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Inhalt

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Titel

ERSTES BUCH: ABTEILUNG PROPAGANDA

In der Friedrichstadt

Der Eintritt ins Büro

Eine Sekretärin entpuppt sich

Andere Gesetze?

Eine tödliche Chance

Aufriß einer nackten Existenz (Monolog)

Intensive Arbeitsweise

Einerseits – Andererseits

Das Tagebuch der Gudula Öften

Der Weg nach Hause

ZWEITES BUCH: PRIVATE SPÄSSE

Die heimliche Schande

Die drei Schilhaneks

Dahlmannstraße, Gartenhaus links

Briefe, die der Frühling schreibt

Weibergeschichten

Nationale Sonntagsbetrachtung (Monolog)

Zwei Frauen von Geist

Ein Beschluß wird gefaßt

Das Märchen vom Punkt

Aus Musikalien werden Zigarren

DRITTES BUCH: EIN GESPENST GEHT UM

Variationen über den Schatten

Die Rückkehr ins Büro

Gerüchte und Recherchen

Die Bombe

Auf die Straße gesetzt

Angstprodukte gefällig? (Monolog)

Im Namen der Hinterbliebenen

Dialektik und Menschlichkeit

Das Tagebuch der Gudula Öften

Wenn und Hätte

Martin Kessel – Mein erster Roman

Autorenporträt

Über das Buch

Impressum

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ERSTES BUCH

ABTEILUNG PROPAGANDA

In der Friedrichstadt

I

Täglich, zumal bei Büroschluß, läuft ein Zittern durchs Zentrum, durch die Fundamente Berlins, als wäre nun wieder etwas Unvorhergesehenes im Gang.

Alles ist unterwegs. Wer sich frühmorgens pünktlich im Gebäude seiner Firma eingefunden hat, wird nun wieder – nach einem funktionellen Verdauungsprozeß, der den Menschen zur bloßen Arbeitskraft degradiert und deren Bestes sich zunutze gemacht hat – auf die Straße gesetzt und seinem Privatschicksal überlassen. Die eine Organisation entläßt, die andere empfängt, aus der Arbeitskraft wird ein Fahrgast oder ein Fußgänger. Diesen wiederum öffnen sich Kinos und Restaurants, und jedes Stadium fordert seinen Tribut.

Spießt eine Stange irgendwo in die Luft, auch Haltestelle genannt, ist ein Loch irgendwo zur U-Bahn hinunter oder ein Podium, auch Bahnsteig genannt, gleich findet daselbst eine Kristallisation statt. Leute sammeln sich an, Passanten der verschiedensten Gattung, die’s eilig haben, aber mit einer Ernsthaftigkeit auf den Gesichtern, als wären es letzte Vereinsmitglieder ums Banner. Ein Dunst steigt auf, ein Geruch wie aus der Manege, und über all die fixen Ideen und wahrzunehmenden Interessen hin spielt der diffuse Widerschein des Lichtes, lautlos, als einzig zärtliches, Träume spinnendes Element.

Tag für Tag, in einer Art Schlafwandel der Gewohnheit, erneuert sich das, ein schweigsames von Hand-zu-Hand-Gehen, und in mehreren Schichten sind die besten Köpfe dabei, auch fürs Unvorhergesehene die einwandfrei besten organisatorischen Formeln zu finden. Ist nicht alles durch Zeichen geregelt, durch Signale, Paragraphen und Übereinkünfte, durch eine Sprache, deren Geometrie in nahezu atavistischer Weise tabu ist, und hat sich nicht im Laufe des Funktionierens etwas herausgebildet, das Beachtung verdient, eine Art gläubige Sorglosigkeit, ein Lakonismus vor der höheren abstrakten Ordnung? Denn was wäre, käme heut einer und stocherte mit dem Spazierstock in diesem Ameisenhaufen herum – Beispiele, die aus der Geschichte bekannt sind –, oder es leistete sich jemand den Scherz, dem ersten besten, gleichgültig wem, wie man als Kind es den Käfern zuleide getrieben hat, einen Strohhalm quer vor die Füße zu legen? Hin und her würde er laufen, womöglich mit Selbstmordgedanken, und in höchster Not kämen aus allen Vierteln Gleichbetroffene und Gleichgesinnte hinzu, und schließlich würden sie einen Saal erstürmen, um sich dort zu organisieren – und dies alles wegen eines Strohhalms.

Der Reisende freilich, der vom Bahnhof aus die Eingeweide Berlins betritt, um hier, gewisser Erlebnisse willen, unterzutauchen, ahnt im zehnten Fall nicht, wohin er geführt wird, auch tappt er blindlings über alle Risse und Strohhalme hinweg. Er hat sich mehr für die Gesamtansicht entschieden, für Aspekte und Panoramen, und so schwärmt er zunächst für Sehenswürdigkeiten, kaum verwundert, daß auf manch einer Säule ein Engel schwebt, der die ganze Gattung verballhornt. Einen Reisenden kümmert das wenig. Solang die Örtlichkeit, wo er sich befindet, genau der in seinem Führer bezeichneten entspricht, tippt er den Finger darauf und ist zufriedengestellt. Vielleicht, da das Nachkontrollieren von Sehenswürdigkeiten anstrengt, gähnt er einmal, es nachlässig mit dem Handrücken verdeckend, und das nächste Mal gähnt er dann wieder. Hi, es kennt mich ja niemand, denkt er. Aber dieser entspannende Gedanke hat ihn unvorsichtig gemacht, und so kommt es, daß er vor der dritten gähnenden Sehenswürdigkeit peinlich hereinfällt. Er ist beobachtet worden. Ein Lausejunge hat ihn beobachtet und macht sofort einen Witz, schlagfertig genug, so daß der Reisende sich gezwungen sieht, den Mund auf ewig zu schließen. »Zustände sind das«, murmelt er betroffen, ehe er sich, in Ermangelung eines Besseren, der nächsten – hoffentlich einer erotischen! – Sehenswürdigkeit in die Arme wirft.

Von Reisenden also ist nichts zu befürchten, und es zeigt sich, daß, wie jedermann zugeben wird, schärfere und kältere Maßnahmen erforderlich sind, um das Leben dieser Stadt in die Gewalt zu bekommen, wie ihr selbst es gelang mit den Menschen.

Alles ist unterwegs. Es ist der Fluchtcharakter Berlins, das sich zwar behördlicherseits ein Zentrum geleistet hat, von welch letzterem aber niemand behaupten könnte, dies sei der Mittelpunkt. Es scheint vielmehr, als halte sich ein Koordinatensystem von Linien in dauernder Spannung, mit einigen darunter, die in leibhaftiger Projektion ausbrechen aus dem Spannungsgefüge, Ausfallstraßen, so breit, daß die Sonne auf ihnen sich langweilt. Andernteils: da sind die Linden. Als eine Achse durchqueren sie das Ganze, aber nach einigen hundert Metern haben sie bereits den Namen gewechselt; plötzlich sind sie eine Chaussee. Oder da ist, einige Querstraßen südlicher, die Leipziger Straße, gewiß eine mehr geschäftlich nivellierte Achse, nicht so repräsentativ, und es ist zu begreifen, warum sie hinläuft, als hätte sie mit der anderen nicht das geringste zu tun – aber auch sie wechselt nach ein paar hundert Metern den Namen. Draußen vielleicht, am Wannsee oder in Marzahn, begegnen sich beide, jedoch ihr Gedächtnis verläßt sie, und sie erkennen sich nicht. Es ist, als suchte man eine Sympathie zwischen zwei Parallelen, von denen die Mathematik behauptet, daß sie sich im Unendlichen schneiden, während die Praxis behauptet: sie schneiden sich, wie zwei verfeindete Familien sich schneiden! – Ab und zu bemühen sich zwar die Plätze, in dankenswerter Weise einen neutralen Ausgleich zu schaffen, ein Behälter zu sein für den Fluchtcharakter, für die graue Gleichgültigkeitserklärung der Straßen – jedoch auf wie lang? Unverrückbar bekundet leider Berlins topographischer Grundriß das traurige Bild einer gegenseitigen Halsabschneiderei.

Sichtbarer freilich als diese Interna des Bewußtseins wachsen die Gebäude herauf, einem spekulativem Geheiß zufolge, in ihrer, wie ein aus kalifornischen Ländern mit Erfolg zurückgekehrter Filmschauspieler es nannte, »deklarierten Unschönheit«. Da es ihnen zur Häßlichkeit an Charakter fehlt, sind sie wahrscheinlich deklariert unschön. Oft bröckelt es in den Fassaden, von der Rückwand der Höfe zu schweigen; dann sind als einzige Hinterlassenschaft graugelbe Flecken zu sehen, Flecken des Harms, rasch mit einem Firmenschild zugedeckt; und wird ein Mietbewohner nach dem Hauswirt gefragt, so schüttelt der Gefragte meistens den Kopf, ratlos, und verweist auf den Verwalter. Denn der sagenhafte Besitzer ist unterwegs, auch er ist meist unterwegs. Zur Bekräftigung dessen saust die funktionierende Vertikale des Fahrstuhls in ihrem Drahtkäfig auf und nieder, die innere abgegriffene Höhe dieser Häuser durchmessend, während die einzelnen, bald dieser, bald jener Sache dienstbaren Räume durchlöchert sind von der harten Geschwätzigkeit der Diktate, dem Grillengewisper der Schreibmaschine, falls es nicht der Totenwurm ist.

Wie es so aushält, dieses Gemäuer, in all seiner Abnutzung immer noch aushält, in einer bis ins Schmutzige reichenden Geduld, wie es dann in den Fassaden zu perlen und künstlich zu fließen beginnt, die Rettung im Glanz der Propaganda suchend, in der Neuheit der Stunde, die auch die verlebtesten Dinge heimisch sein läßt durch eine milde, gern trügerische Beleuchtung, wie dann plötzlich alles, unbekümmert um Herkunft und Adel, in vollendeter Abendtoilette dasteht, bereit zur Premiere, ein Produkt dieser Stadt, und wie das Leben so leicht zu werden scheint unterm Schmuck seiner Lichter, bis inmitten des Ruins das Märchen beginnt, und wie sich dann ein Zittern durchs Zentrum stiehlt, durch die Fundamente auch der Existenz, als wäre nun wieder etwas Unvorhergesehenes im Gang … »Keinen Schritt weiter!« sagt ein Plakat in der Friedrichstraße, als nehme es Bezug darauf. »Was wird hier in Kürze eröffnet?«

II

Unter den besten Auspizien, die Arbeit hinter sich und eine Schlangenlinie von Vergnügen vor Augen, erschienen im Portal eines großen Bürohauses zwei junge Herren, einer so groß wie der andere, gleichaltrig beide. Es wäre ihnen am liebsten gewesen, man hätte sie für Gentleman-Einbrecher gehalten, aber da sie nur zwei ganz gewöhnliche Angestellte waren, Propagandisten, gaben sie sich auch damit zufrieden. Außerdem hatte der eine von beiden einen Titel, den Doktor, und er verfehlte auch nicht, sich stets so zu nennen: Doktor Geist – nicht allein, weil jeder Friseur jeden besseren Herrn einen Doktor nennt, sondern aus Gründen der Übereinkunft, aus Praxis, entsprechend manch intelligenten Leuten, deren eigentliche Versicherungsgesellschaft die Skepsis ist. Nun, Skeptiker glaubte Doktor Geist gleichfalls zu sein, daneben indessen hatte er eine große Schwäche fürs Unerreichbare, für Eleganz der Kleidung wie der Sprache, und daher legte er auch beim Betreten der Straße größeren Wert auf seine Haltung als sein Kollege: Max Brecher.

Genau mit der Minute, nicht eher, nicht später, hatten sie droben in der Abteilung Propaganda ihre Arbeit niedergelegt, um gemeinsam, nicht ohne sportliche Rivalität, die Stufen des hohen Treppenhauses hinunterzuspurten, unten am Portier Baumann vorbei und hinaus, wo sie dann keuchend festzustellen beliebten, daß das Ergebnis zwischen ihnen noch immer wie sonst lautete: eins zu eins. Keiner von beiden hatte einen Vorteil erreicht; sie verdienten nicht üppig, sie gehörten zur soziologischen Kategorie derer, von denen das Sprichwort sagt: zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel – wobei allerdings unter Leben ein etwas luxuriöseres Gefilde verstanden sein will, denn einfach zu leben hatten sie. Unten auf der Straße wiederholte sich dann das sonst kaum beachtete Schauspiel, daß sich zwei mittelmäßig bezahlte Arbeitskräfte in Herren verwandelten, die davonspazierten – was kostet die Welt!

Aus Gesprächen war zu entnehmen, daß sich die beiden seit ihrer Jugend kannten, daß sie Schulkameraden gewesen waren – in diesem fatalen Provinznest! – daß sie gemeinsam hier in der Reichshauptstadt ihren Studien obgelegen, und, in einem seltenen Dusel, beide im gleichen Unternehmen eine Stellung gefunden hatten, nur mit dem Unterschied, daß der eine, angeblich seinen Leuten zu Hause zulieb, weniger für sich, sein Examen gemacht, während der andere, Brecher, großzügig, obwohl nicht ganz freiwillig, darauf verzichtet hatte. Da nun die letzte aller staatlich betreuten Bildungsanstalten durchlaufen war, bereitete es ihnen eine um so größere Genugtuung, dem Schein ihrer neuen zugefallenen Freiheit zu Leibe zu gehen.

»Was hab ich im Leben nicht alles gelernt!« rief Brecher.

»Und wieder vergessen«, fügte sein Kollege hinzu.

»Schon als Junge habe ich Dinger konstruiert von so komplizierter Gleichung, daß die Geometrie sich gezwungen sah, sie Sphäroide zu taufen. Ich klagte Rom auf lateinisch an, ich schwang das Schwert Taillefers auf englisch. Von einer Universalität war ich – zweimal wöchentlich im Innern Afrikas oder Asiens, dann in einer Stunde zurück nach Paris, von dort jagte ich dann der chemischen Formel H2O nach, und ein Deutsch legte ich hin: den Lehrern standen die Haare zu Berge.«

»Philosophie ist Streben nach letzter Klarheit«, sagte Doktor Geist und parodierte einen Professor. »Inzwischen sind wir ins Leben getreten.«

»Mit dem linken Fuß soll man hineintreten«, rief Brecher, »aber ich glaube, man hat uns ins Leben getreten. Man hat uns einen pädagogischen Tritt versetzt; man hat uns durch eine Windmaschine aus dem Hörsaal vertrieben. Den Wind um die Nase wehen lassen, verstehst du? Ich sag ja: so geht’s mit dem Menschen. Immer zuerst mit dem Kopf auf die Welt. Schon allein durch den Vorgang seiner Geburt ist der Mensch prädestiniert, die Dinge von unten her zu betrachten.«

»Und mit Zangen mißhandelt zu werden«, fügte Brechers Kollege wieder hinzu.

Sie hatten inzwischen ihren Weg in Angriff genommen, der sie vom Gebäude der Firma hinwegführte, der Friedrichstraße zu. Ein hingepflanzter Koloß, ragte es hinter den beiden auf, durch seine Tore eine Menge Kollegen und Kolleginnen entlassend, die gleicherweise einzeln oder zu zweit vor ihrer Arbeitsstätte zu flüchten schienen, heimwärts, vielleicht auch zu einem Stelldichein.

Übrigens ist nicht gesagt, daß die beiden Herren, Brecher und Doktor Geist, Freunde gewesen wären; sie kannten einander lediglich um einige Jahre länger als ihre übrigen Kollegen, auch gab es keine nennenswerten Meinungsverschiedenheiten zwischen ihnen. Den Hauptanteil ihrer Gespräche hatte Brecher zu bestreiten, als der impulsivere, während Doktor Geist für gewöhnlich Stichworte, Nebenbemerkungen und Kadenzen auszuteilen liebte. Brecher war es auch, der all ihre wunden Punkte aufspürte, und es konnte ein seltsamer Genuß sein, mitanzusehen, wie er sie präparierte.

»Geld«, sagte er beispielsweise, »hat man keines oder zu wenig. Hat man keines, wächst es zu einer Vision auf; hat man welches, dann zu wenig. Unser Fehler ist es eben, daß wir zwei noch immer für unser Geld arbeiten, statt unser Geld für uns arbeiten zu lassen.«

Aus dem Mund eines jungen unternehmungslustigen Herrn klang das großartig. Es steckte Erkenntnis darin und Strategie. Um so merkwürdiger war es, daß Doktor Geist dazu ungläubig lächelte. Sie seien ja erst ein Jahr im Betrieb.

Aber Brecher erklärte:

»Mit sechsundzwanzig – sag, was du willst – fängt das Jahr an, langsamer zu gehen, aber schneller vorüber zu sein. Auch die Ergebnisse werden seltener. Es geschieht nichts mehr, außer daß du am Ende eines jeden dein Geld einstreichst und froh dabei sein mußt, zum nächsten wieder herbestellt zu sein. Schatz, mach Kasse! – Was tut nur ein Mensch, der eines Tages kein Geld hat?«

»Er verschafft sich welches, sehr einfach.«

Brecher überhörte den Einwurf.

»Es liegt noch arg im Primitiven«, fuhr er fort, »die einen haben’s, die andern nicht. Für meinen Geschmack herrscht auch zuviel Verschämtheit in allen Geldfragen. So sehr es auch verehrt und angebetet wird, es klebt noch zuviel verheimlichter Schmutz daran. Eine Phrase etwa: ›soll ich Sie für Ihre Liebe bezahlen?‹ – steht noch immer sehr hoch im Kurs, während die natürliche Antwort doch einfach lautet: bitte!«

»Sack würde sagen, es liegt auf der Straße.«

»Ja, er liebt die Gemeinplätze«, erwiderte Brecher. Er schwieg eine Weile, keine besondere Hochachtung vor seinem Chef verratend. »Weißt du«, sagte er dann, um abzuspringen von diesem anscheinend mißliebigenThema, »manchmal wundert es mich. Momentan verschiebt sich soviel und die persönliche Schiebungnahme ist so ungemein lukrativ, daß es mich wundert, unsere Firma frühmorgens noch immer dort vorzufinden, wohin sie gehört.«

»Du meinst, sie könnten auch mal ein ganzes Gebäude verschieben?«

»So ungefähr. Denn die Nacht liegt dazwischen, mein Lieber. Und die Nacht ist dunkel. Denk bloß an das Wort: dunkle Machenschaften! Nein, es ist nicht so einfach, am nächsten Morgen wieder an derselben Stelle zu sein. Alles hier in Berlin hat seinen Hintermann. Kommt einer mit Kapitalien daher und geht bankrott, sind’s nicht die seinen. Wird einer erwischt, war’s der andere – der Hintermann. Deshalb hat auch hier ein jedes Gesicht eine so verflixte Transparenz.«

»Hübsche Beine, das Luder«, sagte Doktor Geist. Er hörte nämlich nur halb hin.

Brecher hingegen schien die Erwähnung ihres Bürochefs einigermaßen zu schaffen zu machen, und während er schwieg, setzte er sich in Gedanken mit ihm auseinander.

In dieser Verfassung, dieser Sucht, alles in Frage zu stellen, spazierten sie die Friedrichstraße entlang, äußerlich lebhaft, doch ihrer Gangart kaum achtend, sondern den Blick, gleichgültig oder taxierend, aufs Entgegenkommende richtend, mit der geheimen Tendenz, der städtischen Welt ringsum gewachsen und ebenbürtig zu sein. Doktor Geist besonders legte Wert darauf, die Weiblichkeit nicht außer Auge zu lassen, und er scheute auch nicht vor einer gewissen Freizügigkeit zurück, in der Einbildung, ein flanierender Don Juan zu sein. Trotzdem waren sich beide, der eine praktisch naiv, der andere, Brecher, mehr theoretisch, über nichts so klar wie darüber, daß ihr Ansehen, das sie einst als Schüler genossen hatten, hier inmitten der mannigfachen Anonymität durch einige Millionen dividiert worden ist.

»Sack«, begann Brecher plötzlich, »Sack hat gut reden. Neulich riet er mir: ›verlassen Sie sich nicht allzu ausschließlich auf ein Talent! Jedes Talent ist eine Gefahr.‹ Das sind seine Worte. Dann hat er natürlich Leute gekannt, die mit weniger weit mehr erreicht hätten. ›Es ist nicht nur eine, es birgt auch eine Gefahr in sich‹, sag ich. ›Gewiß, gewiß‹, erwidert er, happig und fix. Ich glaube, den zerreißt es noch mal. Er ist nicht älter als wir, und schon diese Bombenstellung, Propagandachef.«

»Beneidest du ihn?« fragte Doktor Geist. Er tat es nicht ohne Vorsicht.

»Seh ich so aus? Aber was ich an ihm beneide, ist dies: Schwierigkeiten nicht sehen wollen, die ihn nichts angehen. Der Junge schifft mit einer Geschicklichkeit um die Klippen der Praxis, scharwenzelt und laviert – ich könnte das nicht.«

»Ich auch nicht«, versetzte Doktor Geist, wofür er von seinem Kollegen mit einem Seitenblick beehrt wurde, gleichfalls nicht ohne Vorsicht.

»Neulich hatte ich eine Diskussion über den richtigen Posten«, sagte Brecher. »Das hättest du hören sollen. Ich glaube, er will klug reden und kann nicht, und deshalb spielt er sich nur so auf. ›Wenn nun jemand für einen bestimmten Posten begabt ist?‹ frag ich. ›Für welchen?‹ fragt er sofort, als müßte er ihn verteidigen. Immer verteidigt er sich! ›Standen Sie schon auf dem richtigen?‹ fragt er. Ich zucke die Achseln. ›Dann hatten Sie Glück‹, meint er. ›Bezahlt macht sich nur ein Posten, der falsch ist. Die Einarbeitung, das ist die Hauptsache.‹ Und das soll ich nun glauben! Das ist doch nur ein mißglücktes Aperçu. Coty jedenfalls, dieser Filou, fährt mit dem richtigen Posten Motorrad, und wir sitzen mit dem falschen auf der Galerie des Verkehrs.«

»So falsch ist er ja gar nicht«, meinte Doktor Geist. »Wir machen Propaganda.«

»Aber wofür? Überleg bloß: wofür?«

Zeitlebens hatten sie so gefragt. Es war nicht besser geworden von Etappe zu Etappe, und was einst schwierig schien, war, wie sie glaubten, entlarvt, es war überwunden oder als überflüssig erklärt, ohne daß sie jenes mit Angst, Neugier und Ergebenheit gemischte Gefühl des Zauderns losgeworden wären in Anbetracht der Strecke, die vor ihnen lag. Es gab keine rechten Endstationen in ihrem Leben, an denen sie sich hätten verschnaufen können, wie etwa die Schaffner mit ihrem Frühstück auf irgendeiner Sandkiste; sie blieben hungrig, und immer nährten sie sich, wie es schien, von der erkenntnismäßigen Auswertung ihrer Erlebnisse, Erlebnisse hinwiederum, die selten einschneidend waren und die zusammenschrumpften zu einem abgestandenen Rest, sobald sie getätigt waren. Erlebnisse tätigen, sich Erlebnisse verschaffen, – es war ein ziemlich unbestimmbares Unterfangen, weit unbestimmbarer zumindest als der Zuschnitt ihrer Gespräche.

»Wohin jetzt?« fragte Doktor Geist, als die Leipziger Straße erreicht war.

Aber Brecher, mit nachdrücklich sanfter, beredter Armbewegung, drängte seinen Kollegen nach Westen, in Richtung Potsdamer Platz, wo der Himmel schon Anstalten machte, in Schönheit unterzugehen.

Sie liefen bereits wieder mechanisch, als Doktor Geists Gangwerk, anscheinend auf Grund eines zweiten, schwerwiegenden Einfalls, mitten im Trubel anhielt, um sich freilich sofort wieder in Bewegung zu setzen. Brecher, leicht zurückgewandt, erwartete eine Erklärung.

»Mensch«, sagte Doktor Geist, »morgen kommt ja die Neue.«

»Morgen noch nicht.«

»Richtig! Morgen ist Sonntag. Aber den gönn ich ihr noch.«

»Soll sie.«

Es reizte Herrn Brecher wenig. Er konnte der ganzen Gattung der Sekretärinnen nichts abgewinnen, sie waren eine Art dummes Geflügel; wenn überhaupt, so schwärmte er lieber für eine Schauspielerin. Doktor Geist indessen war angeregt, er entwikkelte plötzlich Pläne.

»Jetzt müßte man tanzen gehen«, rief er. »Einbrechen müßte man, Frauenarzt sein. Die haben jetzt einen Gang an sich, diese hochgestellten Luders, als wäre er nicht von ihrem Wuchs bestimmt, sondern von ihrer Lues. Phänomenabel.«

Sie hatten, die Leipziger Straße entlang, wie ein Liebespaar eingehakt, während die Bahnen und Autobusse, mit Menschen überfüllt, vorüberdonnerten und einen Korso darboten, dem nachzublicken ein eigenes beschwingtes Vergnügen war. Doch immer, nachdem sie ihren Eindrücken eine Zeitlang nachgefolgt waren, kamen sie wieder auf jene Neuigkeit zurück.

»Wie soll sie denn heißen?« fragte Brecher.

»Weiß ich?«

Doktor Geist, als wüßte er’s doch, blinzelte offenen Mundes zu seinem Kollegen hinüber, bis dieser sich einen Ruck gab, endgültig absprang und auf die erste Frage zurückkam. »Also, Junge, dann zeig mal, was in dir steckt!« rief er. »Also was machen wir jetzt?«

Da blickte Doktor Geist vom Pflaster auf. »Segeln«, sagte er. »Vielleicht sollten wir segeln gehen? Oder meinetwegen: in eine Sache hineinsegeln?«

»Aber in welche?«

Verdutzt standen die beiden unternehmungslustigen Kavaliere am Potsdamer Platz. Es war die bengalische Wimmertragödie ihrer Nachmittage und Abende, daß sie prompt und einfallslos in den Räumen der umliegenden Cafés zu landen pflegten. Alles Erdenkliche hatten sie tun wollen, schon in den Wochen vorher, und jedesmal pflegten sie wieder in ihre alte Gewohnheit hineinzuschliddern. Beim Blick durchs Fenster gemahnte dann auch die Firma wieder an ihr pompöses Vorhandensein; in bunten Leuchtbuchstaben, von sämtlichen Häusern herab, sagte sie zu denen, die es hören, und zu denen, die es nicht hören wollten: UVAG – UVAG, UVAG – UVAG.

III

Es sind nicht immer die glänzendsten Häuser, welche die besten Geschäfte machen. Die Uvag, dieses Wahrzeichen der Friedrichstadt, war ein alles andere als künstlerisch einwandfreies Gebäude, ja es demonstrierte förmlich, daß es weniger durch seinen Baustil als durch die in ihm getätigten Bilanzen aufrecht erhalten wurde.

Nach beiden Seiten, um ein abgerundetes Eck, schossen die Gesimse in mehreren übereinanderliegenden Reihen dahin, die Fenster standen in Parade, und unter jedem noch so spärlichen Vorbau oder Balkon wälzte sich eine symbolische Figur in aufmerksamen Verrenkungen. Die grobe Rustika des Unterbaus verjüngte und verfeinerte sich nach oben zu einer Fläche, auf der der Sand, vor Angst oder vor Alter, sobald man den Kopf hob, zu rieseln schien. Diese merkwürdige Bauart, deren Exaltationen später dadurch besänftigt worden waren, daß man sie kurzerhand amputiert hatte, war das Produkt einer überlebten Epoche. Eher durch den Lärm, durch die Phantastik des Verkehrs als durch menschliche Beihilfe schien das Gebäude mit Restbeständen aus mehreren Jahrhunderten emporgetrieben zu sein, bis hinauf zu jener Weltkugel, die auf dem Dach des Ecks von einem mythologischen Schwerathleten in die Luft gestemmt wurde, verurteilt, strahlend über den Häuptern zu schweben. Unterdessen waren zur Verdeutlichung des äußeren Neuanstriches an den gegenüberliegenden Seiten Scheinwerfer aufgestellt worden, die ein mehrfaches Licht gegen die ausgedehnte Front des Gebäudes warfen und es mit Macht in etwas Neues verwandelten. Bei dieser sich einfressenden und phosphoreszierenden Beleuchtung verging aber auch der Eindruck des Steinernen, auch das Räumliche verlor sich, so daß es aussah, als erhöbe sich nachts nach einer Radikalkur aus der Finsternis heraus eine schreckhaft blendende Kulisse.

Die Universale-Vermittlungs-Aktien-Gesellschaft, wie die Firma handelsgerichtlich zeichnete, hatte ursprünglich nichts zu tun als zu vermitteln. Wenn einer ein Haus kaufen wollte, sagte sie ihm, wo er es finden könne; wenn einer sich verheiraten wollte, schaffte sie ihm gegen Barzahlung Raum, seine Wünsche vor aller Welt auseinanderzusetzen; wenn einer nicht wußte bei einer plötzlich zugefallenen Erbschaft: wohin damit? – die Uvag begriff diese Notlage und sorgte für deren Beseitigung. Man sieht, sie war die Behilflichkeit selbst, und es ist ihr nicht zu verdenken, daß sie eines schönen Tages den Wunsch aufbrachte, noch besser helfen zu können, in einer Sekunde gleichsam, was am besten dadurch geschah, daß man alles Verlangte selber besaß.

Vielleicht sind die Interessenten so liebenswürdig, sich einiger Ausdrücke und technischer Prinzipien zu erinnern, wie sie unten in den Maschinensälen, aber auch bei Automobilen, geläufig sind. Man spricht dort von verschiedenen Arten der Schmierung, von Zwangsschmierung etwa, von Schleuderschmierung oder selbsttätiger Schmierung und ähnlichem. Nun, diese Dinge aus ihrer technischen Gebundenheit befreit und aufs öffentliche Leben übertragen zu haben, ist das ungeheuer geniale Verdienst der Uvag. Schmieren heißt reibungslos machen, und jeder wird ermessen können, was das bedeutet, jeder, der je in seinem Leben auf Beziehungen und Informationen angewiesen war. Es ist eine Verleumdung, wenn Anekdoten weitererzählt werden, wie es leider von verantwortungslosen Subjekten häufig geschieht, Anekdoten, deren bekannteste lautet:

»Kennen Sie dort das hellerleuchtete Haus?«

»Das will ich meinen. Die Uvag.«

»Sie irren, mein Herr. Es ist ein Bordell. Dort wird die Arbeit als Laster betrieben.«

Pfui, schweigen wir lieber! Es lohnt die Mühe nicht, Dinge zu kolportieren, die den Ruf auch des Deutschen Reiches im Ausland schädigen, einen Ruf, der ohne die Fähigkeit, sich in die Arbeit zu verlieben, nicht denkbar wäre und der allen, die in der Uvag angestellt sind, nur zur Ehre gereichen kann. Der Durchschnitt all der kleinen Leute hier genießt zu seinem eigenen Vorteil nicht das zweifelhafte Glück, bei Leitung der Geschäfte um seine Meinung gefragt zu werden; er tut das Zunächstliegende, er erfüllt seine Pflicht, und ewig wird in seinen Augen das Direktorium eine jenseitige Welt sein wie die höchsten Kreise der Gesellschaft auch.

Bei der weltkundigen Modernität, die in der Firma obwaltete, bei der unaufhörlichen Wechselbeziehung zu jenen Fragen der Zeit, die brennend sind, wie auch zu jenen, die im Verborgenen blühen, ließ es sich leider nicht umgehen, eine Arbeitsweise unter den Angestellten herauszubilden, die hauptsächlich auf zweierlei fußt: äußerste Exaktheit und äußerste Konzentration. Man hat vielleicht eine Ahnung, wie begabt ein Leichtathlet sein muß, um die Hundert-Meter-Strecke als erster bewältigen zu können, wie sehr sein Sieg, ein Sieg der Exaktheit und der Konzentration, durch eine vernünftige Lebensweise und durch dauernde Vorbereitung bedingt ist; nun, wenn diese Leistung so schwer ist, so beruht das sicherlich darauf, daß dieser Mensch zu laufen hat. Das aber ist das Falsche, das Rückständige daran. Daher ist auch jener großartigste, weit übers rein Sportliche hinausweisende Gedanke so bewundernswert, der sagt, der Läufer käme viel schneller voran, wenn er systematisch säße. Diesen typischen Uvag-Gedanken haben sich viele Leute zu Herzen genommen, nicht allein Rennfahrer, Flugzeugführer und Rodler, auch Industrielle. Inzwischen ist es Allgemeingut geworden, daß der aufrechte Mensch zu großen Leistungen leider nicht befähigt ist, und seit dieser Zeit – es ist ein welthistorischer Akt – wurde in den Büros die geknickte oder sitzende Lebensweise eingeführt.

So hoch auch die Stockwerke der Uvag hinaufreichen, so verschiedenartig auch die Anforderungen sind, die gestellt werden müssen: alles sitzt. Ausnahmen sind zu zählen; meistens kann ein Mensch, der nicht sitzt, nicht mehr zu den Angestellten gerechnet werden. Er ist ein Verstoßener, läufisch oder sonstwie verderbt. Der richtige Angestellte jedenfalls sitzt. Es ist der Einwand erhoben worden, daß diese Tätigkeit kaum zu den schwierigen, sondern zu den harmlosen gehört, und gewiß wäre sie das, hätte sie nicht einen Rattenschwanz von Existenzen an sich gefesselt. Was hauste nicht alles in den aufgehäuften Stockwerken, an unsichtbaren Drähten zitternd, mit der Kündigungsfrist im Vertrag! Zuweilen glich die Tätigkeit im Gebäude derjenigen auf einer Galeere, nur eben, daß höchst zweifelhaft war, was hier vorwärts gebracht werden sollte, das Gebäude jedenfalls nicht, das stand seit Jahren, und nur der Himmel wechselte. Der Himmel wiederum war unsichtbar, denn der Horizont dieser Welt, von Häusern verdeckt, lag außerhalb des Gesichtskreises eines jeden, vielleicht in einer anderen Dimension. Die Firma? Ja, richtig – die Firma. Man saß auf Stühlen und Stufenleitern innerhalb der Firma, während diese den täglich zu erneuernden Weg durch die öffentliche Meinung erkämpfte; andererseits, man selbst kämpfte nicht, nicht so, man saß auf ein und derselben Stelle auf dem dazu bestimmten Körperteil und war ersetzbar, war ersetzbar.

Unaufhörlich rollte es unten auf den Straßen. Der Verkehr war ein Orchester, für welches die Stadt die Musik schrieb. Vor dem Hauptportal bewegte sich der Portier, Portier Baumann, in eine Phantasieuniform gesteckt, auch ein Koloß, aber in Taschenformat, der die Radfahrer anpfiff und einen jeden auf Haltung musterte. Lief man, ohne aufzublicken, wie in Gedanken, Zugehörigkeit zum Haus vorschützend, an seiner Figur vorbei, so geriet man unangefochten in die gewünschten Stockwerke; zögerte man jedoch nur um ein Geringes, so entschoß sofort dem Auge des Portiers ein kriminaler Blick, seine Gestalt bewegte sich zusehends heran, man war in seiner Gewalt, und die Ausforschung begann. Er, meine Damen und Herren, saß nicht. Er war die einzige aufrechte Persönlichkeit dieses Gebäudes und neben demjenigen Oberprimaner, der bei irgendwelchem Abitur die besten Aufsätze schrieb, des ganzen Jahrhunderts einzige Persönlichkeit schlechthin. Alle anderen Herrschaften aber, ob im Maschinensaal, ob im Büro, auch jene im Direktorium, alle anderen waren das nicht; sie saßen und kämpften, sie hatten zu tun, um nicht von den Stühlen zu fallen, und das, worum sie kämpften, das verkörperten sie auch: die nackte Existenz.