Cover.jpg

INHALT

[Cover]

Titel

EINLEITUNG

PROLOG

DIE GESCHICHTE

EPILOG

ENDNOTEN

Autorenporträt

Übersetzerporträt

Über das Buch

Impressum

[Leseprobe – Nichts in Sicht]

Titel.jpg

EINLEITUNG

Das dem Leser hier vorliegende Manuskript wurde Ende Juni 2005 am Belgrader Flughafen in einem Abfalleimer gefunden. Es steckte in einem blauen Ordner, der mit Figuren aus Walt Disneys Zeichentrickfilmen beklebt war. Der Mensch, der ihn aus dem Abfalleimer herausgefischt hatte, nahm ihn mit nach Hause im Glauben, es handele sich um Erzählungen für Kinder, aber sobald er merkte, dass im Text von Soldaten und Kasernen die Rede war, übergab er ihn dem Flughafensicherheitsdienst. Der Beamte, der das Manuskript in Empfang nahm, war ein Amateurdichter, Mitglied der literarischen Gesellschaft »Oskar Davičo«. Der Text machte ihn neugierig, er begann darin zu lesen und legte ihn bis zum Ende nicht aus der Hand. Dann gab er ihn dem Präsidenten der literarischen Gesellschaft und dieser seinem Trauzeugen, einem angesehenen Literaturkritiker, der seinerseits empfahl, diesen »packenden Roman« zu veröffentlichen. Die Empfehlung gelangte zu dem Inhaber des kleinen Verlags »Prostor«, der beschloss, das Manuskript herauszugeben. Der Verleger arbeitete lange daran und es gelang ihm, die meisten Unklarheiten zu beseitigen, wobei er besonderes Augenmerk auf die Endnoten richtete: Er brachte sie in die richtige Reihenfolge, strich einige unlogische Gedanken und überflüssige Wiederholungen, fand aber nicht heraus, wie viele Personen an der Abfassung des Manuskripts beteiligt waren. Schließlich muss hier angemerkt werden, dass er eigenmächtig entschied, auf den Hinweis zu verzichten, dass es sich um »das Werk eines unbekannten Autors« handele, zumal solche in der Literaturgeschichte in großer Anzahl anzutreffen seien. Stattdessen zog er es vor, sich irgendeinen Namen auszudenken, den die Leser mit dem Titel des Buchs in Verbindung bringen würden. Falls später der eigentliche Verfasser des Romans auftauchen sollte, würde man seinem Namen sofort den ihm gebührenden Platz auf dem Cover einräumen.

PROLOG

Seit gestern ist die Welt ein etwas besserer Ort.1 In ihr gibt es nämlich Dimitrije Donkić nicht mehr. Ich habe ihn getötet. Ich weiß nicht, wen das mehr überrascht hat, ihn oder mich, nehme aber an, dass es nicht zu vermeiden war: Ich war überrascht, dass er vergessen hatte, er war überrascht, dass ich mich erinnerte. Sich vierzig Jahre an etwas zu erinnern, noch dazu mit vielen Einzelheiten, ist in der Tat eine große Leistung, obwohl es Momente gab, in denen ich bereit war, sofort zum gegnerischen, zum Lager der Vergesslichen, überzulaufen. Es ist so schön zu vergessen, gebe ich offen zu, so leicht im Vergleich zu all dem, was man lernen muss, um fähig zu sein, sich zu erinnern. Man braucht sich nur der Zeit hinzugeben, und sofort beginnt das Vergessen am Gewebe jeder Erinnerung zu nagen. Das Gedächtnis hingegen fürchtet die Zeit, tut alles, um ihr zu entwischen, was eigentlich lächerlich ist, weil niemand ihr entkommen kann. Eine Ausnahme sind Menschen wie ich, Menschen, die sich in der Zeit und im Gedächtnis überhaupt nicht zurechtfinden und planlos dahinleben, jedoch nicht so, wie sie möchten, sondern wie andere es ihnen vorschreiben, selbst wenn sie, diese anderen, der Meinung sind, dass sie niemandem etwas vorschreiben. Kurzum, wäre ich damit beauftragt gewesen, Dimitrije Donkić zu finden, wäre es wahrscheinlich nie dazu gekommen. Und wer weiß, wie oft ich auf den Straßen Torontos an ihm vorbeigegangen bin.2 Eigentlich hat Mara ihn wiedererkannt, obwohl sie gar nicht wusste, dass das ein Akt des Wiedererkennens war. Ohne Mara gäbe es diese Geschichte nicht, oder es gäbe sie in einer anderen Form, und jeder von uns würde darin vielleicht eine andere Rolle spielen. Mara gehört zu den Personen, die scheinbar nichts um sich herum wahrnehmen, dabei aber fast alles sehen. Oft ist mir diese Eigenschaft an ihr aufgefallen und ich habe jedes Mal darüber gestaunt, was sie nur zum Lachen brachte. An dem Abend spazierten wir am Seeufer entlang. Es war warm, die Luft war feucht und schwer, junge Männer und Frauen stießen von Zeit zu Zeit hysterische Schreie aus, als wollten sie dadurch die unerträgliche Schwüle vertreiben. Plötzlich packte Mara mich am Ellenbogen und sagte: »Guck, der Mann dort im Regenmantel, er hat schwarze Ringe um die Augen wie ein Waschbär.« Das ist ein weiteres Beispiel aus dem Arsenal der Unterschiede zwischen uns beiden, denn wäre mir der Mann aufgefallen, dann wegen seines Regenmantels, der an diesem schwülen Abend unpassend war, und nicht wegen der Ringe um die Augen, die Mara an einen Waschbären denken ließen. Ja, Waschbär, das war das Stichwort. Damals, als wir Dimitrije Donkić Waschbär nannten, hatte keiner von uns dieses Tier je in der Natur gesehen. Im Zoo unserer Hauptstadt gab es Wölfe, Löwen, Tiger, Giraffen und Elefanten, verschiedene Mäuse und Fasane, aber an einen Käfig mit Waschbären kann ich mich nicht erinnern.3 Waschbären sah ich zum ersten Mal, als wir nach Toronto kamen, aber auch da dachte ich nicht an Dimitrije Donkić, ich dachte an nichts, weil ich den verzweifelten Wunsch hatte, alles hinter mir zu lassen, so schnell wie möglich ein neues Leben zu beginnen, wieder träumen zu lernen. Vielleicht bin ich, wie gesagt, an ihm vorbeigegangen – die Neuankömmlinge besuchen doch immer dieselben Orte –, ohne zu merken, dass er es war. Damals, jetzt, egal wann, das macht keinen Unterschied, weil es mir offenbar beschieden war, ihn zu töten, was heißt, dass das Ergebnis immer dasselbe gewesen wäre. Nach dem Tod, sagte ich zu Mara, gleiche sich ohnehin alles. »Nein«, antwortete Mara, »erst nach dem Tod treten die Unterschiede zum Vorschein.« Gut, pflichtete ich ihr bei, zuckte mit der Schulter und wollte weitergehen, weil ich wusste, dass es keinen Sinn hat, mit Mara zu streiten. Selbst wenn sie am Ende ihre Niederlage zugibt, tut sie es nur, damit sie sie als einen getarnten Sieg deklarieren kann. Tarnung ist ein gutes Wort, es erinnert mich an die Zeit, als ich Dimitrije Donkić kennenlernte. Mara kannte ich damals noch nicht, obwohl wir in derselben Stadt lebten und sie in einem Park spielte, den ich oft besuchte, aber damals war sie drei Jahre alt, und Puppen und anderes Spielzeug interessierten sie mehr als der grimmige, einsame Soldat, der entgegen allen Vorschriften auf einer Parkbank lag und döste. Siebzehn Jahre später, als ich sie an der Philologischen Fakultät in Belgrad kennenlernte, waren wir beide bemüht, diesen Park (und natürlich viele andere Orte) zu vergessen, aber als jemand in einem Korridor plötzlich laut Banja Luka erwähnte, schauten wir uns an, und seitdem hörten wir, wenn ich so sagen darf, nicht mehr auf, einander anzusehen. Und ich will es gleich sagen: Mara ist mein Gewissen. Mara ist mein guter Wille. Mara erledigt immer alles, was ich verspreche, aber nie einhalte. Ohne sie, das ist jetzt ganz klar, gäbe es auch mich nicht, oder ich würde als eine schwer fassbare Gestalt unter werweißwelchem Namen existieren. Sogar diese Geschichte, die Story von Dimitrije Donkić, ist zum Teil die Geschichte von Mara, egal, auf welche Weise ich sie erzähle. Allein der Versuch sei zum Scheitern verurteilt, warnte ich Mara, weil es Dinge, weil es Menschen und Ereignisse gebe, die größer seien als Worte; sie sprengten den Umfang der Sätze und überschritten die Grenzen der Erzählung. Dimitrije Donkić, sagte ich zu Mara, sei einer von ihnen gewesen.