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Inhalt

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Titel

Widmung

Vorwort zur deutschen Ausgabe

Die schönen Tage meiner Jugend

Epilog

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Editorische Notiz

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Autorenporträt

Übersetzerporträt

Über das Buch

Impressum

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Zum Andenken an meine Angehörigen

Vorwort zur deutschen Ausgabe

Ich wurde als Frau und Jüdin – dazu arm und unsterblich – in Siebenbürgen bzw. Transsilvanien geboren, einer Gegend, die sich von jeher drei kleine Völker und drei kleine Sprachen streitig machen: das Sächsische (eine Variante des Deutschen), das Ungarische und das Rumänische. Aus diesem Grunde war ich, von einem Geburtsfehler (meiner Rasse) abgesehen, niemals imstande, meine Nationalität und meine Muttersprache genau anzugeben. Ich habe das Licht der Welt mit dem Faschismus erblickt, meine Jugend unter einer proletarischen Diktatur verbracht und zwischen beidem – zur Abwechslung – einen Ausflug nach Auschwitz sowie in sieben weitere Konzentrationslager gemacht. Das alles als sogenanntes »Kind«, so daß ich schon mit fünfzehn Jahren eine Überlebende sein sollte; was zu einer Gewohnheit wurde, denn anders als das Sprichwort sagt, habe ich den Eindruck, daß man nicht nur einmal im Leben stirbt.

Mein Gesicht und mein Alter sollten nie den auf den Ausweisen angegebenen entsprechen. So weit ich zurückdenken kann, habe ich mich nie als Kind oder als Erwachsenen oder als alt betrachtet. Und was meine Seele angeht, so ist sie eine veränderliche Größe zwischen fünf und fünftausend Jahren. So hätte ich sie an dem Tag beinahe verloren, als mir gesagt wurde: »In Ihrem Alter muß man aufpassen!« Mein Herz ist aus dem Takt geraten, und monatelang habe ich nicht mehr geschrieben. Daher meine Gewißheit, daß nicht die Jahre uns ruinieren, sondern der Skandal, uns dessen bewußt zu sein. In welchem Augenblick habe ich begonnen, an meiner Unsterblichkeit zu zweifeln? Vermutlich im Laufe einer langen Krankheit, als mir klar wurde, daß ich mich beeilen mußte, Ich zu sein, mich zu definieren, bevor es zu spät wäre. Es war in einem Sanatorium, auf einem Liegestuhl, auf dem ich sechzehn von vierundzwanzig Stunden die Karpaten vor Augen hatte. Dort war ich auf das einzige reduziert, worüber ich verfügte, um meine Person einzukreisen: das Alphabet. Ich begann, meiner Mutter Briefe zu schreiben (eine Art Tagebuch), an einem Ort, wo außer den Mahlzeiten das einzige Ereignis meine Gedanken waren. Ich fing an, sie zu verfolgen, sie zu überwachen, bei dem einen statt bei einem anderen zu verharren, kurz: eine Wahl zu treffen. Vielleicht habe ich nie daran gezweifelt, daß jeder Gedanke durchs Gehirn geht, daß Schreiben kein besonderes Talent erfordert, daß der einzige Unterschied zwischen einem Schriftsteller und einem Nicht-Schriftsteller eine Form von Aufmerksamkeit, Geduld oder Leidenschaft ist, insbesondere jene, die Bewegungen seines Geistes zu kennen und zu kontrollieren.

Ich bin mit der Gewohnheit im Lager gelandet, das Chaos in meinem Kopf zu ordnen, sowie bereits einigen hundert Seiten auf meinem Konto. Wichtiger jedoch erscheint mir, daß ich nicht einschlafen konnte, bevor ich nicht alle Ideen, die mich tagsüber beunruhigt hatten, in Worte gefaßt hatte. Sollte ich schon entdeckt haben, daß man nicht in Worten denkt? Daß das Denken nur eine Art Entwurf des formulierten Satzes ist, daß zwischen beiden eine Lücke, ein großes Loch gefüllt werden muß ...

Wenn mein Tagebuch das einzige ist, das meines Wissens je ein Lager verlassen hat, dann wundert es mich ... Anders als die Legende will, hing das meiner Meinung nach allein von uns ab. Da wir ohnehin lange vor unserer Ankunft zum Gas verurteilt waren, scherten sich unsere »Gastgeber« einen Dreck um unsere literarischen oder anderen Tätigkeiten, um unsere möglichen Überlegungen über das Reich usw. (Tatsache ist, daß es spiritistische Sitzungen gab, daß wir auf der Pritsche Gedichte verfaßten und vorlasen – Dante hätte jede Menge Zeit gehabt, seine Hölle zu vollenden). Es kam nur darauf an, Papier und Bleistift zu finden! Deshalb wurde ich zu jemandem, der in Mülleimern wühlte und hart gewordene Plakate abriß.

Gern würde ich sagen können, daß ich mir diese Fron auferlegt habe, um das Gedächtnis der Menschheit durch Einzelheiten, konkrete Kleinigkeiten zu vervollständigen, die den Dokumenten, sogar den Erinnerungen entgehen. Das wäre zwar edel, aber falsch! Wenigstens für eine Stunde am Tag der Obsession der Suppe entrinnen! Verhindern, daß ich in der Masse versinke! Meinen eigenen Bereich, ein »privates« Leben haben und vor allem nicht das Spiel meines beschissenen Schicksals mitspielen. Ohnehin wäre ich außerstande gewesen, anders zu handeln, ohne mich aufzulösen, ohne vor allen anderen zu krepieren.

Danach verbrachte ich zwei Jahre in einem Krankenhaus und starb, mit einer Langsamkeit, die meine Pfleger verwirrte. Dann wurde ich Schauspielerin, und später schrieb ich Komödien. Vielleicht war das die ungefährlichste Art, über das neue Lager zu sprechen, das Lager des »Friedens«, wo man zwar nicht vor Hunger krepierte, aber vor Heuchelei. Ich wurde auf vielen Bühnen gespielt, in der UdSSR, in den Schwesterrepubliken, überall auf der verdorrten Seite der Welt, ohne daß ich vergaß, um einen Paß zu kämpfen. Die Freiheit! Errungen dank einer Scheinehe und der Erkenntnis, daß ich sie schon immer besessen habe, sogar hinter dem Stacheldraht. Daß sie weniger von den Grenzen abhängt oder davon, ob man das Recht hat, den Wohnort zu wechseln, oder nicht; kurz, daß sie eher eine Eigenschaft des Geistes oder der Seele ist; daß man frei geboren wird, so wie man als Fürst, als Musiker oder als Clown geboren wird ...

Vielleicht habe ich die Wahl getroffen, auf französisch zu schreiben, in einer Sprache, die ich seit meinem ersten Versuch, einen Satz zu Papier zu bringen, zu kennen und zu lieben meinte. Doch war sie für meinen Geschmack viel zu gewählt, zu kompliziert, zu abgenutzt und weitschweifig im Vergleich zu meinen kleinen Sprachen aus der Heimat, vor allem zum Ungarischen, einer lebendigen, flexiblen, sparsamen Sprache mit einem besonderen inneren Humor. Ich mußte also alles neu denken, neu verfertigen, angefangen mit der Sprache. Es war, als baute man sich sein eigenes Haus, klein, funktional, hell, mit den Elementen eines prachtvollen, herrlichen Schlosses, das jedoch unbewohnbar ist in Anbetracht meiner Allergie gegen Pomp, Unbequemlichkeit und alles, was zuviel und entbehrlich ist. Von nun an war es meine Sprache nach Maß, meine einzige, meine wahre Heimat. Mit Ausnahme einiger Café-Theater und Festspiele wurden meine Stücke in Frankreich nicht gespielt: in Ermangelung von Bühnen, Beziehungen, Glück? Daher »traf ich die Wahl«, Prosaschriftstellerin zu werden, so wie ich im Sanatorium dank dem Alphabet so etwas wie eine Philosophin wurde, auch dank zuviel Zeit und zuviel Einsamkeit. Obwohl ich sie als Zurückgezogenheit (als endlosen Tunnel) erlebte, meine ich, ihr alles zu verdanken, denn sie, die Einsamkeit, ist die Quelle, der Ursprung aller meiner Werke, aller Dinge, die genannt zu werden verdienen. Währte sie ein Jahrzehnt oder mehrere? (Ich habe kein Gefühl für Zahlen, auch nicht für die Zeit.) Jedenfalls hatte ich genug davon, um mein Abenteuer in aller Ruhe wiederzukäuen: die beiden Reiche, aus denen ich geflohen war, beide gleichermaßen unheilvoll und lachhaft, obwohl sie auf scheinbar unvereinbaren Ideologien beruhten ... Wie und warum führen die Ismen, welche Absurditäten oder Logiken (ich wage zu sagen, welche »Leuchtkraft«) sie auch bergen mögen, unfehlbar zu den gleichen Ergebnissen, den gleichen Ungeheuern mit der gleichen Niedertracht? Deshalb konnte ich endlos über das Geheimnis meiner Fortdauer grübeln, über das meiner Spezies. Und mich fragen: »Sollte sie nur ein Entwurf sein, ein Pfusch der Schöpfung, die vielleicht außer Puste kam (oder ohnmächtig wurde), bevor sie Zeit hatte, ihrem Geschöpf zu seinem wahren Gesicht zu verhelfen?« Nach dem Tod der Hausmeisterin, die mich mit Tabak und Kaffee versorgte, zwang mich mein Laster, sechs Stockwerke hinabzusteigen ... Ich erinnere mich an meinen ersten Gedanken, als ich den Tunnel verließ: »Die Welt ist flach!« Vielleicht war dieser Gedanke schon vor meiner Zurückgezogenheit da (wenn nicht ihr wahrer Grund) – sollte der unglückliche Galilei umsonst widerrufen haben?

Zu jener Zeit hatte ich es auf fünf Bücher gebracht, die ich für meine wirklichen Kinder hielt, für mein Werk – während meine Notizen aus dem Lager mir wie ein ferner Anfang, ein undeutlicher Vorfahre vorkamen. Leider sollte der Vorfahre schwer auf seiner Nachkommenschaft (den Kindern meines Herzens) lasten; denn mein Name, mein Werk blieben unauflöslich mit meinem Bild einer »Märtyrerin« verbunden, als ein Nebeneffekt von Auschwitz, eine ungewohnte Reliquie, für immer in einem Museum des Grauens konzentriert. Hat mein Tagebuch deshalb sechzehn Jahre lang geschlummert, ohne daß ich daran rührte, weil ich zu sehr vom Theater in Anspruch genommen war? Oder zu weit von dem Gedanken entfernt, daß das Grauen, das ich erlebt hatte, zur Ware werden könnte. Daß es auf der anderen Seite, der gesegneteren Seite der Mauer, eine grenzenlose Nachfrage nach Blut und Tränen geben könnte: einen riesigen Markt des Leidens ...

Wie dem auch sei: als ich einzig des Überlebens wegen meine Notizen kritzelte, war ich davon überzeugt, daß sie in der neuen Welt, in der ich landen würde, ebenso unverständlich wären wie Chinesisch! Grober Irrtum! Ein Knopfdruck genügt, damit die unzähligen Skelette, die ich hinter mir gelassen zu haben glaubte, vor den humanitären Blechnäpfen aufs neue erscheinen; damit alle Tage, die Gott werden läßt, neue Holocausts auftauchen (im übrigen weitgehend vernachlässigt zugunsten des unseren, des einzigen, über den zu klagen man nicht aufhört). Als gäbe es würdige und weniger würdige Massenmorde, herausragende Opfer und belanglose. Angefangen mit den Millionen Opfern des Gulag, die unbeachtet bleiben, aus allen Statistiken herausfallen. Es ist eine merkwürdig »zugeknöpfte« Welt, wild entschlossen (wie mir scheint), die kleinen Unterschiede, die zwischen dem Individuum und seinem Computer noch bestehen, zum Verschwinden zu bringen. Darum freue ich mich jedesmal, wenn ich das Gesicht der einstigen Göre wiedersehe, die auf der Lagerstraße herumlungert und sich verblüfft sagt: »Sieh einer an, da bist du also an einer Vernichtungsstätte!«

Ana Novac, Paris 2008