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Inhalt

[Cover]

Titel

Widmung

Das Haus, die Stadt, die Zeit

Der Russe vor der Tür und »Onkel Tobias« im Kopf

Der Ernst des Lebens beginnt

Ein Ami-Jeep unterm Tannenbaum

Mit der S-Bahn zur West-Clique

Groschenangeln für eine Kinokarte

Der Traum vom kleinen »Halbstarken«

»Strafversetzt« im Doppelpack

Mit Herberger auf der Tribüne

Schmetterlinge vor dem Mauerbau

Der Klassenfeind im Schulaufsatz

Vom Schusterjungen zum Krieger

Glossar

Mein Dank …

Autorenporträt

Über das Buch

Impressum

[Leseprobe – In Berlin]

[Leseprobe – Die Sintflut in Sachsen]

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Für

Franki, Micha, die Süße, Pummel, Sohni, Jürgen, Monika, Bernhard, Kalle, Marlies, Klaus L., Fred, Angelika R., Wolfgang, Hans-Jürgen, Angelika H., Horst, Jörki, Ete, Wölfi, Klaus T. und meine Eltern.

Kollwitz 66

Berliner Kindheit
in den fünfziger Jahren

Das Haus, die Stadt, die Zeit

Das Haus in der Kollwitzstraße 66 war nicht besser und nicht schlechter als andere. Es hatte den Krieg heil überstanden. Die 68 links daneben nicht. Das zählte. Es hatte vier Stockwerke und einen Hinterhof, von dem rechts und links Seitenflügel abgingen. Und es besaß damals, Anfang der fünfziger Jahre, einen frischen glatten Putz, der die hässlichen Kriegswunden an der Fassade zugedeckt hatte. Auf der einen hinteren Seite des Hofes war die Klopfstange angebracht, gegenüber standen die Müllkästen. Da endete auch der Hof – mit einem großen Lattentor. Und dahinter begann eine neue Welt: eine kleine Schnapsfabrik namens »Westphal«.

Sie bestand aus einer einstöckigen Ziegelsteinhalle und einem verzweigten Barackenbau und verband die Kollwitz 66 mit der 64. Dort im Vorderhaus unterhielt die Schnapsmanufaktur auch eine Probierstube. Quer über ihrem Eingang und den beiden Fenstern prangte der Schriftzug »C. Westphal«, dazu kam ein dreieckiges beleuchtetes Schild mit dem Firmenlogo: ein Männchen mit weiten, schwarz-weiß karierten Hosen und einem Tablett mit Likörglas. Die Fabrik und die beiden Häuser gehörten der Familie Hammel, die »Westphal« unter früherem Namen weiterführten. Die alte Frau Hammel wohnte in der 64, unten rechts, sogar mit einer kleinen Terrasse, zu der Stufen vom Bürgersteig führten. Ein Relikt aus der Zeit, da umzäunte Vorgärten noch beide Häuser schmückten. Ihr Sohn, der auch die Firma leitete, lebte mit seiner Familie in der 66, zweite Etage mit Balkon. Die anderen Mieter im Haus hießen Schlüter, Weinert, Heese, Rochow, Nemitz, Kleinschmidt, Kurzweg, Stehr, Thomas. Schlüter gab’s gleich zweimal – »die alten« und »die jungen Schlüter«. Und eben uns, Krause. Hinterhaus, linker Seitenflügel, Hochparterre.

Natürlich waren das nicht sämtliche Bewohner, aber an diese Namen erinnere ich mich gut. Denn zu ihnen gehörten die Kinder. Sie machten das Haus vielleicht doch zu etwas Besonderem, denn wir waren viele. Allein die beiden Seitenflügel kamen auf etwa 15. Ein so simples Spiel wie Verstecken konnte für den Sucher schon mal eine Viertelstunde dauern. Hammels hatten auch Kinder, zwei Töchter. Nur, gespielt haben wir nie miteinander, vielleicht durften sie nicht. Wir waren eben die Hofkinder. Manchmal, wenn ihr Vater an seinem Auto rumschrauben ließ, tollten sie auf dem Fabrikgelände. Uns war das verboten. Wir standen dann am Lattentor und sahen zu, was mit dem Wagen passierte. Ein klappriger Opel P4, aber eben ein Auto. Das einzige im Haus. Und vielleicht eins von vier oder fünf in der ganzen Straße.

Es gab nur wenig Verkehr. Mal ein Lastwagen, mal ein dreirädriges Tempo-Auto, mal ein Pferdefuhrwerk, das sich über den grauen Asphalt quälte. Das war’s. Die noch junge DDR war auf Rand genäht. Der Westen Deutschlands wurde dank Marshallplan kräftig angeschoben, der Osten litt unter Reparationszahlungen und den Demontagen ganzer Betriebe durch die siegreiche Sowjetunion. Ein eigenes Fahrrad war da schon ein stolzer Besitz. Zwar wurde der »werktätigen Bevölkerung« mit pathetischem Eifer auch Wohlstand versprochen, aber erst für morgen. So blieb alles recht ärmlich.

Auch in den Geschäften, die vor der 66 für etwas Auflauf sorgten. Rechts neben der großen Hauseinfahrt gab es einen kleinen Zeitungsladen, geführt von einem geruhsamen dicken Mann mit Glatze. Frühmorgens heftete er immer die neuen Tageszeitungen mit Wäscheklammern an ein Leistengitter. Obwohl ich noch kein Wort lesen konnte, reichte es zur ersten Lektion: Alle Zeitungen sahen gleich aus – immerzu! Die Lebensmittelhandlung, die sich daran anschloss, war da etwas bunter. Zwei Schaufenster, an den Wänden Regale, darin Gläser und Tüten luftig aneinander ausgerichtet, und hinter der Ladentheke die Eheleute Adam, denen das Geschäft auch gehörte. Ganz links, auf der anderen Seite vom Haustor, war ein Fischladen der HO, der staatlich geführten Handelsorganisation. Alles weiß gefliest, auch zwei Schaufenster und mit einem großen Karpfenbecken. Allein das Drama, welcher Fisch im Köcher landete und welcher entwischte, konnte uns Kinder eine Weile in Atem halten. Und dann kam, direkt neben der Einfahrt, eine winzige Eisdiele. Waffel-Eis, direkt in die Hand. Schon eine kleine Attraktion, die das Haus im Sommer »verzauberte«. An heißen Tagen stand die halbe Buddelkasten-Besatzung vom Kollwitzplatz bei uns Schlange.

Überhaupt der Kollwitzplatz, der gehörte natürlich dazu. Der riesige Sandkasten samt Klettergerüst, die drei Skattische aus massiven quadratischen Steinplatten, die großen Rasenflächen, umsäumt von Wegen mit vielen rotbraun gestrichenen Parkbänken. Und an der Ecke Knaackstraße das immer stinkende Pissoir. Blöde waren nur die Schilder, die man überall ins Gras gerammt hatte: »Betreten der Grünanlage verboten! Eltern haften für ihre Kinder!« Also doch Buddelkasten. Allein im Winter, wenn alles mit Schnee bedeckt war, galt das Verbot nicht. Den Schnee durften wir betreten.

Mit der Einschulung erweiterte sich unser Territorium beträchtlich. Nun marschierten wir jeden Tag links in die Knaackstraße, vorbei an einer der letzten noch nicht geräumten Ruinen am Kollwitzplatz. Vorbei an einer Gardinenspannerei, wo die frisch gewaschenen weißen Stores auf große Holzrahmen gezogen und an schönen Tagen vor dem Geschäft zum Trocknen aufgestellt wurden. Dann weiter am Wasserturm entlang, rechts in die Kolmarerstraße, und schon verschluckte uns die 13. oder 14. Grundschule. Ein alter, typischer gelb-roter Ziegelbau mit Turnhalle. Irgendwann kamen wir alle dort an, drückten uns auf eine der Holzbänke und lernten in der Fibel lesen: dass Walter Ulbricht ein sehr guter Schüler war und Stalin nie abschreiben ließ. Wir schon.

Ein anderer Weg, den wir nahmen, führte rechts in die Wörtherstraße vor bis zur Prenzlauer Allee – zum Kino »Berolina«. Vor dem Eingang eine kleine Kasse, drinnen vielleicht 20, 30 Reihen mit Klappstühlen und diesem eigentümlichen Zaubergeruch aus Staub und Zelluloid. Jeden Sonntag vor elf Uhr spazierten wir, fein rausgeputzt, 25 Pfennig in der Tasche, zu unserer Flohkiste und johlten berauscht bei den Filmszenen, in denen die Helden zum Sieg stürmten: »Öööööh, die Guten!« Das waren meist Partisanen oder Rotgardisten. Oder Kinder wie »Timur und sein Trupp«. Natürlich auch gut, hilfsbereit, vorbildlich. Aber eben doch auch etwas Rasselbande. Und das nahmen wir mit. Der Erziehungsappell blieb im Kino.

Bald kamen ganz andere Filme hinzu, andere Helden, in der anderen Hälfte der Stadt. Wir müssen acht oder neun Jahre alt gewesen sein, als wir zum ersten Mal alleine loszogen. Natürlich ohne unsere Eltern vorher zu fragen, sie hätten es bestimmt aus Sorge (eher) oder Gesinnung (weniger) verboten. Also dann lieber heimlich: quer über den Kollwitzplatz, durch die Wörther, über die Schönhauser, in die Oderberger und dann vor bis zur Ecke Bernauer. Ein beklemmender Ort damals, denn hier standen immer vier oder fünf Volkspolizisten. Sie patrouillierten auf dem Bürgersteig und auf der Straße, musterten scharf die Passanten, kontrollierten beliebig deren Taschen und nahmen einen – bei Verdacht – in Gewahrsam. Ein paar Schritte weiter atmete man erst mal durch, man war im Westen.

Und der empfing uns mit einer Parade von Marktständen, vollgepackt mit Schokolade, Kaugummi, Marzipan, Kaffee, Kakao, Apfelsinen, Bananen. Verführungen, die es im Osten nicht gab oder dort nicht schmeckten. Um die Ecke lockte das Kino »Vineta« mit rauchenden Colts und Tarzan-Filmen. Alles kaum 15 Minuten von unserem Haus in der Kollwitz entfernt. Wir waren kleine »Weltenbummler« – spazierten mehrmals in der Woche von Ost nach West und von West nach Ost. So wie ein Großteil der Ostberliner damals. Es war irgendwie immer noch eine Stadt und das Procedere längst eingeübt. Viele der grenznahen Läden und Verkaufsstände nahmen auch Ostgeld, ansonsten musste man die gewünschte Summe vorher umtauschen, meist zum Kurs von 1 (West) : 4 (Ost). Das ging ganz rasch über die Bühne, in extra »Wechselstuben« oder manchen Geschäften, man wusste schon in welchen. Alles im Westen natürlich. Der Rückweg allerdings war gefährlicher, denn wir waren selten »sauber«. Irgendwas musste immer geschickt am Körper versteckt und an den Vopos vorbeigeschmuggelt werden: »Micky Maus«- oder »Jerry Cotton«-Hefte, Knallplättchen-Pistolen oder Elvis-Platten. Unsere Wünsche änderten sich, wurden mit uns »älter«, das Herzklopfen an der Grenze blieb.

Letztlich war es Zufall, ob man im amerikanischen, britischen, französischen oder im sowjetischen Sektor lebte. Der Krieg hatte Berlin in weiten Teilen in eine Trümmerlandschaft verwandelt, jedes fünfte Gebäude war eingestürzt, ausgebrannt oder schwer beschädigt. 600000 Wohnungen – verloren. Luftbilder muten noch heute surrealistisch an. Die Menschen waren glücklich, wenn sie überhaupt eine Wohnung hatten und nicht in Kellern oder Baracken hausen mussten. Und ob die vier Wände nun im Westen oder im Osten, in Treptow oder in Spandau standen, war in den frühen Nachkriegsjahren noch unwichtig. Man wollte vor allem leben, unter allen Umständen.

Doch der Kalte Krieg machte sich mehr und mehr bemerkbar. Die »Freie Welt« auf der einen Seite, die »Baumeister des Sozialismus« auf der anderen. Und im geteilten Deutschland feuerten zwei alte Männer, Konrad Adenauer und Walter Ulbricht, unablässig Worthülsen aufeinander. Den Bundeskanzler und den SED-Parteichef einte eine tiefe gegenseitige Abneigung und das Bemühen um die Sicherung der eigenen Macht. Fernsehen kam erst später, also fand der Krieg in der Presse und im Äther statt. Glitzerwelt gegen Versprechen. Und Verbote. Die staatliche Propaganda klang plump und falsch, besonders in jenen frühen Jahren. Die meisten Ostberliner (gefühlt!) hörten Westradio – den RIAS. Selbst am 1. Mai hingen in unserem Straßenzug höchstens zwei rote Fahnen zum Fenster raus. Wir waren zwar von politischen Losungen an Behörden, Bahnhöfen, Betrieben umzingelt, auch in den Schulen, aber wir nahmen sie kaum wahr. Und wenn, dann störend.

Wie den »Augenzeugen«, die DDR-Wochenschau, mit der jede Kinovorführung begann. Auf unseren Wunschfilm mussten wir warten, zuerst kamen die Erfolgsberichte: Neue Traktoren aus der Sowjetunion. Oder: Die Brigade »T.D. Lyssenko« hat in Akkordarbeit 100 Tonnen Getreide verladen – Kommentar etwa: »Jeder volle Sack ein Schlag ins Gesicht der Bonner Kriegstreiber!« Oder man zeigte uns rührende Bilder vom spitzbärtigen Genossen Ulbricht beim Volleyballspiel. Irgendeiner aus der hinteren Kinoreihe ahmte spöttisch das Meckern einer Ziege nach. Und die, die es hörten, lachten. War ja dunkel, sah ja keiner.

Für uns Kinder waren die fünfziger Jahre eine aufregende, abenteuerliche Zeit. Eine Kindheit, die anders war als andere, die es so nie wieder gegeben hat – zwischen Naziruinen und Neuaufbau, Stalinkult und American Way of Life, West-Ausflügen und Mauerbau, Brausepulver und Chewinggum, Jungen Pionieren und Donald Duck.