsamen Spezies vorgekommen war.

»Auf dem Rad bin ich zu Hause«, hatte er erwidert. »Das Fahren gibt mir einen Kick. Es macht mir gute Laune, wie Kaffee oder Musik.«

»Oder wie Diebstähle.«

Cohen versuchte schon seit geraumer Zeit, das Wort »Diebstahl« in ihren Gesprächen zu etablieren.

»Umverteilungen.«

Das Fahren fühlte sich an wie Fliegen, sicher und leicht rollte er über den glitschigen Asphalt, dessen Glätte ihm einen zusätzlichen Kitzel verschaffte, und sprintete im perfekten Wiegetritt Richtung Hell’s Kitchen. Als er bei dem schäbigen Lagergebäude in dem ebenso schäbigen Areal, wo sich die Cannoli Company einquartiert hatte, vom Rad stieg, triefte er vor Nässe.

Trotzdem hatte er ein Hochgefühl wie nach einem Konzert. Aber er wusste, dass Euphorie gefährlich war, sie machte unvorsichtig und unaufmerksam. Was er brauchte, war höchste Konzentration. Also stand er eine Weile neben dem Rad und starrte auf seine Schuhspitzen.

»Cool down!«, murmelte er sich selber zu und wartete, bis sein Puls langsamer wurde. Dann gab er sich einen Ruck und meldete sich beim Portier an. Nach einem kurzen Telefonat ließ dieser ihn passieren.

Mit dem ruckeligen Warenlift fuhr er hoch in den fünften Stock und fand sich in einem schummrigen Gang mit Dutzenden von Türen wieder. Corleon Corporation, Sony Blue Partners, Hyman Hoff Agency stand auf wenig verheißungsvollen Schildern. Ganz hinten, wo die Lampen nur schwach flackerten, stand nichts außer CC.

Er klingelte. Es summte, er drückte die Klinke und trat ein. Eine junge Frau mit großen dunklen Augen und langem schwarzem Haar sah ihn von ihrem Schreibtisch verwundert an. Auf ihrem Schoß saß eine Tigerkatze, die ihn ebenfalls ansah. War diese Frau Dr. Black? Auf Anhieb wusste er, dass sie es nicht war, denn sie schaute überrascht, aber wiederum nicht so überrascht. Mit einem Blick erfasste er, dass sie alleine im Büro zurückgeblieben war – im Raum dahinter brannte kein Licht.

Die Frau musterte ihn misstrauisch von oben bis unten, die tropfnassen Haare, der Brustgurt mit dem piepsenden Funkgerät, die eng anliegende, triefende Kurieruniform, die seinen Schritt und seinen Hintern betonte, die wuchtige Tasche, die strammen, glänzenden Waden, die kleine Lache, die sich um seine Schuhe herum bildete. Auch die Katze musterte ihn.

»Womit kann ich Ihnen helfen?«

»City Bike Messenger«, sagte er, »ich habe eine Lieferung für Cannoli«, und hievte seine tropfende Kuriertasche von den Schultern. Er nestelte sie auf, nahm das Paket mit den Glückskeksen heraus und den Briefumschlag. Die Frau stand auf und kam ihm entgegen. Sie duftete frisch und strich ihre Haare zurück.

»Was haben Sie denn mitgebracht, lassen Sie sehen.«

»Ich glaube, es sind Glückskekse.«

»Glückskekse? Warum denn Glückskekse?«, fragte sie verdutzt.

»Keine Ahnung. Werbung vielleicht?«

Sie riss das Paket auf, und hervor kam ein Sack randvoll mit den kleinen Knusperteilchen.

»Das sind ja Hunderte!«

Einen Augenblick hielt sie inne, schien in Gedanken ihre Befugnisse durchzugehen und sagte dann: »Ich muss einen probieren! Nehmen Sie auch einen?«

»Sehr nett. Da kann ich nicht nein sagen. Dürfte ich zuvor Ihre Toilette benutzen? Ich bin klatschnass.«

»Aber sicher. Gehen Sie einfach durch das Büro und dahinter die Tür rechts.«

»Danke.«

Er schulterte seine Kuriertasche, ging langsam durch das andere Büro und sah drei Computer. Zwei waren Desktop-Geräte wie dasjenige der Sekretärin, aber auf einem Sideboard stand ein zusammengeklapptes MacBook. Er drehte sich rasch um, vergewisserte sich, dass sie mit dem Rücken zu ihm an der Kaffeemaschine zugange war, löste das MacBook sachte vom Kabel und ließ es lautlos in seine Tasche gleiten. Die Tigerkatze beobachtete ihn und fauchte. Er warf ihr einen drohenden Blick zu, dann verschwand er in der Toilette.

Rein mathematisch gesehen hatte er eine Chance von 25 Prozent, dass es sich um den richtigen Computer handelte, aber da die anderen Geräte PCs waren und sich Windows-Nutzer kaum in einem Apple-Store herumtrieben, lag die Wahrscheinlichkeit vermutlich höher.

In der Toilette fragte er sich, ob er von der Sekretärin etwas über Dr. Black erfahren konnte, die Sache ließ sich nicht schlecht an, er könnte sie zum Essen einladen. Aber das war ein Spiel mit dem Feuer, bei dem er sich bös die Finger verbrennen konnte. Besser, er machte sich ohne jedes weitere Wort aus dem Staub. Zurück in ihrem Büro, bot sie ihm eine Tasse Kaffee an.

»Möchten Sie Ihre Tasche ablegen?«, fragte sie einladend.

Das wollte er unter keinen Umständen – nicht, dass das MacBook herausglitt. Die Tasche war eine tickende Zeitbombe – er durfte sie keinesfalls aus den Händen geben.

»Gern«, sagte Harvy und legte sie neben die hübsche Frau auf ein Sideboard.

»Eine coole Tasche.«

»Klassische Kuriertasche«, murmelte er so beiläufig wie möglich und wandte sich wieder den Keksen zu.

»Schönes Material«, beharrte sie und strich mit der Hand darüber. Harvy schossen alle möglichen Gedanken durch den Kopf. Sollte er Pumpe, Pneuheber und Reserveschlauch erwähnen? Aber durch das Leder das Notebook zu erfühlen, war kaum möglich. Tatsächlich wandte sie sich von der Tasche ab, lächelte ihm zu und bot ihm einen Glückskeks an.

Harvy atmete auf und biss in den Keks. Zwischen den Knusperteilen kam ein kleiner weißer Zettel zum Vorschein. Wer immer nur tut, was er schon kann, bleibt immer nur das, was er schon ist.

Er nickte. »Aber wie sollte man denn so sein – nach Meinung der Kekse?«

»Vielleicht müsste man dazu einen zweiten befragen«, sagte sie.

Die Katze sprang auf das Fensterbrett und sah zu ihnen herüber.

»Jetzt Sie, Miss …«

»Jennifer. Sagen Sie einfach Jennifer zu mir.«

Harvy stockte einen Moment, noch eine Jennifer, dann lächelte er und sagte »Paul, sehr erfreut.«

»Freut mich, Paul!«, sagte Jennifer und biss genüsslich in ihren Keks.

»Und?«

Eine Chance ist schwer zu erkennen, wenn man immer nur auf den Glücksfall wartet.