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Inhalt

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Titel

Widmung

ERSTER TEIL

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Kapitel IX

Kapitel X

ZWEITER TEIL

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Kapitel IX

Kapitel X

Kapitel XI

Epilog

Nachwort

Autorenporträt

Übersetzerporträt

Über das Buch

Impressum

[Leseprobe – Jacob, Jacob]

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Für Roger Martin du Gard

ERSTER TEIL

I

Seit zehn Jahren wohnten wir in einem Mietshaus für Arbeiter in der Rue Calmels. Dort hatten wir unterm Dach zwei Zimmer mit Küche. An den Tag unseres Einzugs konnte ich mich kaum erinnern. Mir kam es vor, als würde ich das Haus mit der rußgeschwärzten Fassade seit jeher kennen, genau wie den dunklen Hauseingang und das Treppenhaus, in das durch niedrige Fenster traurig etwas Licht hereinfiel.

Im sechsten Stock angekommen, war man jedes Mal außer Atem. Dafür hatte man es ruhig, nur selten kam jemand herauf, und die Concierge überließ die Reinigung der Treppe meiner Mutter. Von sämtlichen Mietern des Hauses wohnten wir am längsten hier. Keine der Familien, die ein- oder auszogen, blieben mir in Erinnerung, mit Ausnahme der Quillets, denn ihr Sohn war mein Spielkamerad. Nur die Namen unserer derzeitigen Nachbarn hatte ich im Kopf: die Gallais, die Thévenards und die Primaults.

Die Sonne schien nur selten bei uns rein. Im Sommer trafen ein paar Strahlen schräg auf die Fenster, verschwanden aber rasch wieder. »Wir sollten den Vermieter nach einer helleren Bleibe fragen«, sagte meine Mutter oft. Und kurz darauf: »Ach, wozu umziehen? Eigentlich haben wir’s doch gut hier.«

Im Sommer war es hier oben zum Ersticken. Im Winter malten Stockflecken unlesbare Landkarten in schmutzig gelb an die Decke. Zum Glück hatten wir eine schöne Aussicht, um die uns die Nachbarn beneideten – deren Fenster gingen auf die Rue Ordener.

Wir überblickten das gesamte Umland, von Pantin bis Argenteuil, die Vorstädte, umgeben von einer sanften blauen Hügellinie.

Ich hatte Spaß daran, diese Landschaft zu verändern, wie es die Jahreszeiten tun. Unablässig übermalte ich meine Erinnerungen, die dennoch stimmig blieben. Da draußen lag die Welt. Ja, eine Welt aus Häusern, die unserem glichen, breite Straßen und Gassen, wie Flüsse zwischen dunklen Ufern, der Rue du Poteau und der Rue Championnet. An der Stelle, wo sie sich kreuzten, stand die Gemeindeschule, von der ich 1912 abgegangen war. Dann die Stadtbefestigungsanlagen, umgeben von grüner Böschung. Der Vorortgürtel mit seinen schiefen Hütten, Fabriken, die Schienen der Eisenbahngesellschaft NORD; in Richtung Saint-Denis und Gennevilliers Gasometer; und am Carrefour de la Révolte das Elektrowerk mit seinen acht Schloten, aus denen graue Rauchwolken quollen.

Diese Landschaft hielt stets Überraschungen für mich bereit. Den Vordergrund kannte ich. Das waren die einstigen Eroberungen, die ich meinen Kinderaugen verdankte. Als meine Neugierde größer wurde, entdeckte ich in der Ferne kleine Städte, Obstgärten, Wälder, an deren Rändern die Seine fließen musste. Ach, wann würde ich die Hügel dort hinten am Horizont endlich kennenlernen? Ich sagte mir, eines Tages würde mir jenes geheimnisvolle Land da draußen ebenso vertraut sein wie die Rue Montcalm.

Alles hier hatte mit meiner Vergangenheit zu tun. Das alte Gemäuer, in das ich meinen Namen ritzte, die Toreinfahrten, hinter denen ich mich versteckte, wenn ich Räuber und Gendarm spielte, die Rinnsteine, in denen ich mit meinen Freunden Staudämme aus Sand errichtete, und die von irgendeinem Straßenfeger wieder eingerissen wurden … All das war gestern, und obwohl ich mich nicht mehr auf der Straße herumtreibe, ist es immer noch die Gegenwart. Nichts hat sich geändert. Noch immer stehen dort drüben ein Waisenhaus mit vergitterten Fenstern, eine Schuhfabrik und ein verrufenes Hotel, stellt ein Fuhrunternehmer seine Wagen auf der von zwei Akazien bewachsenen Brache ab.

Meine Mutter sagte gern: »Einen solch schönen Blick haben in Paris nur ganz wenige.« Was mich noch mehr begeisterte, war das Spektakel des Himmels, der im Frühling von Schwalben bevölkert und im Winter von Wolken und Rauchschwaden verdunkelt wurde. Im Sommer saß ich abends oft stundenlang am Fenster. Der Lärm der Stadt verebbte, die Lichter gingen an. Ich suchte nach dem Polarstern, fand ihn aber nie. Vom Bett aus rief mein Vater mir zu: »Geh schlafen!« Ich antwortete: »Gleich!« In der tiefblauen Nacht ließen sich vage die schlummernden Häuser erahnen. Der Wind strich mir über die Haut, ein Lied lullte mich ein. Gern hätte ich die Stimmen verstanden, die ganz in der Nähe wisperten. Ich wusste nichts von der Welt und spürte doch, wie sie lebte. Etwas verband mich mit ihr. Was? Alles sprach zu mir: »Wart’s ab. Du kommst schon noch hinter die Geheimnisse …«

Ich hustete viel. So fassten meine Eltern den Entschluss, in diesem Jahr in den Urlaub zu fahren. Sie nahmen mich mit nach Le Tréport. Zum ersten Mal sah ich das Meer. Vor Verblüffung war ich wie benommen. Gerade war ich im Begriff, Paris und die Schlosserwerkstatt zu vergessen, als uns mein Onkel August telegrafierte. »Kommt besser zurück. Ich glaube, es gibt Krieg.«

Wir lasen nie Zeitung. Die Nachricht traf uns wie ein Schlag. In aller Eile verließen wir Le Tréport.

Am Bahnhof in Paris wartete mein Onkel bereits auf uns.

»An welchem Tag musst du los, Henri?«, fragte er meinen Vater. Dann sagte er: »Du hast keine Ahnung, was sich da zusammenbraut, Petit-Louis.«

Wir wurden von Männern angerempelt, die riefen: »Nieder mit Deutschland!« Ich dachte ans Meer, an die Ferien, und spürte, wie meine Erinnerungen daran bereits erloschen.

Wie das Leben nach unserer Rückkehr war, habe ich vergessen. Meine Mutter schwatzte auf dem Treppenabsatz mit den Nachbarinnen, während mein Vater und Monsieur Thévenard sich über den Mord an Jaurès entrüsteten. Ich schlenderte durch die Stadt. Ich kaufte Zeitungen. Voller Verzweiflung ging ich wieder hinauf in die Wohnung. Ich setzte mich ans Fenster. Ein Lüftchen wehte, Schwalben zierten den Himmel, der Glockenturm von Notre-Dame de Clignancourt erhob sich dunkel über den silbergrauen Dächern.

Wir sind immer glücklich gewesen. Meine Eltern umgaben mich mit Zärtlichkeit. All ihre Bemühungen galten mir, ihrem einzigen Gedanken. Ich war das sanfte Band zwischen ihnen, sie hörten dann jedes Mal auf zu zanken und lächelten mich an. Als ich ungefähr zehn Jahre alt war, nahmen sie mich zum ersten Mal mit ins Theater, ins Gaîté-Lyrique, wo Paul und Verginie gespielt wurde, wie mein Vater sagte. Ich amüsierte mich prächtig. Wir gingen danach noch oft dorthin, und ich sah Die Afrikanerin, Das Mädchen aus Navarra, Die Hugenotten, Die weiße Dame. Durch die Opern fand ich Gefallen an Poesie und Musik. Sie dämpften das unbestimmte Verlangen, das in mir erwachte und spendeten mir Trost, wenn ich in der Schule wieder einmal schikaniert wurde.

Im Sommer fuhren wir sonntags aufs Land zu unseren Cousins, den Brandys, die ein Landhaus in Saint-Gratien besaßen. Nachmittags liefen wir durch die Felder, wo wir das ein oder andere mitgehen ließen, hinauf zur Mühle in Orgemont, einem Freiluftlokal. Dort sah ich meinen Eltern beim Tanzen zu. Wenn es dunkel wurde, fuhren wir zurück nach Paris, die Männer auf dem Fahrrad, die Frauen und ich mit der Straßenbahn.

Ich mochte es, wenn wir drei abends im Schein der Lampe um den Tisch herum saßen. Der Arbeitstag war vorbei. Ich berichtete von meiner Lehre. Mein Vater, ein Rollkutscher, redete von seinen Freunden oder den Pferden. Meine Mutter hörte uns zu oder erzählte von der Frau, bei der sie angestellt war. Wir waren glücklich. Im Haus war es still. Vor uns lagen der Abend und eine lange Nacht voller Schlaf. Morgens standen wir auf, tranken eine Tasse Kaffee und verabschiedeten uns voneinander.

Alles in unserem Leben folgte einem Plan, wiederholte sich auf unbestimmte Zeit. Wir lebten ruhig, ohne allzu viele Sorgen. Mein Vater ging nicht zur Wahl und las keine Zeitung. Die große weite Welt rückte uns nur ins Gedächtnis, wenn es irgendein Unglück oder ein schweres Verbrechen gab. Danach vergaßen wir sie wieder. Zweiundfünfzig Mal im Jahr und an den Feiertagen waren wir frei. Dann träumten und lachten wir, gingen spazieren, bekamen Besuch von Verwandten und Freunden. Wir aßen zusammen Abendbrot, plauderten, und sangen nach dem Essen fröhlich miteinander. Je besser wir uns kennenlernten, desto stärker und dauerhafter schien uns das Glück, desto enger rückten wir zusammen.

Es wird schon dunkel, als ich meinen Platz am Fenster verlasse. Meine Mutter legt die Wäsche auf den Tisch, die sie ausgebessert hat.

»Dein Vater müsste längst da sein, Petit-Louis. Bestimmt hat er wieder ein paar Freunde getroffen.«

»Die Straßenbahnen fahren nicht mehr, also muss er zu Fuß nach Hause.«

In Wirklichkeit mache ich mir ebensolche Sorgen wie sie.

Wenn er unterwegs in der Vorstadt war, warteten wir genauso. Meine Mutter malte sich die schlimmsten Dinge aus. »Hoffentlich haben sie ihn nicht überfallen und ausgeraubt«, oder: »Bestimmt hatte er einen Unfall.« Plötzlich ging unten die Toreinfahrt, ein bestimmtes Geräusch war zu hören, das nicht wie die anderen sogleich wieder erstarb. Rasch deckte ich den Tisch.

Meine Mutter bedeutet mir, kurz innezuhalten.

»Hörst du?«

Wir gehen raus und stützen uns aufs Treppengeländer.

Ich erkenne das Knirschen von eisenbeschlagenen Schuhen und ab dem vierten Stock seinen keuchenden Atem.

»Bist du es, Henri?«, fragt meine Mutter.

Er kommt. In der Hand seinen Strohhut, das Haar zerwühlt, die Stirn schweißnass. Seine Kleidung hängt an ihm, die Adern an seinem Hals sind geschwollen, die Augen glasig. Er umarmt uns kurz, und wir gehen zurück in die Wohnung.

»Du warst mit deinen Kumpels unterwegs«, sagt meine Mutter.

»Nein«, erwidert er. »Mann, hab ich einen Durst.«

Ich fülle ein Glas. Er trinkt es in einem Zug aus, fährt sich übers Gesicht und setzt sich. Er murmelt vor sich hin. Ich glaube, er ist angetrunken. Dann zieht er ein weißes Blatt aus seiner Jackentasche.

»Es ist Krieg. Deutschland hat uns ein Ultimatum gestellt.«

»Wieso, Papa?«

»Tja, wir sind mit Russland verbündet, weißt du.«

Meiner Mutter fällt die Zeitung aus der Hand. Ihre Augen sind von Schatten umgeben wie nach einer durchwachten Nacht, ihre Lippen bleich.

»Wirst du gehen?«

»Na sicher! Ich werde dasselbe tun wie alle anderen auch.«

Ich sehe sie abwechselnd an, ihr seltsames Benehmen überrascht mich, ihr Schweigen macht mir Angst. Ich fühle mich unmittelbar bedroht in meinem Glück. Mir ist heiß, ich zittere. Schließlich rinnen mir große, bittere Tränen über die Lippen.

»Du wirst gehen«, sagt meine Mutter noch einmal.

»Ich will nicht, dass du weggehst, Papa. Ich will nicht!«

Ich klammere mich an seine Kleidung, werfe mich schluchzend an seine Brust. Er fasst mich am Kinn, wischt mir die Tränen weg und sagt mit zärtlicher, ernster Stimme, die ich noch nie an ihm gehört habe: »Du musst nicht in den Krieg.«

Sein Gesicht verzerrt sich. Er sackt in sich zusammen und bleibt eine Weile regungslos. Schließlich schiebt er mich weg und fängt an, von Cousin Brandy zu erzählen, der den Tongking-Feldzug mitgemacht hat.

»Der ist auch zurückgekommen. Und dabei gab’s da massenhaft Fieberkranke.«

Seine Worte sind wie ein Rauschen in meinen Ohren. Ich betrachte ihn. Er ist einundvierzig Jahre alt. Noch nie ist mir in den Sinn gekommen, dass er sterben könnte. Nie mehr seine Stimme zu hören, nie mehr dem Lächeln seiner klaren Augen zu antworten, nicht mehr seinen blonden feuchten Schnurrbart auf meiner Stirn zu spüren. Nicht dass ich ihm immerfort mein Herz ausschütten würde, aber wenn ich leide, ist er da, wie ein Gott.

»Papa, halt mich weiter fest.«

»Na los«, antwortet er, »ab ins Bett.«

Ich schlafe im Esszimmer. Zwischen dem geschnitzten Eichenbuffet und dem Garderobenständer richte ich mein Klappbett her. Ich ziehe mich aus. Meine Sachen kommen auf einen Stuhl, die Schuhe unters Bett. Matt und gerädert, als würde ich was ausbrüten, lege ich mich schlafen.

Meine Eltern stehen am Fenster. Ich höre sie kaum. Worüber reden sie? Sie kennen sich seit achtzehn Jahren. Ich sehe sie wieder als Hochzeitspaar auf einer ausgeblichenen, altmodischen Fotografie vor mir. In Gedanken gehe ich den Weg, den sie bis zum heutigen Tag zurückgelegt haben. In meiner Kindheit waren sie oft in Sorge um meine Gesundheit. Habe ich sie jemals glücklich gemacht?

»Schläfst du, Petit-Louis?«, fragt mein Vater.

Ich antworte nicht.

»Er ist eingeschlafen«, murmelt meine Mutter. »Glaubst du, dass er auch irgendwann gehen muss, Henri? Ah, als hätten wir nicht schon genug durchgemacht …«

»Ach was, auf keinen Fall ziehen die ihn ein. Die nehmen doch keine Kinder!«

Auf dem Tisch liegt eine karierte Wachstuchdecke. Gedankenverloren schiebt mein Vater ein Brotkügelchen zwischen den Quadraten herum.

»Gib dir ein wenig Mühe«, sagt meine Mutter. »Weißt du, wo du heute Abend essen wirst?«

»Ach, heute Abend …«

»Ich hab dir extra ein anständiges Mittag gekocht.«

Nie zuvor hat mich das Gesicht meiner Mutter dermaßen gerührt. Nur selten weicht der Ernst darin einem Lächeln. Ich kenne es in- und auswendig. Ich habe es zu oft angeschaut, als dass ich es noch wirklich sehen könnte. Heute jedoch erkenne ich sie plötzlich wieder, die Falten auf ihrer Stirn, das grauer werdende Haar, heute kann ich auf ihren schmalen, bleichen Lippen sehen, was an Bitterkeit, Leidenschaft und heimlichen Wünschen in ihr ist, entdecke ich in ihren braunen Augen unter den allzu schweren Lidern ihre Güte und Bescheidenheit.

Sie räumt den Tisch ab.

»Henri, was willst du an Wäsche mitnehmen?«, fragt sie.

»Darum musst du dich nicht sorgen, Jeanne. Die Armee stellt alles.«

»Du nimmst trotzdem ein paar Hemden und warme Unterwäsche mit. Petit-Louis, komm mit ins Schlafzimmer.«

Sie öffnet die Tür zum Spiegelschrank: Der Schrank ist angefüllt mit Taschentüchern, Laken und Handtüchern, die unbenutzt auf spitzenverzierten Brettern vor sich hin gilben. Regungslos steht meine Mutter davor und lässt ihren glänzenden Blick zwischen den Stapeln hin und her wandern. Ihre Wahl fällt auf neue Hemden.

Wir gehen zurück ins Esszimmer.

»Hier ist deine Wäsche. Aber geh bitte sorgsam damit um.«

Mein Vater stopft alles in einen braunen Segeltuchsack, den er immer nahm, wenn er zum Angeln ging. Er schnürt ihn zu. Dann zieht er drei Einhundertfrancscheine aus seiner Hosentasche und legt sie auf den Tisch.

»Mein gesamter Monatslohn«, sagt er. »Ich denke, das dürfte reichen, bis ich zurück bin.«

Ich gehe auf ihn zu, nehme seine Hand.

»Papa, und wenn du nun einfach hierbleibst?«

»Die würden mich holen kommen.«

»Wir könnten dich verstecken.«

Er schüttelt den Kopf. Dann öffnet er sein angeschmutztes Soldbuch, das meine Mutter vorhin aus einer Blechdose hervorgeholt hat, in der sie unsere »Dokumente« verwahrt.

»Siehst du die eingeklebte rote Marke hier?«, fragt er mich. »Ich muss zum 1. Pionierregiment, in Versailles.«

Ein Sirenengeräusch ertönt, auf der Straße wird es laut. Heute Morgen noch hoffte ich auf ein Wunder. Ich wartete darauf. Ich lief zum Rathaus, um die Anschläge zu lesen. Sie verkündeten die »allgemeine Mobilmachung«. Mein Onkel August ist bereits fort.

Mein Vater setzt seine Mütze auf und kommt lächelnd auf mich zu.

»Kopf hoch, Petit-Louis.«

Er drückt mich an sich.

Ein Schrei reißt uns auseinander. Meine Mutter ist auf einen Stuhl gesunken.

Mein Vater wirft sich vor ihr auf die Knie. Er streichelt ihr Gesicht, ruft ihren Namen, flüstert Zärtlichkeiten. Mich schiebt er weg. Ohnmächtig wohne ich der Szene bei. Ich höre, wie meine Mutter aufstöhnt. Der Schmerz nimmt mir die Luft. Ich erkenne die Gesichter meiner Eltern nicht wieder, auch ihre Stimmen nicht, ich spüre nicht mehr, wie ihre Liebe mich umhüllt.

Meine Mutter öffnet wieder die Augen.

»Komm schon«, sagt mein Vater, »das ist, als würde ich meine achtundzwanzig Tage Reserve absitzen. Versailles ist doch nicht weit.«

»Henri, geh noch nicht.«

»Gut.«

Er setzt sich hin. Meine Mutter nimmt neben ihm Platz. Wir hätten uns so viel zu sagen! Mir scheint, wir haben Jahre des Glücks verloren. Beinahe fröhlich plaudern wir.

»Nun denn«, sagt mein Vater.

»Papa! Steh nicht auf! Noch fünf Minuten.«

Er nimmt seine Tasche. Er steht auf. Sein verschwommener Blick ruht auf uns und lässt uns nicht mehr los. Rückwärts geht er zur Wohnungstür und öffnet sie.

»Henri!«, schreit meine Mutter und streckt die Arme aus.

Auf der Schwelle bleibt er stehen. Er zögert kurz. Dann kommt er noch einmal zurück und umarmt uns. Ich spüre seinen Atem auf meinem Gesicht, seine heißen Tränen. Er stammelt unzusammenhängende Worte. Ich will ihn noch einmal umarmen, aber er macht sich los und geht.

Ich stürze ihm nach. Meine Mutter hält mich am Arm zurück. Das Ohr an die Tür gepresst, lausche ich, wie mein Vater langsam die Treppe hinuntergeht. Ich zucke zusammen. Er ist stehen geblieben, gleich kommt er zurück! Nein, er geht weiter. Seine Schritte werden leiser. Eine Tür klappt. Dann nichts mehr.

»Er ist bald wieder da, Petit-Louis«, sagt meine Mutter.

Sie bugsiert mich ins Esszimmer.

»Eben gerade saß er noch hier.«

»Ja. Zum Glück geht er nicht weit fort, schon morgen hören wir von ihm, oder?«

»Ich weiß nicht, Mama.«

»Hast du Hunger?«

Ich schüttle den Kopf. Da sagt sie, ich solle ins Bett gehen.

»Ich bin am Ende«, flüstert sie.

Es wird dunkel. Ich klappe mein Bett aus.

Ich liege auf meiner Decke und lausche dem dumpfen Geräusch der Züge, die Richtung Norden fahren.

II

Ich öffne die Augen: Niemand sitzt am Tisch.

Normalerweise erblickte ich beim Aufwachen meinen Vater, der seine Suppe löffelte, und meine Mutter fragte, ob ich gut geschlafen hätte, wobei sie mir eine Schale mit Kaffee reichte. Dann stand ich auf und trabte in die Küche, um mir das Gesicht zu waschen. Manchmal blieben meine Eltern auch noch eine Weile im Bett, und wir mussten uns allesamt sputen.

»Wir haben verschlafen!«, rufe ich.

Meine Mutter taucht auf.

»Was ist los?«

Ich komme zu mir. Mir fällt wieder unser Abschied gestern ein.

»Schon gut, Mama.«

»Na los, hoch mit dir. Du fährst nach Versailles, deinen Vater besuchen.«

»Nach Versailles?«

»Du bist alt genug, du findest dich schon zurecht. Zu zweit würde es zu viel kosten. Ich habe ein Päckchen gepackt. Ich weiß nicht, wo ich meinen Kopf hatte, dein Vater hat die Hälfte seiner Sachen vergessen.«

Für gewöhnlich gehe ich nicht allein weg. Trotzdem wird mir beim Gedanken, heute zu verreisen, nicht bange. Doch werde ich es wirklich schaffen, meinen Auftrag auszuführen? Ich bitte um genaue Erklärungen. Nach und nach bekomme ich Selbstvertrauen.

»Das wird eine ganz schöne Tour«, sagt meine Mutter.

Sie begleitet mich ins Treppenhaus und gibt mir einen Kuss.

An der Gare des Invalides drängen sich die Leute.

Ich stelle mich an einem Schalter an. Als ich dran bin, stellt man für Versailles keine Fahrkarten aus. Einen Zehnfrancschein in der Hand, stürze ich woandershin. Leute rempeln mich an. Nie im Leben werde ich es in den Zug schaffen.

Endlich habe ich meine Fahrkarte. Meine Mutter hat zu mir gesagt: »Nimm bloß nicht die falsche Richtung.« Niemand da, den ich fragen könnte. Ich höre, wie abgepfiffen wird. Fahrgäste beeilen sich, ich folge ihnen und springe in einen Zug.

Kurz darauf fährt er ruckartig los. Besorgt frage ich: »Fährt der nach Versailles?«

Ja, antwortet irgendwer.

Wir sind ungefähr zu fünfzehnt in dem Abteil, es ist zum Ersticken. Ich stehe, mit einer Hand halte ich mich an der Gepäckablage über mir fest. Frei von Furcht oder Sorgen, ja beinahe begeistert, reden die Fahrgäste vom Krieg.

Plötzlich hält der Zug.

»Was ist los?«

Ein Mann beugt sich aus der Tür.

»Das ist der Tunnel von Meudon. Er wird bewacht. Die Preußen wollten ihn sprengen. Es heißt, sie hätten einen Spion geschnappt.«

Ruckelnd geht die Fahrt weiter. Alles schweigt.

Endlich sind wir da.

Ich renne aus dem Bahnhofsgebäude. Draußen treffe ich auf Infanteristen, Kavalleristen und Artilleristen. Ich gehe aufs Gratewohl los. Ich sehe keine Kaserne, auch keine Soldaten des 1. Pionierregiments. Also kehre ich um und spreche ein paar Leute auf der Straße an. Man zeigt mir den richtigen Weg.

Die Kaserne Petites-Écuries liegt gegenüber vom Schloss. Ich gehe am Zaun entlang und klettere schließlich hinüber. Niemand hält mich auf. Ich gehe noch ein Stück weiter, schlüpfe zwischen ein paar Wagen hindurch und betrete einen leeren Gang.

Dort bekomme ich wieder Mut. An einer Tür hängt ein weißes Schild: Büro. Ich klopfe an, jemand antwortet. Mit pochendem Herzen gehe ich hinein, dann sage ich rasch und ohne aufzublicken:

»Kann ich meinen Vater besuchen?«

»Verflixter Lausbub, geh wieder heim!«, erwidert eine strenge Stimme.

Das Gewehr an der Schulter, exerzieren Soldaten im Hof. Ich bleibe vor der Tür auf dem Bürgersteig stehen.

Ein Soldat geht hinein.

»Kennen Sie Henri Decamp? Er ist mein Vater.«

Er schüttelt langsam den Kopf.

»Du wirst ihn kaum finden, Kleiner. Wir sind drei- oder viertausend Reservisten in dem Laden hier.«

Sobald ein Soldat herauskommt, stelle ich ihm die gleiche Frage. An einer langen geweißten Mauer mit vergitterten Fenstern im Erdgeschoß werfe ich einen Blick ins Innere der Kaserne. Mein Herz fängt wieder heftig an zu klopfen, wenn man mich nun ertappt? Eine Artilleriebatterie überquert die Place d’Armes. Oben auf dem Munitionswagen sitzen Männer, die Geschütze sind mit Blumen und Zweigen geschmückt. Danach kommt die Infanterie vorbei, Hunderte von Männern, die Gewehre geschultert. Es heißt: »Sie gehen an Bord.« Dragoner und funkelnde Kürassiere erscheinen auf der Bildfläche. Sie werden beklatscht, man jubelt ihnen zu. Auch ich rufe. Fast gerate ich im Gedränge unter die Hufe der Pferde. Trunken höre ich das Signal einer Fanfare.

Der Staub legt sich, der Lärm verebbt. Ich beziehe wieder meinen Posten vor der Kaserne. Die Mauern sind trostlos und hoch wie bei einem Gefängnis. Ich rufe:

»Papa!«

»Du schon wieder!«, meint ein Wachsoldat. »Mach, dass du wegkommst.«

Ich umklammre noch einmal die Gitterstäbe und blicke in den Hof.

Unterm Arm das Päckchen, das meine Mutter mir mitgegeben hat, gehe ich schließlich davon. Überall Soldaten, Gruppen von Reservisten, die von Unteroffizieren im Gleichschritt in die Kaserne gebracht werden. Ein Konvoi nach dem anderen: Sanitätswagen, Artillerieprotzen, Kraftfahrzeuge.

Stimmen werden laut. Vor einem Gebäude hat sich eine Menschenmenge gebildet. Ich schlüpfe hindurch und stehe schließlich vor einer Wand, an der soeben eine »Bekanntmachung« angeschlagen worden ist, wie es heißt. Ich lese. »Die französischen Truppen sind in den Elsass vorgerückt. Wir haben Thann eingenommen und marschieren auf Mühlhausen zu.«

»Wir haben 6000 Gefangene gemacht!«

»Wir haben eine bayerische Fahne erobert!«

»Wisst ihr, die Kosaken sind in Ostpreußen eingefallen!«

Ich höre nicht mehr zu. Der Sieg! »Papa muss doch nicht kämpfen!«, jubelt eine Stimme in mir.

Ich fahre zurück nach Paris. Ich komme mit guten Neuigkeiten nach Hause. Doch kaum habe ich freudestrahlend den Mund aufgemacht, ruft meine Mutter: »Ich hab deinen Vater getroffen. Er sollte in La Villette Pferde holen, da hat er sich kurz davongeschlichen. Weißt du, er hatte seine Soldatenkluft an. Alle bei uns auf der Etage sind aus den Wohnungen gekommen und haben ihn bestaunt. Und du? Ich darf gar nicht dran denken, dass ich dich für nichts und wieder nichts dahin geschickt habe.«

Ich berichte ihr von meinem Tag. Ich spreche laut, bausche meine Erinnerungen auf, die Parade auf dem Platz, das großartige Drumherum, ein Aufmarsch, noch viel erhebender als der 1912 in Longchamp! Mit den Füßen stampfend, ahme ich das Geräusch der Trompeten und das Grollen der Geschütze nach.

»Genug jetzt, Petit-Louis.«

Meine Mutter gibt mir einen Kuss.

»In nicht mal einem Monat ist dein Vater wieder da«, versichert sie mir.

Mit ruhiger Stimme antwortet Monsieur Bernard auf meine Fragen:

»Hör zu, meine Arbeiter wurden allesamt eingezogen, und ich melde mich auch bald bei meiner Einheit. Ich weiß nicht, wann ich die Werkstatt wieder aufmache. Sieh zu, dass du solange woanders unterkommst.«

Ich gehe ohne Bedauern. Im Grunde genommen wollte ich immer raus aus diesem Laden, weg von den gehässigen, brutalen Gesellen und dem Vorarbeiter, der so streng zu den Lehrlingen war. Ein richtiger Arbeiter bin ich noch nicht, aber ich bin sicher, ich finde eine Stelle.

Ich werde länger Ferien haben, vielleicht dauern sie sogar bis zum Herbst, wie früher zu Schulzeiten.

Ich treibe mich in der Stadt herum. Meine Mutter lässt mich allein gehen. Sie selbst bleibt zu Hause, schließlich könnte mein Vater jeden Moment auftauchen, wie sie sagt. Auf den Straßen bilden sich ohne größeren Anlass immer wieder Menschengruppen. Frauen kommen miteinander ins Gespräch, Arbeiter verlassen ihre Baustellen, Fußgänger bleiben wild gestikulierend stehen, und immer findet sich jemand, der den Sieg unserer Armee voraussagt. Trotz der drückenden Hitze liegt eine Art allgemeiner Jubel in den Gesichtern, auch Stolz. Plötzlich ertönt Geschrei: ein Zeitungsverkäufer kommt angestürmt, die neusten Siegesmeldungen unterm Arm. Die Leute schubsen, jeder will zuerst lesen. Noch nie bin ich aus meinem Viertel rausgekommen, ich lebe hier wie in einer kleinen Stadt, habe täglich dieselben Straßen vor Augen, dieselben Geschäfte, doch plötzlich spüre auch ich, wie mich der Wirbel erfasst und mit sich trägt …

Ich gehe, die Hände in den Taschen. Ich überquere laute Straßen und solche, die wie ausgestorben sind. In den Schaufenstern hängen Schilder in den Trikolorefarben: »Geschlossen bis zum Ende der Kampfhandlungen«, auf den Gehwegen und Mauern das Gekritzel von Kindern: »Nieder mit dem Kaiser«. An einer Kreuzung, wo ein patriotisches Liebeslied erklingt, bleibe ich stehen.

Mit einem Mal höre ich Lärm. Leute rennen vorbei, ich schließe mich ihnen an und gelange zu einem Laden. »Verfluchte Diebe!«, ruft wer. Ich beginne ebenfalls zu brüllen.

Die Schaufenster sind schon kaputt, auch die Regale: halb zertrampelt und verwüstet liegen Eierpackungen, Gemüse, Flaschen und Konservenbüchsen in einem wilden Durcheinander da. Männer fuchteln herum, beschimpfen sich und dreschen aufeinander ein, Frauen kreischen. Hastig stopfen alle ihre Taschen voll. Direkt vor mir stürzt ein Stapel Kekse um. Ich beuge mich runter und nehme mir einen. Danach schnappe ich mir eine Büchse Sardinen, dann zwei, drei, während ich mich gleichzeitig umschaue, was ich noch mitgehen lassen könnte, ohne allzu viel Ärger zu bekommen.

Ein wild gewordenes Weib, in der Hand eine schon prall gefüllte Schürze, schimpft unablässig vor sich hin: »Verdammte Verräter!« Eine zerlumpte Gestalt verpasst mir einen Stoß mit dem Ellbogen. »He, Kleiner! Komm hier rüber.« Mit einem Augenzwinkern deutet er auf die Kasse.

Jemand ruft:

»Die Bullen!«

Es wird hektisch. Leiber wälzen über den Boden.

Die Taschen prall gefüllt, renne ich weg, aufs Gratewohl in eine Seitenstraße hinein. An den Fenstern rufen Leute: »Die Läden werden geplündert!« Ich höre das gellende Quäken einer Feuerwehr. Ich renne, aber meine Beine sind zu schwach. Mir klappern die Zähne, ich wage nicht, mich umzudrehen. Ein Wort, das ich im Laufen aufschnappe, summt mir in den Ohren: »Dieb!«

Um die Polizisten von meiner Spur abzulenken, kehre ich um.

In einer menschenleeren Straße bleibe ich schließlich stehen und werfe zwei der Konservenbüchsen, die ich in der Hand halte, in einen Gulli. Ich zwinge mich, langsam weiterzugehen.

Dann bin ich zu Hause.

»Was ist denn mit dir los?«, fragt meine Mutter.

Ich lasse mich auf einen Stuhl sinken und berichte ihr keuchend, was geschehen ist.

»Du bist verrückt, Petit-Louis, verrückt! Du hast etwas sehr Schlechtes getan. Wieso mischst du dich in so was ein? Wenn du dich so aufführst, lasse ich dich nicht mehr alleine weg. Soll ich etwa Ärger mit der Polizei bekommen? Komm, pack deine Taschen aus. Und hör auf zu murren … wenn dein Vater jetzt käme.«

Eine nach der anderen hole ich die Konservenbüchsen hervor und lege sie auf den Tisch.

»Wir verstecken sie im Buffet«, murmelt meine Mutter. »Man kann nie wissen, vielleicht brauchen wir sie noch.«

Sie räumt alles weg.

Ich gehe zum Fenster.

Ich betrachte die Landschaft. Doch heute hat ihr Anblick nichts Besänftigendes. Ich schäme mich. »Das war wirklich verrückt, Petit-Louis.« Ich habe dasselbe getan wie alle anderen auch. Ach, dieser Krieg, schon hat man sich nicht mehr im Griff. Was soll nur aus uns werden, wenn er weitergeht?