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Inhalt

[Cover]

Titel

Flamingos

Über mich

Hush little Baby

Kuba

Salzwasser

Vatertod

Flamingos

Siebenleben

Mutabor

Mond

Damespiel

Dreitausend Blauwale

Anmerkung

Danke

Autorenporträt

Über das Buch

Impressum

Titel.jpg

Flamingos

FLAMINGOS stehen in Gruppen, aber jeder Einzelne ist allein. Sie halten Abstand. Sie sind wachsam. Wir finden sie hässlich. Wir finden sie schön. Sie sehen aus, als würden sie brennen, aber das ist nicht wahr. Sie sehen aus, als wären sie nicht kaputt zu machen, aber auch das ist nicht wahr. Sie erwecken den Anschein, als wären sie gar nicht da. Sie sind aber da. Sie stehen mitten unter uns, und sie sind schwer. Doch auf der Oberfläche der seichten Gewässer laufen sie uns davon. Und dann fliegen sie auf.

Über mich

Das ist die Geschichte von jemandem, den es nie gegeben hat. Sie handelt von mir. Ehrlich gesagt ist es keine Geschichte, in der besonders viel passiert. Ich kann weder berufliche noch familiäre Höhepunkte vorweisen, auf die ich hoffnungsvoll und gelegentlich auch größenwahnsinnig hingearbeitet hätte. Es gibt auch keinen Holzweg, den ich Ihnen später als den Lebensweg einer Frau präsentieren würde, die trotz oder vielleicht gerade wegen aller Fehler, aus denen sie nie gelernt hat, eine Person ist, in die Sie sich umso lieber hineinversetzen. Aber können Sie mit jemandem fühlen, den es nie gegeben hat? Nein. Können Sie nicht. Können Sie mich mögen? Auch nicht. Möglicherweise beneiden Sie mich, wenn in Ihrem eigenen Leben etwas schief läuft, weil Sie aus Ihren Fehlern mal wieder nichts gelernt haben. Aber vielleicht können Sie gar nichts dafür. Kann auch sein. Dann stehen Sie am Fenster Ihres Arbeitgebers, der eben das Büro verlassen hat, um die Kündigung noch schnell auf den Kopierer zu legen, Sie stehen so da und trinken den Multivitaminsaft, den er Ihnen angeboten hat, Sie stemmen die Hand ans Fensterglas, die wird später einen Fettfleck hinterlassen, aber daran denken Sie jetzt nicht, Sie denken: Wär ich bloß einfach nicht da. Dabei geht es gar nicht um mich, wenn Sie solche Sachen denken. Es gibt mich gar nicht. Aber es gibt diese Geschichte, auch wenn es nur eine Geschichte ist. Ich erzähle Ihnen, wer ich nie gewesen bin.

Ich fange richtig weit hinten an: viele Jahre nach dem Tod, den ich nicht gestorben bin. So viele Jahre danach, dass es schon keine Rolle mehr spielt, wie lange das eigentlich her ist. Man fragt sich auch gar nicht, wann es passiert ist und unter welchen Umständen, und das hat einen einfachen Grund: Man kennt mich nicht. Dieser Teil der Geschichte ist mir am liebsten, weil es nicht den geringsten Unterschied macht, ob ich von mir spreche oder von Ihnen. Auch an Sie wird man sich mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit nicht erinnern. Auch nach Ihnen wird keiner fragen: Wann ist der gleich gestorben? Was hat der immer getrunken, Multivitaminsaft? Man erinnert sich nicht an Sie. Man hat Sie nie gekannt. Sollte jemand doch nach Ihnen suchen, findet er Sie zwar in den Kirchenbüchern und den Archiven des Einwohnermeldeamts, aber er findet nichts als Ihren Namen und ein paar Daten: Geburtstag, Todestag und andere Nebensächlichkeiten. Aber was sagt das schon über Sie? Es ist ganz so, als hätte es Sie nie gegeben. An genau dieser Stelle sind Sie wie ich.

Anders sieht es aus, wenn nicht mehr als ein paar Jahre nach Ihrem oder meinem Tod vergangen sind. Man denkt sich: Hätte ich ihr doch noch was Schönes zum Anziehen gekauft, als sie schon nicht mehr aus dem Bett rauskam, sie hat es sich so gewünscht. Wär ich sie nur öfter besuchen gekommen. Warum bin ich nicht da gewesen, als sie gestorben ist? Warum hab ich mich nicht mehr verabschiedet? Und dieser Streit, als ich zum letzten Mal da gewesen bin, der war doch unnötig, oder. Aber sie war auch eine starrköpfige Person. Und launisch, vor allem am Schluss! Dass sie immer geweint hat, sie wolle wieder heim zu ihren Katzen, vor allem zur Mohrle: Die hat doch gerade gejungt, die Mohrle, die braucht mich doch jetze!, hat sie immer gerufen. Und dann wollte sie natürlich gleich aufstehen und ist aus dem Bett gefallen, und es hat zwei Pfleger gebraucht, um sie wieder reinzuheben, weil sie so dick gewesen ist. Aber kaum waren die aus dem Raum, hat sie es noch mal versucht und ist spätestens an der Zimmertür wieder umgefallen. Und da hat sie natürlich geweint, dabei hätte sie doch auch liegen bleiben können, aber sie war eben ein Starrhals, ja, das war sie. Und wenn sie sich wirklich in den Kopf gesetzt hat, vor meinem nächsten Besuch zu sterben, dann hat es jedenfalls geklappt. Ich hab es so satt gehabt. Ich war richtig erleichtert.

Aber das denkt man nur, man spricht es nicht aus. Oder wenn doch, dann nur in den eigenen vier Wänden, und am Ende wird man getröstet und ein Weilchen im Arm gehalten, und dann geht es schon wieder besser, danke. Andere, die mich nicht so gut kennen, reden lauter. Sie fragen: War das nicht die Frau von dem Parteisekretär? Quatsch, die war doch keine rote Socke. Das sag ich auch gar nicht, dass sie eine rote Socke war, ich sag ja nur, dass sie mit dem Parteisekretär verheiratet gewesen ist. Aber sie war wirklich keine rote Socke, sie hat ja sogar noch Leuten geholfen, die rüber wollten. Leuten geholfen, woher willst du das denn wissen? Hat sie mir selber erzählt. Und das glaubst du dann, wenn dir die Frau vom Parteisekretär erzählt, sie hätte Leuten geholfen, die rüber wollten? Warum denn nicht? Am Ende hat sie noch Berichte über die getippt! Hat sie das wirklich? Und wie sie das hat, sie war doch immer so freundlich und hat sich ständig nach einem erkundigt. Sieh mal einer an. Was soll das heißen, sieh mal einer an? Das soll heißen, dass ich mir schon so was gedacht hab. – Und so wird geredet und geredet, bis in die tiefe Nacht hinein, und am Ende aller Gespräche geht die Sonne wieder auf und niemand weiß mehr so recht, was wahr und was falsch ist und um wen genau es am Ende ging.

Es könnte auch um Sie gehen. Aber was, wenn ich einen Schritt zurück gehe? Dann bin ich gerade dreiundachtzig geworden und bei klarem Verstand, ich habe eine ziemlich lange Geschichte hinter mir und so viele Erinnerungen parat, dass ich am liebsten in der Vergangenheitsform spreche. In Wirklichkeit habe ich natürlich keine andere Geschichte als die, die Sie gerade lesen, aber nur mal angenommen: In der obersten Schublade liegt ein Portraitfoto von mir im Firmungskleid, auf dem bin ich richtig schön: braungebrannte Arme in schneeweißen Puffärmeln und die blitzenden Augen unterm Fotografenhimmel. Meine Enkelin Fanny sitzt auf dem Bettrand und kramt in meinen Sachen herum, bis sie dieses Bild in den kleinen weichen Händen hält. Wer ist das?, fragt sie mich und runzelt dabei die Augenbrauen, die wie die Augenbrauen des Mädchens auf dem alten Bild aussehen. Ich bin das, sage ich. Wer sonst? Dass ich mich seitdem kein bisschen verändert habe, dass ich immer noch die mit dem versponnenen Dickschädel bin, dass ich mich bei Gewitter genauso fürchte wie damals, obwohl auf die Blitzableiter inzwischen Verlass ist, dass mir der Krieg noch so in den Knochen sitzt, dass ich immer essen könnte, wirklich immer, dass ich überhaupt so einen schrecklichen Appetit auf alles Süße habe, als läge das ganze große Leben noch vor statt hinter mir, das alles sage ich Fanny nicht. Ich sage nur: Ich bin das. Wer sonst? Aber Fanny hört nicht auf, die Augenbrauen zu runzeln. Du sollst das sein? Das glaub ich nicht!, ruft sie, du veräppelst mich bloß! Und weil ich ja selber ein Mädchen bin, das bloß unterm Faltenkostüm versteckt gehalten wird, lasse ich es drauf ankommen und stelle Fanny die unmöglichste Frage überhaupt: Denkst du denn, ich war nicht auch mal jung? Fanny legt den Kopf schief und überlegt. Und dann drückt sie ihre kleinen weichen Hände an meinen Hals und lacht: Nein, Oma, du warst doch nicht jung!

Kleine steife, faltige Menschen sind wir. Wir leben in der Gegenwart unserer Enkel, als wären wir nie etwas anderes gewesen als alt, und als müssten wir niemals sterben. Ob wir wirklich ein Leben hatten, ein eigenes Leben ganz für uns allein, oder nicht, spielt keine Rolle. Vielleicht haben die Jungen recht und wir sind schon immer so alt gewesen wie heute, unser Gehirn gaukelt uns alles bloß vor. Dann ist unsere Lebensgeschichte nichts weiter als ein biochemischer Traum. Wir haben einfach keine Beweise, dass wir das wirklich gewesen sind.

Und jetzt kommt das Loch in meiner Geschichte, weil ich nichts von dem, an das Sie sich erinnern, selber erlebt habe. In den Sommerferien war ich mit Fanny nicht im Freibad und über Silvester mit meinem Sohn nicht in Venedig, wir hatten nicht dieses kleine Hotelzimmer auf dem Lido mit dem glatzköpfigen Hotelier am Nachtschalter, mit dem ich mich unterhalten habe, während ich vor lauter Schlaflosigkeit ganze Stapel von Ansichtskarten beschrieb. Ich habe die schwankenden Ufer Venedigs überhaupt nicht gesehen und auch nicht den Mann hinter dem Gepäckschalter der Basilica di San Marco, der an einer Komposition mit fünf Instrumenten schrieb, wenn gerade niemand seinen Rucksack abgeben wollte. Zu Hause hab ich nicht dieses Fertigteilhaus aus Schweden und auch nicht diesen redseligen Mann, der mir mit den Jahren immer ähnlicher wird, so ähnlich, dass er manchmal errät, was ich von uns beiden halte, und dem ich deswegen aus dem Weg gehe. Ich habe meinen Sohn nicht gesehen, wie er jeden Morgen seine ersten flaumigen Barthaare nassrasiert hat, immer schön vorsichtig um die Pickel herum. Und ich hatte nicht diese Stelle an der Frauenklinik, in der ich Kindern auf die Welt geholfen habe oder aus ihr heraus, und von der ich jeden Abend mit dunkel verschmierten Armen und den Ohren voller erster Schreie nach Hause gefahren bin, auf dem Rennrad, das mir mein Mann zum zweiten Hochzeitstag geschenkt hat und das ich viel lieber hatte als alle eleganten Damenräder in späteren Jahren. Aber ich habe ja kein Rennrad und keinen Mann, ich habe nie geheiratet und ich war niemals verliebt. Wir waren nie zusammen im Karpfenteich schwimmen, mitten in der Nacht und mit einer brennenden Fackel ausgerüstet, die er aus einer mit der Sonntagsschürze seiner Mutter umwickelten Zaunlatte und ein bisschen Teer gebastelt hatte. Der erste Sex mit ihm hat nicht so fürchterlich wehgetan, dass ich ihn danach drei Wochen lang nicht treffen wollte, und in dieses Mädchen habe ich mich auch nicht verknallt, dieses Mädchen mit dem kinnlangen, feuerroten Haar an meiner Schule. Überhaupt diese Schule, sie ist nur ein böser Traum, ich war gar nicht da, und in den Pausen war ich auch nicht so allein, dass es einfach nicht zum Aushalten gewesen ist, aber das ist jetzt vielleicht die Stelle, an der ich besser vom Wetter reden sollte. Vom Wetterleuchten, das ich gesehen habe, als das Mädchen mit dem feuerroten Haar und ich mit den Fahrrädern kreuz und quer durch Böhmen gefahren sind. Oder vom roten Lichtkranz der Sonne, wenn ich mit der Sonnenbrille direkt hineingeschaut habe, als ich sie noch nicht im Streit mit dem feuerroten Mädchen auf die Teerstraße geworfen hatte, so dass beide Bügel gebrochen sind, aber ich wollte vom Wetter sprechen. Von den Hochsommerwolken über unserem alten Haus und dass ich mir immer vorgestellt habe, die Befürchtung der gebückten Alten in der Nachbarschaft würde sich bewahrheiten und der Himmel könnte auf die Erde fallen, und das wäre doch großartig, dieses hohe weiche Wolkengebirge in unserem Hof und wie ich mich hineinschmeißen würde! Und diese Wolken kurz vorm Gewitter, die wie Tiere aussahen, die sich aufbäumten und schwiegen, so dass ich die Schwalben schreien hören konnte, wenn sie knapp über den aufgeheizten Landstraßen flogen, bis die ersten Tropfen sie trafen.

Aber ich habe die Schwalben nicht schreien gehört, und auch nicht den Spatzenschwarm vorm Haus, und unseren giftgrünen Wellensittich habe ich nicht dabei erwischt, wie er sie bei sperrangelweit geöffnetem Fenster nachgeäfft hat, bis sie sich vor Wut im Zimmer verflogen. Überhaupt alle Vögel, die Sie kennen, ich habe keinen von ihnen gehört und keinen gesehen, nicht die Tauben in den Verschlägen und nicht die Störche auf den Scheunen, nicht die Krähen auf den abgeernteten Feldern, die Amseln nicht im Gebüsch und die Eulen nicht im Dachstuhl und alle Vögel, deren Namen ich nie gelernt habe, und auch nicht die Mauersegler über den Häuserblöcken der Stadt, in der sich der Zoo befand, an dessen Eingang ich keine Flamingos gesehen habe, weil ich nie an seinem Eingang stand. Wackelige, grelle Schönheiten, die trotzdem wie unsichtbar waren, so dass jeder auf der Suche nach den echten Tieren an ihnen vorbeilief, Sie doch auch. Also haben auch Sie die Flamingos nicht gesehen, und auf keinen Fall haben Sie gehört, wie sie schreien, wenn ein Besucher zu nah an sie herantritt, weil Sie nie an sie herangetreten sind, aber auch ich habe das niemals gemacht.

Aber jetzt gehe ich noch weiter zurück, denn dort fängt der Teil meiner Geschichte an, an dem es wieder egal ist, ob es sich um mich handelt oder um Sie. Sie wissen, dass der Mann mit dem schönen schwarzen Anzug Sie manchmal in seinem Auto mitgenommen und vor der Eingangstür des Kindergartens abgesetzt hat, aber dass es der Schroe der Paulus gewesen ist, der viel später wegen Kindesmissbrauchs angeklagt wurde, wissen Sie nicht, das hat man Ihnen bloß weisgemacht. Sie wissen, dass Sie sich unter dem Rock Ihrer Mutter versteckt haben, weil man die Geschichte auf jedem Familienfest wieder aufgewärmt hat. Aber können Sie sich an das Halbdunkel erinnern und an den Geruch ihrer riesigen Beine, die Sie mit beiden Händen umarmt haben, können Sie sich daran erinnern? Ich mich auch nicht, und an dieser Stelle sind wir uns gleich. Ich kann mich auch nicht erinnern, wie die sichtbare Welt nicht über den Rand einer bunt gemusterten Decke hinausreichte, und wie überhaupt alle Farben noch nicht da gewesen sind, nur Stimmen und Licht und der mehlige Geschmack auf der Zunge und der Schatten und die Schwere meines eigenen Kopfes, und irgendwann war auch die noch nicht da und ich war so leicht, wie ich später niemals wieder sein würde, aber daran kann ich mich so wenig erinnern wie Sie.

An genau dieser Stelle schließt sich der Kreis. Alles wird wieder so, wie es am Anfang war. Man fragt nicht nach Ihnen und man fragt nicht nach mir. Wenn ein Anderer als ich diese Geschichte zum richtigen Zeitpunkt vorwärts erzählt, dann wird es Sie geben, und Sie werden ein paar der Dinge sehen und hören, von denen ich Ihnen schon berichtet habe, und dann werden sie Ihnen seltsam bekannt vorkommen, wie Ihnen auch diese Geschichte seltsam vorkommt. Aber jetzt gibt es diese Geschichte und ich bin das Loch in ihrer Mitte, ich bin die Tonlosigkeit in den Atemzügen desjenigen, der sie Ihnen vorlesen wird, oder vielleicht bin ich auch der Abstand zwischen den Wörtern, die Sie selbst lesen werden, und das ist doch schon was.

Am nächsten sind mir die Steine. Sie haben nie gelebt und trotzdem sind sie da, sie sind immer da gewesen. Denken Sie an mich, wenn Sie später an der Baugrube Ihres schwedischen Fertigteilhauses stehen. Suchen Sie sich einen Kieselstein und werfen Sie ihn in das tiefste Loch auf der ganzen Baustelle. Behalten Sie den Punkt im Auge, an dem Ihr Kieselstein in der Dunkelheit verschwindet. Konzentrieren Sie sich aber nicht zu sehr. Schauen Sie haarscharf dran vorbei. Was Sie jetzt sehen, bin ich.