Cover.jpg

Inhalt

[Cover]

Titel

Motto

WUST

GLAUCHA

KÖNIGSBERG

KAVALIERSREISE

GENS D’ARMES

ZEITHAIN

KÜSTRIN

STAMMTAFELN

PERSONENREGISTER

Autorenporträt

Über das Buch

Impressum

[Leseprobe – Die Sintflut in Sachsen]

Titel.jpg

ZEITHAIN

Es gibt kaum einen Abschnitt in unserer Historie, der öfter behandelt worden wäre als die Katte-Tragödie. Aber so viele Schilderungen mir vorschweben, das Ereignis selbst ist bisher immer nur auf den Kronprinzen Friedrich hin angesehen worden. Oder wenigstens vorzugsweise. Und doch ist der eigentliche Mittelpunkt dieser Tragödie nicht Friedrich, sondern Katte. Er ist der Held, und er bezahlt die Schuld.

Theodor Fontane: Wanderungen durch die Mark Brandenburg

Ich heiße Philip Stanhope, wie mein Großvater, der letzte Graf von Chesterfield, mein Ururgroßvater, Admiral der Royal Navy, und mein Ururururgroßvater, jener junge missratene Philip Stanhope, unehelicher Sohn des gleichnamigen Vaters, Vierter Graf von Chesterfield, der seine berühmten, doch letztendlich vergeblichen Briefe an seinen Sohn über die anstrengende Kunst, ein Gentleman zu werden an ebendiesen Philip Stanhope adressiert hat. Nicht nur die Namensgleichheit, auch die unehelichen Verhältnisse durchziehen meine Genealogie wie ein misstönendes Leitmotiv. Der berühmte Vater meines ihn letztlich enttäuschenden Ururururgroßvaters war mit Petronella Melusina von der Schulenburg, der unehelichen Tochter von König Georg I. und seiner Mätresse, Ehrengard Melusine von der Schulenburg, vermählt. Diese Ehe aber blieb kinderlos, sonst hätte ich mich nun einer königlichen, wenngleich illegitimen Abstammung rühmen können. Indessen nahm auch der Vierte Graf von Chesterfield es mit der ehelichen Treue nicht so genau und zeugte meinen Ahnen mit einer dubiosen Mademoiselle Elisabeth du Bouchet, deren genaue Herkunft in den Familienarchiven dunkel bleibt. Und der aus dieser Liaison entsprungene Philip Stanhope hatte ebenfalls nichts Besseres zu tun, als der Mode seiner Zeit zu folgen und auf seiner Grand Tour in Rom den von einem Zeitgenossen als »plain almost to ugliness« beschriebenen Reizen meiner Ururururgroßmutter Eugenia Peters zu verfallen. Er war gerade mal achtzehn Jahre alt, sie zwanzig. Ihrem Schoße entsprangen Charles und der nächste Philip Stanhope, geheiratet haben die beiden aber erst Jahre nach der illegitimen Geburt ihrer Söhne 1730, im Jahr von Kattes Hinrichtung, in Dresden, und von der Existenz seiner Enkel erfuhr der Vierte Graf von Chesterfield erst nach dem frühen Tod seines Sohnes.

Diese mehr illustre als ehrenvolle Ahnengalerie hilft mir nicht einmal in grundlosen Phasen der Schwermut, meine von Selbstmitleid und Minderwertigkeitsgefühlen gemarterte Seele aufzurichten. Obwohl durch die Heirat des Vierten Grafen von Chesterfield mit Petronella Melusina von der Schulenburg, der illegitimen Tochter König Georg I. rechtmäßig mit dem Königshaus verwandt – illegitim ist König Georg I. ja der legitime Großvater meines illegitimen Vorfahren Philip –, bin ich nie zu einer Feier, sei es Taufe, Hochzeit oder auch nur einer Scheidung, meiner erstaunlicherweise immer noch über England herrschenden Verwandtschaft eingeladen worden. Vielleicht ist auch das, neben den bekannten Vorkommnissen im letzten Jahrhundert, ein Grund dafür, dass die deutschen Zweige und Verästelungen unserer Familiengeschichte bis zur Nichtexistenz verschwiegen wurden. Und das wäre zweifellos auch so geblieben, wären diese sieben Briefe nicht in meine Hände geraten.

Lord Chesterfields Rat an seinen unglücklichen Sohn könnte wortwörtlich auch aus dem Mund meines Vaters stammen: »Ich wünschte nichts herzlicher, als Dich so oft wie möglich lächeln zu sehen, aber niemals will ich Dich in Deinem Leben lachen hören. Regelmäßiges und lautes Gelächter ist eine Eigenschaft närrischer und schlecht erzogener Charaktere, mit dem der Pöbel seine dumme Freude über dumme Dinge äußert. Und sie nennen es auch noch Glücklichsein. Meiner Meinung nach ist nichts so unfrei und so krankhaft wie lautes Gelächter. Ich bin weder schwermütigen noch zynischen Gemüts, und ich bin offen für Amüsement wie jedermann, aber ich bin sicher, niemand hat mich, seit ich Herr meiner Vernunft bin, je lachen gehört!«

Würde man meinen Vater, einen schmallippigen Tory-Abgeordneten und ehemaligen Wirtschaftsanwalt, nach seiner Meinung über seinen erstgeborenen Sohn Philip, also mich, befragen, würde sein ernüchterndes Urteil in etwa folgendermaßen lauten: »Bitte fragen Sie nicht! Er hat sein Studium abgebrochen und ist zu Hause ausgezogen. Zum Militär will er nicht. Und eine anständige Arbeit findet er nicht, so wie er aussieht und sich benimmt. Sein Geld holt er sich vom Sozialamt ab, das es sich bei mir zurückholt. Von mir bekommt er keinen Cent!

Keine Ahnung, wo er sich im Augenblick herumtreibt. Die Adresse seiner Absteige hat er mir nicht mitgeteilt. Im Übrigen interessiert es mich auch nicht. Das letzte Mal habe ich ihn ohne Helm auf einem teuren Motorrad eine rote Ampel überfahren sehen. Ich weiß nicht, ob er diese Ordnungswidrigkeiten nur deswegen begangen hat, weil er mich an der Straßenkreuzung in meinem Dienstwagen erkannt hat. Wir haben uns nicht gegrüßt. Woher er das Geld für ein teures Motorrad hat? Ich vermute mal, aus Drogengeschäften oder anderen zweifelhaften Quellen. Er raucht Marihuana, schnupft Kokain, schluckt Ecstasy, das alles kostet viel Geld, und sicher bezahlt ihm das nicht das Sozialamt. Vielleicht hat er es auch irgendwo gestohlen. Schon als er noch bei mir wohnte, hat er gedealt und geklaut. Immer wieder standen merkwürdige Typen vor unserer Tür, offensichtlich Junkies, wenn Sie mich fragen. Und es gab gehäuft Wohnungseinbrüche und Diebstähle in der Nachbarschaft. Fast hätte ich selbst die Polizei auf ihn aufmerksam gemacht! Doch dann ist er endlich ausgezogen, und die Diebstähle hörten auf. Oder haben sich in andere, weniger gut beleumundete Quartiere der Stadt verlagert. Womöglich wäre es von nicht geringem erzieherischen Wert, wenn er tatsächlich mal erwischt würde und die Justiz ihm einen ordentlichen Denkzettel verpasste! Natürlich, kaum je ist mal ein junger Mann in einer Strafvollzugsanstalt zu einem besseren Menschen geworden. Wenn Sie mich fragen, ich habe ihn abgeschrieben! Aber besser, Sie fragen mich nicht!«

Diese fiktiven, aber durchaus realistisch wiedergegebenen Auskünfte meines Vaters sind nicht vollkommen unberechtigt oder falsch, aber, wie alle väterlichen Urteile über ihre heranwachsenden Söhne, ziemlich einseitig. Nun, ich will erst gar nicht versuchen, mich zu rechtfertigen, denn die andere, unberücksichtigte Seite geht meinen Vater überhaupt nichts an. Nicht er hat sie einfach ignoriert, sondern ich habe sie, zunächst mit kindlicher Verschlagenheit und später mit jugendlichem Missmut, vor ihm verborgen gehalten. Er weiß ohnehin schon mehr von mir, als mir (und ihm) lieb sein kann, doch in frühen Lebensjahren ist es einem Schutzbefohlenen ja noch nicht gegeben, alles vor den Erziehungsberechtigten geheim zu halten.

Bei einem jener von ihm zu Recht so missbilligten Streif- und Beutezüge durch die väterliche Wohnung, die eher Unzufriedenheit und Langeweile als tatsächlicher Bedürftigkeit geschuldet waren, stieß ich im Walnusssekretär meines Vaters, einem alten Familienerbstück und absolutem Tabu für meine pubertären, von exzessiver Selbstbefriedigung befleckten Kifferfinger, auf diese besagten Briefe an meine Urururururgroßmutter, säuberlich und gut lesbar in einem altmodischen Französisch mit Tusche auf inzwischen ein wenig vergilbtem Büttenpapier verfasst. Sofort steht mir der Wert dieser Briefe, an deren Authentizität ich keinen Augenblick zweifle, vor Augen, und ich gehe im Geiste schon die Liste jener Hehler durch, die mir Höchstsummen für derlei Kuriosa zu bezahlen versprechen. Doch dann entscheide ich, eher aus einer mich selbst überraschenden Laune heraus, diese Briefe doch erst einmal zu lesen, bevor ich sie an den Meistbietenden verhökere.

Ich begreife schnell, dass sie nicht vollständig sein können, da immer wieder auf Briefe verwiesen wird, die in dem kleinen Bündel fehlen. Trotzdem ergibt sich ein recht geschlossenes und mich, aller jugendlichen Abgebrühtheit zum Trotz, tief berührendes Bild des Briefschreibers. Mit ihnen beginnt in gewissem Sinn auch meine Geschichte. Nicht, dass der Fund mich zu einem besseren Menschen gemacht hätte. Aber ich behielt die Briefe, bis heute hat mein Vater ihren Diebstahl nicht entdeckt (oder mir von der Entdeckung keine Mitteilung machen wollen). Ich habe sie zunächst nach bestem Wissen und Gutdünken aus dem barocken und nicht immer ganz korrekten Französisch des märkischen Junkers ins Deutsche übertragen. Das hat mir unerwartet große Freude bereitet. Ich möchte nicht von Seelenverwandtschaft mit dem unbekannten Cousin sprechen. Vielleicht genügt schon der Umstand, dass ich nun fast in dem Alter bin, in dem Lieutenant Hans Hermann von Katte seinen Tod fand.

Wer war die Adressatin, diese Tante und mütterliche Freundin Kattes, Schwiegermutter meines Vorfahren Philip Dormer Stanhope, Vierter Graf von Chesterfield? Auf jeden Fall eine der mächtigsten Frauen ihrer Zeit, eine britische Madame de Pompadour, auf die meine Familie, trotz ihres ein wenig anrüchigen Standes einer königlichen Mätresse, bis heute mit einem gewissen Stolz blickt.

Dabei fing doch alles eher provinziell und bescheiden an: Sie diente als Ehrendame am Hof der Prinzessin Sophia von Hannover, Enkelin von König James von England, bis der Sohn Sophias, Kronprinz Georg Ludwig, sie zu seiner Bettdame erwählte. Als Georg nach dem Tod von Königin Ann im Alter von vierundfünfzig Jahren zum britischen Thronfolger, dem ersten aus dem Haus Hannover, ernannt wird, nimmt er Ehrengard Melusine von der Schulenburg, inzwischen mit ihren siebenundvierzig Jahren auch nicht mehr die Jüngste, dem zukünftigen König von England aber ans Herz gewachsen, mit nach London.

Obwohl mehr als fünfzig Verwandte Königin Anns ihr näher standen, kamen sie als Thronfolger nicht infrage. Ein Gesetz aus dem Jahr 1701 verbot Katholiken den britischen Königsthron. Und Georg Ludwig von Hannover war schlicht der nächste noch lebende protestantische Verwandte.

In England schafft er für seine Mätresse das Herzogtum Munster, die Grafschaft Dungannon und die Baronie Dundalk in Irland, und wenige Jahre später ernennt er sie zur Herzogin von Kendal, Gräfin von Feversham und Baronin Glastonbury.

Zeitgenossen beschreiben die Herzogin von Kendal als eine auffallend dürre Person, die respektlosen Londoner nennen sie einfach »die Nebelkrähe«. Doch fraglos ist sie die wahre Königin von England.

Das ursprünglich altmärkische, dann vor allem im Magdeburgischen begüterte Geschlecht derer von der Schulenburg steht Anfang des achtzehnten Jahrhunderts zum Teil in preußischen, vor allem aber in hannoverschen Diensten. Über seine Großmutter väterlicherseits, Eva Auguste von Stammer, ist Katte mit dieser altadeligen Familie verwandt, denn deren Schwester Anna Elisabeth, Kattes Großtante, hatte den brandenburgischen Kammerpräsidenten Gustav Adolf von der Schulenburg geheiratet. Von dessen Kindern war insbesondere Matthias Johann von der Schulenburg, ein Cousin seines Vaters, in venezianischen Diensten als Verteidiger gegen die Türken im Jahr 1716 berühmt geworden; nicht minder berühmt sollte Matthias Johanns Schwester, Ehrengard Melusine von der Schulenburg, als Herzogin von Kendal werden, die Katte nach seinem Besuch in London schlicht »Tante Melusine« nennt.

Die Tochter Georgs aus seiner legitimen Ehe mit Sophie Dorothea von Celle, Sophie Dorothea von Hannover, heiratet 1706 Friedrich Wilhelm, Markgraf von Brandenburg, später König in Preußen. Damit ist Georg I. von England der Großvater Friedrich des Großen.

Als Friedrich mit Katte in England Zuflucht suchen will, ist dort bereits sein Onkel Georg II. an der Macht. Während er noch Prinz von Wales war, hat Georg II. die Sommer stets in Hannover verbracht, vor allem um dem eigenen Vater fern zu sein. Georg II. ist dreiundvierzig Jahre alt, als er 1727 seinem Vater als britischer König nachfolgt. Er nimmt nicht an der Beerdigung seines Vaters in Hannover teil.

Den größten Teil seines Lebens steht Georg II. in politischer Opposition zu seinem Vater. Nun wiederholt sich im eigenen Sohn Friedrich, Cousin des preußischen Thronfolgers, das Drama, der Kronprinz stellt sich gegen seinen Vater und neuen König von England.

Georg II. ist der Schwager Friedrich Wilhelms von Preußen, aber wie sein ungeliebter Vater pflegt er ein eher ambivalentes Verhältnis zum preußischen Königshaus. Eine Verheiratung von Friedrich Wilhelms Tochter Wilhelmine mit ihrem Cousin, Georgs Sohn Friedrich, wird jahrelang verhandelt, ebenso wie die Heirat des preußischen Kronprinzen Friedrich mit Georgs Tochter Amelia. Am Ende scheitert die englisch-preußische Doppelhochzeit aber vor allem am Intrigenspiel Österreichs gegen diese unerwünschte, weil zu mächtige Allianz, wobei der jähzornige Soldatenkönig und sein voreingenommener englischer Schwager es den kaiserlichen Agenten auch nicht eben schwer machen.

Nach Georgs Tod hält Tante Melusine einen Raben, von dem sie glaubt, in ihm sei die Seele des toten Königs zu ihr zurückgekehrt.

Sie stirbt mit sechsundsiebzig Jahren, unverheiratet, es sei denn, König Georg habe sie, wie ernst zu nehmende Gerüchte behaupten, heimlich geheiratet, nachdem er sich von seiner rechtmäßigen Gattin Sophie Dorothea hat scheiden lassen und sie für den Rest ihrer Tage in ihrer Heimatstadt Celle gefangen hielt. Sie starb dreißig Jahre später, ohne ihre Kinder je wiederzusehen.

Von den drei Töchtern Melusines kehrten zwei nach Deutschland zurück und heirateten trotz ihrer illegitimen Herkunft standesgemäß in den preußischen Kleinadel ein. Petronella Melusina, Comtesse von Walsingham, die Zweitgeborene, ehelichte meinen Urahn Philip Dormer Stanhope, den Vierten Grafen von Chesterfield.

Glücklich kann die Ehe Chesterfields mit der unehelichen Tochter des englischen Königs nicht gewesen sein, aber sie eröffnet dem Grafen eine lange und erfolgreiche politische Karriere. Petronella sucht denn auch ihr Liebesglück rasch außerhalb der ehelichen Bande und gilt als Mutter von Benedict Swingate Calvert, dem legitimen Sohn von Charles Calvert, dem Fünften Baron von Baltimore. Lord Chesterfield indes zeugt den ersehnten Sohn und Erben mit jener schon erwähnten dubiosen Mademoiselle Elizabeth du Bouchet, die mich um mein königliches Blut bringt. Sonst hätte ich nicht nur den König von England zu meinen leiblichen Vorfahren zählen können, sondern wäre auch in zwar illegitimer, aber leiblicher Weise mit Friedrich dem Großen und seinem entfernten Cousin Katte verwandt.

Hätte sich von dieser Freiheit des Adels (oder diesem Adel der Freiheit) doch nur ein Bruchteil in die Generation meines graublütigen Vaters gerettet! Doch nun ist es offenbar an mir, ihr zu neuem Ruhm und Glanz zu verhelfen.

»Während Du in Deutschland bist«, schreibt Chesterfield an seinen Sohn, »beschränke alle Deine Untersuchungen auf Deutschland, nicht nur auf die allgemeine Reichsgeschichte, sondern auch auf die Geschichte der einzelnen Kurfürstentümer, Fürstentümer und Städte, desgleichen auf die Stammtafeln der angesehensten Häuser. Das Geschlechtsregister ist in Deutschland keine Kleinigkeit. Lieber würden die Deutschen ihre zweiunddreißig Ahnen nachweisen als zweiunddreißig Haupttugenden, wenn es denn so viele gäbe. Sie denken nicht wie Odysseus, der sehr richtig sagt: ›Herkunft und Vorfahren und was wir selbst nicht getan haben, das nenne ich kaum unser.‹«

Ich habe einige Jahre an der Universität von Aberystwyth studiert. Aberystwyth hat elftausendsechshundert Einwohner und siebentausendeinhundert Studenten. Schlägt man die Grund- und Oberschüler noch den Hochschülern zu, kommt auf jeden Einwohner dieses idyllischen walisischen Seebades ein Student. Das ist zweifellos der hauptsächliche, wenn nicht einzige Grund, warum Prinz Charles sein Studium hier absolvierte, vielleicht auch der hauptsächliche und einzige Grund, warum er sein Leben lang der Prinz von Wales zu bleiben verdammt ist.

Ich habe an dieser derart ausgezeichneten Universität Deutsche Literatur studiert. Warum eigentlich?, habe ich mich schließlich gefragt, wo doch selbst mit einem Master in Englischer Literatur in ganz Großbritannien keine Stelle zu finden ist!

Doch nun scheint sich alles zu fügen. Und es bewahrheitet sich das, was Cicero über die Gelehrsamkeit geschrieben hat: Die Kenntnis der Wissenschaften nähre die jugendlichen Jahre, ergötze das Alter, verschönere das Glück, sei Zuflucht und Trost im Unglück, vergnüge daheim, falle auswärts nicht zur Last, vertreibe uns die Nächte, die Zeit auf Reisen, das Leben in der Fremde.

Mein illustrer Vorfahre gleichen Namens begab sich bereits mit achtzehn Jahren auf Grand Tour. Und Hans Hermann von Katte ist neunzehn Jahre alt, als er zu seiner Bildungsreise nach England, Frankreich und Italien aufbricht. Zu seiner Zeit nennt man sie »Kavaliersreise«. Welch ein schönes Wort, auch wenn man damals unter einem »Kavalier« wohl noch etwas anderes verstand als heutzutage.

Also wird es auch für mich endlich Zeit, mich zu meiner Grand Tour aufzuraffen, in die entgegengesetzte Richtung, ins Herz des Kontinents, ins spröde, untergegangene Preußen, meiner Gemütsstimmung und finanziellen Lage gerade angemessen. Vielleicht schenkt sie mir sogar Abstand und Muße, über mich selbst nachzudenken, die notwendigen, zumindest unausweichlichen Schritte im Anschluss dieser Reise. Aber nun lass die Welt Welt sein und sich nach Paris und Venedig sehnen, für dich liegt Arkadien in Wust, in Glaucha und Küstrin!

In einem Nebengebäude des Doms der Freien Hansestadt Bremen, so lese ich auf meiner äußerst komfortablen Fahrt entlang extraterrestrischer Tagebaugruben und stillgelegter Zechen im Bahnmagazin, finde sich eine Attraktion absonderlicher Art: die mumifizierten Leichen in der Stadt verstorbener unbekannter oder nicht reklamierter Reisender, darunter auch die einer englischen Abenteurerin mit orangefarbenen Fingernägeln und bitterschokoladendunklem Teint, in der Stadt allgemein als »Lady Stanhope« bekannt. Es wird sich doch nicht etwa um eine entfernte Verwandte von mir handeln? Habe ich mit meinen Recherchen zu meinem Großcousin nicht genug zu schaffen, um mich auch noch um eine möglicherweise verschollene und nun auf wundersame Weise in der Bremer Dom-Morgue wieder aufgetauchte Großtante zu kümmern?

Der Lady fehle dem vor mir liegenden Artikel zufolge die Nase, anderen Mumien seien Haare und Finger abgetrennt worden, die Besucher abgeschnitten oder ausgerissen und als Erinnerungsstücke mitgenommen hätten. Einer dieser Finger und eine ganze Kinderhand befänden sich heute im Goethehaus zu Weimar. Der Bremer Arzt Dr. Nicolaus Meyer, ein Bekannter Goethes, habe sie dem Dichterfürsten übersandt, um ihn so zu einem Besuch Bremens zu verführen. Goethe nahm die Einladung jedoch nicht an und schenkte Finger und Hand seinem Sohn August.

Die Stadt ist relativ jung, verglichen mit anderen europäischen Metropolen wie Athen, Rom, London oder Aberystwyth. Den Römern ist es nie gelungen, östlich der Elbe Fuß zu fassen. Hier verlief die Grenze zu einem Reich, das noch von Stämmen beherrscht wurde.

Berlin war nicht viel mehr als ein Transitort, eine Furt oder ein Damm an der Spree, wo Kaufleute, die aus dem Westen oder dem Osten kamen, ihre Waren umladen mussten, ehe sie ihre Reise auf dem Landweg oder auf den Flüssen und Seen Richtung Norden fortsetzen konnten.

Transitort scheint die Metropole immer noch zu sein. Die meisten Berliner, die ich treffe, sind nicht hier geboren, sondern Zugereiste. Sie wollen auch nicht für immer bleiben, sondern sind noch auf der Suche.

In der U-Bahn sitze ich einem jungen Mann von achtzehn oder neunzehn Jahren gegenüber, schlicht und ungehobelt in seiner Rede, augenscheinlich ohne tiefere Bildung. Doch dann spricht er mich direkt an, mit so viel unerwarteter Feinfühligkeit und Überzeugungskraft, dass alles, was ich bisher gehört und gelesen habe, verblasst im Vergleich zu dem, was er mir mitteilt.

Er ist nicht der Erste, der mich, obgleich er mich nicht kennt, einfach anspricht. Die Stadt ist voller Sprachen, die durch ihre Sprecher verwundet sind. Es gibt eine spürbare Unruhe zwischen den Wörtern, ohne dass ich den Grund dafür erkennen könnte. Sie wühlt auf, peinigt mich, hat aber keinen anderen Namen als diese Leerstelle. Vielleicht ist es eine Geste, eine Operation anstelle eines Namens.

Ich bleibe in der U-Bahn sitzen, um so lange wie möglich mit dem beseelten Redner zusammen zu sein und ihm zuhören zu können. Zunächst klingen seine Worte wie eine Predigt. Als er bemerkt, dass endlich einmal einer seinen Worten lauscht, sagt er, ich dürfe ihm nicht glauben, denn er sei der größte Sünder auf der Welt!

Beim Zuhören darf ich mich weder an dem festhalten, was die Einheimischen sagen, in der Regel ist es widersprüchlich, noch an dem, wie sie es sagen, meistens ist es zu grob. Was bleibt, ist eine dunkle, gestaltlose Unähnlichkeit mit dem, was gemeint ist. Ich bin durchaus dankbar für diese Freiheiten der Deutung. Sie entlasten mich, sie eröffnen heilige Fiktionen. Wörter werden von ihrem Sinn losgerissen, sie liefern dem Verstand keinen Halt mehr, sondern bringen ihn, nein, zwingen ihn zur Bewegung.

Bis zum Betriebsschluss pendeln wir zwischen den Endstationen der Linie 2, während er mir von seiner vollkommenen Vereinigung mit Gott berichtet, Vereinigung im Sinne von Verkehr. Als er genauere Einzelheiten preisgibt, glaube ich ihm die besondere Vertrautheit sofort. Die Voraussetzung dieser unbegreiflichen Intimität sei die absolute Reinheit der Seele, sagt er mit großem Ernst. Und im tieferen Sinne sei sie es, die ergriffen werde, auch wenn zuallererst der Körper es spüre.

Ich frage den jungen Mann, wie diese absolute Reinheit der Seele erlangt werden könne.

Er erwidert, vor allem müsse man beharrlich sich selbst besiegen, die Sorge um die eigene körperliche und seelische Gesundheit, die Schmerzen, den Rausch.

Ich teile ihm ganz offen meine Angst vor Schmerzen mit. Er nickt verständnisvoll und verspricht, für mich beten zu wollen. Dann rät er mir, den Heiligen Josef zum Vorbild zu wählen.

»Den Heiligen Josef?«

»Ja, den Vater Jesu.«

»Ich habe bisher angenommen, Jesus habe keinen Vater gehabt.«

»Das ist in der Tat ein ungelöstes Mysterium. Seit meinem zehnten Lebensjahr verehre ich ihn als meinen ersten und einzigen Beschützer und vertraue nur ihm.«

»Dem Heiligen Josef und nicht Gott?«

»Der Heilige Josef ist Gott! Er ist der Vater in der Heiligen Dreieinigkeit.«

»Das habe ich nicht gewusst.«

»Er ist ein sehr verschwiegener Mann. Im Hause unseres Herrn hat er sehr wenig gesprochen, weniger als Unsere Liebe Frau, die auch nicht gerade ein redseliges Weib genannt werden kann.«

O Stadt der letzten Gott suchenden Mystiker, barfüßigen Bettelmönche, gepiercten Geißler, gefledderten Engel! Dunkle Tage, helle Nächte. Ungestüme Ruhe, schulterklopfende Grausamkeit. Vertraute Fremde, fremde Vertrautheit. Ja, ich rauche noch einen Joint mit.

Von der ersten Begegnung an mag ich es, wie diese Stadt ihre Unvollkommenheit mit einer Rhetorik des Exzesses und der Übertreibung verteidigt. Diese Schamlosigkeit scheint ihr vorherrschender Stil. Ich bewege mich durch eine Topographie, wo die Fallhöhe hoch und der Absturz die Regel ist. Mein Gegenüber würde es vielleicht den verstetigten Sündenfall nennen. Andere, nüchternere wie ich erkennen darin natürlich auch die schlichten Symptome eines ständigen Missbrauchs.

Tief in der Nacht steige ich endlich aus der U-Bahn aus. Doch es ist nicht die Station, zu der ich wollte, zumindest finde ich dort nicht die vertraute Umgebung, die ich erwartet habe, sondern eine Wüste.

Ich bin mir nicht sicher, ob es der äußere Verfall ist, der dieses tiefe Gefühl von Trostlosigkeit in mir hervorruft. Verfall, Verwahrlosung, Freudlosigkeit, Finsternis. Es dämmert bereits, als ich endlich zu meinem bescheidenen Hotel am Bahnhof Zoo zurückgefunden habe.

Kaum bin ich in einen schweren, traumlosen Schlaf gefallen, da fasst mich jemand an die Schulter. Vor mir steht ein bärtiger Mann in einer traditionellen Zimmermannskluft, wie ich sie nur aus alten Schwarzweißfilmen kenne, und spricht: »Was bist du stolz auf deine Gottlosigkeit und dein untugendhaftes Leben! Willst du einen wirklichen Heiligen sehen, so gehe in den Waschraum. Dort findest du einen Mann, der einen Lumpen um den Kopf gebunden hat. Niemals hat er sein Herz von Gott abgewendet, während deine Gedanken unentwegt in den Sündenpfuhlen der Weltgeschichte herumscharwenzeln!«

Als ich mich einfach umdrehen und weiterschlafen will, hebt er zornig den Eichenknüppel, den er wohl nur zu diesem Zweck bei sich trägt, da er zu rüstig ist, um sich darauf stützen zu müssen. Seufzend stehe ich auf und begebe mich in den Waschraum. Außer zwei kotzenden Landsleuten ist er leer. Dann gehe ich hinunter zum Empfang und frage den Nachtportier nach einem Angestellten oder Gast, der mit einem um den Kopf geknoteten Scheuertuch herumläuft. Der sichtlich müde Nachtportier blickt mich an, als sei ich nur ein weiterer betrunkener Brite, der gleich seinen Empfangsraum vollkotzen wird. Ich versuche, seine Bedenken zu zerstreuen, und erkläre ihm, ich hätte eine Vision gehabt, ein bärtiger Mann mit einem Knüppel in der Hand, seines Zeichens Tischler oder Sargschreiner, habe mir befohlen, besagten Heiligen mit dem Scheuertuch aufzusuchen.

Der Herbergsangestellte, jung noch, vermutlich ein Student, aber in derlei herausfordernden Situationen nicht unerfahren, nickt mit ausdruckloser Miene. Im Augenblick, sagt er, sei er der einzige Angestellte hier und, soviel er wisse, alles, nur kein Heiliger. Ich solle mich erst mal ausschlafen und am Morgen mit dem Geschäftsführer sprechen. Der kenne sich mit derlei Visionen besser aus, er habe immerhin ein abgebrochenes Theologiestudium hinter sich, während er, der Nachtportier, erst im dritten Semester Betriebswirtschaft studiere.

Ich falle ihm zu Füßen und sage: »Vergib mir und segne mich. Auch ohne Scheuerlappen bist du in meinen Augen ein Heiliger, Kurt!«

Nun blickt der Student doch ein wenig irritiert: »Woher kennen Sie meinen Namen?«

»Steht auf deinem Namensschild, Bruder.«

»Sorry, junger Mann, Sie müssen mich verwechseln! Besser, Sie gehen jetzt auf Ihr Zimmer zurück!«

»Haben sie dich nicht angepisst, als du noch ein sommersprossiger Junge warst, haben sie dir nicht Senf auf die Eichel und in die Arschritze gerieben, damals im Jugendlager, und später, auf dem Kinderspielplatz hinter deinem Wohnblock, sind sie da nicht über dich hergefallen, haben dir dein Handy und deine Sportschuhe geklaut, sodass du barfuss nach Hause humpeln musstest, und haben sie dir, nachdem dein Vater Anzeige erstattet hat, nicht nach der Schule aufgelauert und dich mit ihren Schlagringen und Springerstiefeln so zugerichtet, dass du zwei Wochen im Koma lagst?«

»Wer hat Ihnen denn diesen Unsinn erzählt?«

»Ich habe es doch gesagt, ich hatte eine Vision!«

»Gehen Sie schlafen, Mister!«

»Nicht, ehe du mir verziehen und mich gesegnet hast!«

»Ich bin kein Seelsorger, ich mache hier nur den Nachtdienst!«

»Dann bete für mich Sünder, Kurt!« Bevor seine Verlegenheit in heiligen Zorn umschlägt, trete ich den Rückzug an. Vielleicht habe ich es ja wirklich ein wenig übertrieben, noch ganz am Anfang meiner Reise.

»Bald hätte ich etwas vergessen, das ich Dir zum Augenmerk deiner Neugier und Erkundigung während Deines Aufenthaltes in Deutschland anpreisen wollte«, schreibt Chesterfield an den fernen siebzehnjährigen Sohn, »und das ist die Verwaltung der Gerechtigkeit.« – Ja, auch deswegen bin ich hier.

An Baroness Melusine von der Schulenburg, Herzogin von Kendal, St. James Palace, London

Wust, den 5ten April 1724

Endlich, teure Tante, bin ich nach Wust auf das väterliche Gut zurückgekehrt, wohlbehalten und gesund, und will den Dank nicht vergessen, den ich Ihnen für die gastfreundliche Aufnahme in London schulde. Überdies habe ich auch auf dem Heimwege so viel erlebt, daß mir auf diesem Papier kaum genug Raum bleibt, darüber zu schreiben. Ich wollte, ich könnte es Ihnen von Angesicht zu Angesicht erzählen, denn schon diese wenigen Zeilen, liebe Tante, müssen Sie enttäuschen, ich schreibe eben anders, als ich rede, schlimmer noch, ich rede anders, als ich denke, und ich denke anders, als ich denken sollte. Verzeihen Sie mir, daß ich mich an dieser Stelle kürzer fasse, als Sie es in den redseligen und selbstvergessenen Teestunden, die ich in Ihrer Gesellschaft verbringen durfte, von mir gewohnt sind. In aller Kürze also nur soviel: Vom Rheine aus bin ich schon in den Frühling hineingeritten, aber in den letzten Tagen, an den gefürchteten Hängen des Harzes, hat mich der Winter noch einmal eingeholt, und in Sturm und Wildnis und in eiskalter Nacht, die geladene Pistole neben mir im Strohbette, habe ich gar manches Gebet geseufzt zum verlorenen Gotte meiner Kindheit.

Aber es war am Ende kein tollwütiger Wolfshund, kein Wegelagerer oder Mordbube, der mir fast den Leib von der Seele getrennt hätte, sondern die blinde, unbarmherzige Natur. Zunächst betraf es nur die Zehen und Füße, die ich nach und nach nicht mehr spürte. Doch als die Taubheit die Beine hinaufzukriechen begann und ich schließlich nicht einmal mehr die schon steifen Finger spürte, wurde ich mir der Gefahr bewußt und bettete mich in guter Soldatenmanier dicht an meiner treuen Stute Rücken, die ich zu mir ins Stroh sich zu legen zwang, und nahm sie gleichsam zu mir unter die viel zu dürftige Decke. So lagen wir, Roß und Reiter, behaartes Fell an unbehaartem, in der zugigen Scheune und wärmten einander.

Und nun, da ich trotz aller Unbill ohne größere Blessuren an Leib und Seele heimgekehrt bin, fühle ich mich wie neugeboren.

Wie Sie sich zweifellos erinnern, ist unsere Gegend nicht reich an landschaftlichen Schönheiten, und was sie bietet, ist der Wildnis mit Fleiß und harter Arbeit abgerungen. Aber unansehnlich ist sie – dem Namen Wust zum Trotze – eben auch nicht. Die Güter liegen von Eichengeäst überragt im Grünen zwischen Wiesen und Hainen. Es ist stiller hier und weniger staubig als in London oder Berlin. Auch wenn ich an diesem Orte weniger Zeit verbracht habe als in der Residenzstadt, so ist doch jeder Baum im Garten und jeder Platz im Dorfe mit Erinnerungen verbunden, glücklichen und unglücklichen.

Als ich mein altes Kinderzimmer mit Blick zum großen Hofplatz hinter dem Hause bezog, kam eine Krähe ans Fenster geflogen, und obgleich ich ihr nichts zu essen geben konnte, blieb sie sitzen, aber schalt gewaltig mit mir. Erst als ich sie anzufassen versuchte, flog sie fort.

Seit dem Morgen regnet es recht stark, was sage ich, der Regen ergießt sich mit der Gewalt einer alttestamentarischen Plage auf Wust. Das gibt mir immerhin die Zeit und Muße für diesen Brief. Überhaupt führe ich gerade das Leben eines Einsiedlers, da mein Vater in Berlin und meine Stiefmutter mit den Kindern in Königsberg weilen und nur wenig Gesinde das Haus hütet. Bei trockenem Wetter spaziere ich über die Felder und Auen bis zum Elbufer. Kehre ich zurück, musiziere ich oder vergnüge mich in Gesellschaft eines Buches. Der Umgang mit Büchern verlangt von uns ja ein gewisses Maß an Seßhaftigkeit. Dafür entschädigen sie uns mit der Bewegtheit und Unbegrenztheit des imaginären Reisens.

Von den Verwandten und Bekannten auf den Nachbargütern habe ich kaum jemanden besucht. Doch ist in der vergangenen Woche hochbetagt Großtante Luise von Bismarck gestorben, gestern fand die Beisetzung statt, an der ich wohl oder übel teilnehmen mußte. Vielleicht erinnern Sie sich noch an das zarte, zerbrechliche Fräulein. Sie hat nie geheiratet und allein mit ihren Bediensteten auf einem Nachbargute bei Jerichow gewohnt. Sie war ihr Leben lang verschlossen, unwirsch und schwermütig. Erst in den letzten Lebensjahren, als sie kaum noch gehen und das Haus verlassen konnte, ist sie noch einmal zu neuer Lebensfreude aufgeblüht. Den Grund für diese wundersame Wandlung haben wir erst nach ihrem Tode erfahren.

Ein junger schwedischer Offizier, Herr von Boltenstern, lag während des letzten Krieges, als die Schweden plündernd und brandschatzend durch die Mark zogen, im Haus ihrer Eltern im Quartier. Es war damals noch ihre ältere, unverheiratete Schwester Elisabeth im Hause, und beide mögen sich wohl um den stattlichen jungen Mann bemüht haben. Aber der schwedische Edelmann hatte zum Leid und Argwohn der Älteren nur Augen für die Jüngere, Luise. Als dem jungen Offizier weiterzuziehen befohlen ward, versprach er Luise beim Abschied, sich gleich nach seiner Rückkehr in die Heimat mit seiner Familie zu beraten und dann bei Luisens Vater um ihre Hand zu werben. Auch wenn der Edelmann ein Schwede war, stammte er doch aus einer vornehmen und begüterten Familie, so daß einer Einwilligung des Vaters wohl nichts entgegengestanden hätte.

So zog der junge Offizier ab, und Luise wartete. Sie wartete geduldig und mit Zuversicht. Es verging ein Jahr und ein weiteres, und keine Nachricht aus Schweden erreichte sie. Doch sie glaubte weiterhin mit unerschütterlichem Vertrauen, daß der ersehnte Brief kommen müsse und kommen werde. Sie wies alle Bewerber, auch gegen die ausdrückliche und scharfe Mißbilligung der Eltern, ab, was man ihrem sanften Charakter gar nicht zugetraut hätte, und blieb ledig.

Erst Jahrzehnte später, nach dem Tode ihrer Schwester Elisabeth, klärte sich das Geheimnis auf. Unter den Papieren der Verstorbenen fand sich jener lang ersehnte Brief, von der eigenen Schwester aus Eifersucht und Mißgunst unterschlagen. Inzwischen war Großtante Luise selbst schon eine Greisin von über siebzig Jahren. Dennoch begann sie, Erkundigungen über jenen jungen Offizier einzuziehen. Er lebte noch, unverheiratet wie sie, ein rüstiger Greis. Und Luise begann im hohen Alter eine Correspondance mit ihm, ein Briefwechsel nicht ohne Bitterkeit über das verratene und vorenthaltene Glück. Sie schrieben einander, solange Herr von Boltenstern noch lebte, und meine Tante gewann ein wenig von ihrer Lebensfreude zurück, doch wiedersehen wollten die beiden betrogenen Alten einander nicht.

Und nun hat auch Tante Luise ihre letzte Ruhe gefunden und in ihrem Letzten Willen bestimmt, man möge die Briefe des Herrn von Boltenstern zu ihr ins Grab legen. Ihr jüngster, einzig noch lebender Bruder, Großonkel Christoph, hat dafür Sorge getragen, daß kein fremdes Auge noch einen Blick hineinwerfen konnte, was ich äußerst ehrenwert, aber auch bedauerlich finde.

Angesichts unserer Natur und unseres Loses bin ich ein hoffnungsfroher Pessimist. Nicht immer sind die Menschen in der Lage, dem rechten Maße und der erwarteten Tugend zu folgen. Und ich gebe offen zu, ich selbst bin einer von ihnen. Aber das kommt meinem Dafürhalten nach daher, daß wir uns nicht alle dieselbe Vorstellung vom Glücke machen und unterschiedliche Leidenschaften uns zu unterschiedlichem Verhalten bestimmen. In dieser Hinsicht bekenne ich mich zum Ideal größtmöglicher Freiheit. Aber dieses Geständnis behalten Sie bitte für sich, teure Tante.

Es grüßt Sie mit höchster Ehrerbietung, Ihr ergebener Neffe

Hans Hermann von Katte

WUST