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Inhalt

[Cover]

Titel

Widmung

Zitat

Der Eichelhäher

Auszeiten

Transit

Verzweiflung

Geschwungene Treppe

Schiff im Schnee

Finsterwald

Die Nächte im Garten

Tauchen

Eine Welle

Der Kuss

Dank

Autorenporträt

Über das Buch

Impressum

[Leseprobe – Lichter als der Tag]

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Für Sonni

Im Universum ist niemand zu Hause.

Lars Gustafsson

Der Eichelhäher

Am Wochenende vor seiner abschließenden Schicht auf der Werft fuhr er mit der Kawasaki aufs Land hinaus und besuchte ein letztes Mal seine Eltern. Es war ein schöner Tag in einem allmählich winterlichen Herbst, und es war Hochsommer dort, wo er schon in wenigen Tagen sein würde. Obwohl ihn seit einiger Zeit ein gleichbleibend lästiger Schmerz in der Seite plagte, ließ er sich von seinem Stiefvater zu Kaffee und Kuchen im Wintergarten überreden. Dort berichtete er den Eltern von den Arbeiten im Bremer Trockendock und den letzten Vorbereitungen zu seiner Motorradrundreise durch Feuerland.

Mit dem Geld, das der Job ihm einbrachte, und der Summe, die seine Eltern beigesteuert hatten, war nach zwei Jahren genug für die Reise nach Südchile angespart. Länger noch hatten sich seine Mutter und sein Stiefvater nach einem Sommerhaus in der Provence umgesehen, und endlich, erzählten sie, waren sie fündig geworden, durch eine Freundin, die unweit von Aix eine ältere Maklerin kannte. In einem Weiler am Fuß der Sainte-Victoire vertrat sie ein Schweizer Rentnerpaar, das sein Ferienhaus zum Kauf anbot. Wie sich herausstellte, hatten sein Stiefvater und der Rentner fast zwanzig Jahre lang im selben Konzern gearbeitet. Vielleicht kannte man sich sogar.

Das Beisammensitzen vor der türkisgrünen Wand der alten Bäume, unter denen seine Schwester und er aufgewachsen waren, brachte somit die angenehme Wehmut eines Abschieds für länger mit sich. Wenn der Schmerz nichts Schlimmeres bedeutete und er also in zwei Tagen nach Buenos Aires und von da weiter nach Punta Arenas flog, würden seine Eltern bereits in der Provence sein, um das Sommerhaus in Augenschein zu nehmen. Noch nie waren sie so weit entfernt voneinander gewesen.

Bevor er sich verabschieden würde, ging er durchs Haus, auch in den oberen Stock. Im Bad der Eltern nahm er sich zwei Schmerztabletten aus dem Spiegelschrank und schluckte sie mit einer Handvoll Leitungswasser hinunter. Einem Impuls folgend, blieb er vor der Tür zum früheren Zimmer seiner Schwester stehen und trat schließlich ein. Die Möbel waren noch Wiebkes, doch ihre Mutter hatte sie umfunktioniert. Wiebkes Zimmer war jetzt ein Lesezimmer voller Bücher, Kataloge und Magazine. Auf einem Stapel sah er eine Shakespeare-Ausgabe, schlug sie auf, wo ein Lesezeichen steckte, und las, als wäre es an ihn gerichtet, was Titus Andronicus zu seinem Enkel sagt: »Ruhig, zarter Spross; du bist gemacht aus Tränen.« Aus Tränen gemacht zu sein – er versuchte sich das vorzustellen, aber es gelang ihm nicht. Und er hatte den Satz schon vergessen, als er merkte, dass er durch die Verbindungstür gegangen sein musste, weil er auf einmal in seinem eigenen alten Zimmer stand.

Es war seltsam verändert, obwohl auf den ersten Blick nichts umgestellt worden war oder fehlte. Einzig das Fenster und die Tür zu der kleinen Loggia standen weit offen, und weil es trotz des linden Oktobers ungemütlich kühl in dem Raum war, nahm er an, dass sie schon seit Längerem nicht mehr geschlossen worden waren.

Wiebke war vor vier Jahren ausgezogen, er selber vor fast drei. Obwohl also viel Zeit vergangen war, empfand er diese Nachlässigkeit gegenüber seinen Sachen als Vernachlässigung seiner selbst, ein Gefühl, das ihm vertraut und fest mit seinem Kinderzimmer verbunden war – ein Gefühl, dachte Jan-Erik, als er Fenster und Tür schloss, das mich am Abend vor meiner Abreise nicht verwundern sollte. Er sah auf seine Hände, drehte sie. Dann blickte er im Zimmer umher, sah auf dem Regal seine alten Schiffsmodelle stehen, Schiffe, die alle entweder gesunken oder abgewrackt worden waren, und betastete unterdessen die schmerzende Region. In der Stille hörte er ein leises Geräusch, das er zunächst nicht weiter beachtete. Als es aber nicht aufhörte, suchte er die Ecken ab und fand schließlich zwischen Wand und Schlafcouch einen Vogel sitzen, der ihn aus dem Schatten heraus mit einem furchtsamen Auge anblickte. Es war kein kleiner Vogel, eine junge Krähe, meinte er, weil keine Gefiederfärbung an dem Tier zu erkennen war. Schnell ging er zur Treppe und rief nach seinen Eltern.

Seine Mutter kniete sich auf den Teppichboden und langte hinter die Couch. Als sie aufstand, saß auf ihrer Hand ein Eichelhäher. Sein Gefieder schimmerte. Jan-Erik sah hellblaue, hellbraune und weiße Federn und auch ein paar in einem dunklen Kupfergrün. Der Vogel wandte den Kopf nach allen Seiten und schackerte einige Male heiser und durchdringend.

»Darf ich vorstellen: Picasso!«, rief Jan-Eriks Mutter begeistert und sah ihn mit großen glänzenden Augen an.

Und sein Stiefvater, der in der Tür stand, gab ein Glucksen von sich: »Grokgrok, grok.« Er kam herein, legte Jan-Erik eine Hand auf den Arm und sagte leise: »Du bist doch nicht sauer, weil Gudrun ihn ab und zu in deinem Zimmer herummarschieren lässt? Hier ist er zum ersten Mal reingekommen, und wie’s aussieht, zieht es ihn immer wieder hierher zurück.«

Im Hinuntergehen erzählte sein Stiefvater, der Häher sei stubenrein, außerdem völlig zahm und sogar bis zu einem gewissen Grad verständig, weshalb Gudrun und er davon überzeugt seien, dass es sich um ein dressiertes Tier handele, dessen Besitzer irgendwo in der Nachbarschaft wohnten.

Sie setzten sich wieder in den Wintergarten. Der Vogel hüpfte auf Jan-Eriks Mutter herum, als wäre sie ein lebloses Ding. Schließlich spannte er die Flügel auf, schlug ein paarmal, als würde er mit einem Tuch wedeln, und flatterte auf einen zusammengeklappten Sonnenstuhl. Der junge Eichelhäher hatte nichts Graziles an sich. Seine Bewegungen waren hektisch. Aber alles, worauf er herumstakste, um in sichtbarer Panik Ausschau zu halten, schien er schon im nächsten Moment zu seinem Terrain erklärt zu haben.

Jan-Erik fragte mehr, um zu einem Ende zu kommen, als aus wirklichem Interesse, was aus dem Vogel werden sollte, wenn sie nach Südfrankreich fuhren, und er registrierte, dass seine Mutter die Frage zu überhören schien und nicht antwortete, so wie sie überhaupt nichts mehr gesagt hatte, seit der Vogel da war.

Auch sein Stiefvater zuckte mit den Achseln. Irgendwann meinte er: »Er kommt, wenn wir da sind. Und wenn wir nicht da sind, wird er’s schon merken. Oder, Picasso?« Und wieder ließ er das schnarrende Glucksen hören, sein »Grok, grokgrok!«.

Durch den Garten, zwischen den Eichen- und Kastanienlaubhaufen hindurch, begleiteten sie ihn zu ihrem neuen Carport. Das Holz für eine Pergola lag auf Blöcken im moosigen Gras. Seine Mutter ging zwischen Jan-Erik und seinem Stiefvater, und der Häher saß auf ihrer Schulter und ließ den Fremden nicht aus den Augen.

An der Kawasaki verabschiedeten sie sich, und wieder einmal bestaunte sein Stiefvater die schwere Maschine, ehe er fragte, wann sie verladen werde, um nach Tierra del Fuego verschifft zu werden. Er lächelte bei den drei klangvollen spanischen Wörtern.

»Gar nicht«, sagte Jan-Erik. Noch einmal erzählte er, dass er sich in Punta Arenas eine Kawasaki leihen würde, allerdings eine Enduro. Mit ihr würde er die Magellanstraße entlang nach Norden bis Punta Delgada fahren, von dort übersetzen auf die Hauptinsel und dann sieben oder acht Tage lang nach Süden bis Puerto Williams am Beagle-Kanal fahren. Er setzte den Helm auf. Im selben Moment gab seine Mutter einen Ton von sich, der wie ein freudiges Quieken klang.

»Da, siehst du!«, rief sie ihrem Mann zu. »Jetzt hat er es wieder gemacht!«

Und langsam, mit einem vorsichtigen Finger, zeigte sie auf den Häherschnabel. Ein kleines funkelndes Ding steckte darin, einer ihrer Ohrstecker, den sie dem Vogel behutsam, mit einem Lächeln auf den geschminkten Lippen, wieder wegnahm, bevor ihn Jan-Erik mit dem Starten der Maschine erschrecken konnte.

Weil die letzte Trockendockschicht schon früh am kommenden Morgen begann, fuhr er ohne Umweg zur Autobahn und kam eine gute Stunde später in der Bremer Pension an, in der sein Trupp untergebracht war. Er meldete sich bei seinem Vorarbeiter Blocher, der im Fernsehraum beim Abendbrot saß, sie tauschten ein paar Floskeln und Scherze, dann ging er auf sein Zimmer.

Obwohl er hungrig war und Blocher ihn bestimmt in Ruhe gelassen hätte, war ihm nicht nach Essen zumute. Die Tabletten betäubten den Schmerz bloß. Er saß tief in der Seite unterm rechten Rippenbogen, schien zugleich aber zu wandern. Besonders wenn er sich bückte, tat ihm der ganze Oberbauch weh, dann wieder griff der Schmerz von hinten an und stach ihn im Hochkommen so heftig in der Nierengegend, dass er aufstöhnte. Auf dem Bett liegend tastete er seinen Rumpf ab. Die Bauchdecke war hart und raubte ihm bei jedem Druck für kurze Zeit den Atem. Einige Erleichterung fand er, wenn er sich auf die linke Seite legte und die Beine anzog. Aber er merkte auch da, dass das Bohren und Wühlen nicht verschwand. Es ruhte bloß, besetzte sein Empfinden und wuchs. Auf der Seite liegend ließ sich der Schmerz in Schach halten. Über grüblerischen Gedanken an den Morgen, der ihm bevorstand, sank er irgendwann aus dem Bewusstsein und schlief ein.

Er wachte auf, als es an der Tür klopfte. Vor dem Fenster war es dunkle Nacht. Sein Wecker zeigte kurz vor zehn.

Er rief »Herein!«, um nicht aufstehen zu müssen, aber schon das Rufen verursachte einen so dumpfen und gleichsam in ihm aufbrüllenden Schmerz, dass er sich ruckartig zusammenkrümmte. Unter der Bettdecke schossen ihm Tränen in die Augen.

»Anruf für dich«, sagte der Mann von der Tür aus, Jan-Erik sah nur seinen Umriss. »Unten am Flurtelefon.«

Es war einer der Facharbeiter, mit denen Blocher das neue Jacuzzi auf der saudischen Prinzenyacht baute. Er kannte nur seinen Vornamen. Udo und er hatten noch nie ein Wort gewechselt.

Mit zwei Schritten war Udo an seinem Bett, er ging in die Hocke und fragte, was mit ihm los sei: »Kater?«

»Ja«, sagte Jan-Erik schwach, »mir platzt der Schädel. Wer ist es?«

»Eine Wiebke. Wohl deine Schwester.«

Im Dunkel des Zimmers mit dem vor seinem Bett hockenden Fremden sah er blitzartig wieder seinen Stiefvater vor sich, wie er die Augen verengt und die Lippen geschürzt hatte und wie er, auf diese Weise für Sekundenbruchteile selber Vogel geworden, aus seiner Kehle das glucksende Schnarren des Hähers ertönen ließ.

»Kann gar nicht sein. Egal, wer es ist, sagen Sie ihr, ich schlafe schon.«

»Mach ich.« Udo stand auf, indem er sich energisch auf die Schenkel klatschte. »Und ich sehe nach, ob ich irgendwo Aspirin für dich auftreibe.« Er ging und schloss die Tür.

Die Nummer der Pension hatte er nur seinen Eltern gegeben. Wahrscheinlich hatte Udo seine Mutter missverstanden, und bestimmt wollte sie sich versichern, dass nach diesem Abschied, bei dem man auf ihn genauso gut hätte verzichten können, keine Missstimmung zurückblieb.

Immer öfter nahmen seine Eltern an, er würde ihnen ihre Selbstbezogenheit vorwerfen. Dabei verstand er die als Zeichen ihrer Liebe zueinander, wenn auch einer Liebe, die ihm von Besuch zu Besuch wunderlicher erschien. Das langsame Altern seiner Mutter mitzuverfolgen war eine feste Größe in seinem Denken. Und Bedeutsames über einen selbst ließ sich ohnehin niemandem mitteilen. Hätte seine Mutter ihn gefragt, ob er Schmerzen hatte, weil er ständig das Gesicht verzog, oder ob ihm etwas fehlte, sein Vater oder Wiebke, die große Schwester, so wäre ihm das bloß lästig gewesen, und er hätte ebenso gelogen, wie er dem Facharbeiter Udo nicht die Wahrheit gesagt hatte.

Regungslos lag er auf dem Bett wie eine Wurst auf einem riesigen Teller Kartoffelpüree und starrte ins Dunkel. Allerdings hat es doch immer, seit Wiebke und Papa verunglückt sind und dieser Fremde bei uns einzog, der nun mein Stiefvater ist, so etwas wie eine besondere Unverbrüchlichkeit zwischen uns gegeben, dachte er. Lebendiges Zeichen dafür war für ihn immer sein altes Zimmer gewesen.

Er war eingedöst, als es erneut klopfte und Udo hereinkam, ohne die Erlaubnis abzuwarten. In Händen hielt er ein Glas Wasser und ein Röhrchen mit Brausetabletten, von denen er zwei in dem Wasser auflöste und Jan-Erik reichte. Er bedankte sich, setzte sich langsam auf und trank, und Udo, der hager, groß und linkisch war, blieb in dem vom Etagenflur hereinfallenden Lichtstreifen vorm Bett stehen und beobachtete ihn, bis er das Glas ausgetrunken hatte. Udo nahm es ihm ab, und Jan-Erik sank ins Kissen zurück.

Mit einem Mal, und nur für Sekunden, hatte er die Vorstellung, in einem abgedunkelten Spitalzimmer am Ende der Welt zu liegen, in irgendeinem öden und windigen Nest auf Feuerland, wo er das Motorrad angehalten und in einer Bruchbude ein ekelerregendes Etwas hinuntergewürgt hatte, das sich jetzt durch seine Eingeweide wühlte. Und der Fremde im Zimmer, der sich Udo nannte, war der zum dürren Schemen abgemagerte Betriebsarzt einer Firma, deren deutsche Chefs sich mit den Geldern aus dem Staub gemacht hatten und deren einheimische Arbeiter sich ausnahmslos dem Suff hingaben. Udos kalte Hand auf seiner Stirn zu spüren, brachte ihn nicht wirklich nach Bremen zurück. Erst der Gedanke, dass in nicht einmal sieben Stunden seine letzte Schicht begann, löste seine Verkrampfung etwas. Er musste schlafen! Solange er wach lag, war er sich sicher, nicht krank, nur unendlich erschöpft zu sein, und er wünschte sich nichts sehnlicher, als dass dieses Gerippe vor seinem Bett endlich ging und ihn allein ließ, damit er davontreiben konnte, weit weg über irgendeine Grenze.

»Einen ganz heißen Kopf hast du«, sagte Udo amüsiert. »Na, wenn das mal nur ein Kater ist.«

Verschwinde endlich, dachte Jan-Erik.

Licht aus.

Hau ab.

»Hier.«

Der dürre Mensch hielt ihm das Tablettenröhrchen dicht vors Gesicht.

»Sind noch drei Stück drin. Brauchst du Wasser?«

»Nein.«

Nein!

»Sonst etwas?«

Er antwortete nicht mehr. Er schloss die Augen. Er stellte sich schlafend. Und nach einer Weile hörte er, wie das Skelett endlich hinausschlotterte und die Tür hinter sich zumachte.

Seit drei Wochen arbeitete er in dem Trupp aus Malern, Schleifern und Sandstrahlern, aber jeden Morgen, wenn er von den Umkleidekabinen kommend die Trockendockhalle betrat, überwältigte ihn aufs Neue der Anblick des wie schwerelos darin schwebenden Schiffes. Blocher hatte ihn einmal zum Dockboden mitgenommen, seither wusste Jan-Erik, dass die 150-Meter-Yacht in Lagern ruhte, die dem Rumpf keinen Spielraum ließen. Und dennoch war es ihm aus einer unbestimmten Furcht heraus nicht möglich gewesen, dem Vorarbeiter zu folgen und mit eingezogenem Kopf unter dem meerblau lackierten Schiffsrumpf hindurchzugehen. Wenn er von der Balustrade auf Höhe des Hauptdecks hinunterblickte zum Grund des Docks, erschien ihm das emsige Treiben der Männer mit den bunten Sicherheitshelmen und Overalls dort unten wie ein einziges unzusammenhängendes Gewimmel.

Über eine Holzbrücke ging er an Bord der Abdul Aziz und zückte den Kontrollausweis. Der Wachmann der Werft warf einen kurzen Blick auf die Karte und winkte ihn durch, weiter zu den beiden Saudis, die mit offenem Sakko über dem dezent sichtbaren Pistolenholster an der Reling lehnten. Zahlreiche Wachposten, zumeist noch sehr junge Araber, patrouillierten den ganzen Tag lang einzeln oder zu zweit über das Schiff. Sie hatten Ringe unter den Augen, und nie sah man sie ohne Walkie-Talkie am Ohr. Er hörte den Empfänger schnarren, als er sich den beiden an dem Geländer näherte, woraufhin sie sich zu voller Größe aufrichteten. Sein Ausweis interessierte sie nicht. Einer senkte einen tiefen, ausdruckslosen Blick in Jan-Eriks Augen, der andere tastete ihn mit über den Körper fliegenden Händen ab. Weil sich nur ein Plastikröhrchen mit einer einzelnen Tablette in seinen Taschen fand, ließen sie ihn passieren. Jan-Erik schlug den Weg zum Heck ein, um sich dort auf der Baustelle des Sonnendecks von Blocher seinen letzten Tagesauftrag zu holen.

Er spürte, dass die beiden Aspirin, die er in der Pension auf nüchternen Magen geschluckt hatte, den Schmerz weiterhin zurückdrängten, und während er zum Heck ging, vorbei an einer Reihe großer Bullaugen, hinter denen ein in Pastellfarben gehaltener Salon mit Dutzenden Sesseln und Sofas unter durchsichtiger Schutzfolie lag, rechnete er sich aus, wie lange das Medikament wirkte. Er nahm sich vor, in der Mittagspause zum Werftbüro zu gehen, wo es einen Sanitäter gab, der ein Mittel für ihn hätte, sodass er bis zum Nachmittag würde durchhalten können. War das Bohren und Reißen dann immer noch da, würde er zur Apotheke fahren und sich eindecken mit einem Rucksack voller Schmerzmittel! Er konnte die Reise nicht absagen und würde es auch nicht. Heute brachte er die letzte Schicht hinter sich, morgen am Tag packte und am Abend flog er. So war es gedacht. So würde er es machen! Keiner konnte von ihm verlangen, dass er mutterseelenallein in einem Krankenhaus lag, vergessen von einer Welt, auf der alles weiterlief auch ohne ihn.

Eine verdrießliche Teilnahmslosigkeit machte sich in ihm breit. Das wilde Heulen der Schwingschleifer und Flexmaschinen, das Lachen und Kommandogebrüll drangen nur dumpf zu ihm durch. Als er das Jacuzzi erreichte, versuchte er unter den mehr als fünfzig Männern, die unter Termindruck an dem neuen Strudelbadaufbau arbeiteten, den roten Overall von Blocher auszumachen. Aber nicht einmal darauf konnte er sich konzentrieren. Die Bilder verschwammen vor seinen Augen, und in keinem sah er den Vorarbeiter. Lange stand er so nur in der Gegend herum, wurde angerempelt und ausgelacht und achtete angespannt auf nichts als das Kreisen und Stechen in seinem Innern. Sein Bewusstsein schwankte vor Trunkenheit wie ein Spiegelbild im Wasser, und dass er nicht bei sich war und nicht hierhergehörte, sondern ins Bett oder sogar wirklich ins Krankenhaus, merkte er einmal mehr, als ihm Speichel aus dem Mund lief. Bevor er den Faden auffangen konnte, tropfte er auf das rasengrüne Stahldeck.

Er sah Udo, der sich über einem Tisch voller Reißpläne mit zwei Arbeitern aus ihrem Zug beriet, und endlich setzte er sich in Bewegung und ging zu den Männern hinüber. Als Udo ihn bemerkte, unterbrach er die Besprechung, begrüßte ihn mit einem Klopfer auf den Arm und fragte Jan-Erik, indem er ihn beiseitenahm, wie er sich fühle.

»Bestens«, antwortete er wie von allein. Er bedankte sich für die Hilfe in der Nacht und fragte nach Blocher. Eine Weile sahen sie sich ratlos um, bevor Udo ihn anwies, die mit vergangenem Schichtende unterbrochene Arbeit fortzusetzen.

»Nehm ich auf meine Kappe.« Wieder klopfte er ihm auf den Arm. »Und ruf mal diese Schwester an, falls du das noch nicht gemacht hast.« Er zwinkerte ihm zu, und damit stakste er zu seinem Reißbrett zurück.

Den Vormittag hindurch arbeitete er langsam und gedankenversunken in der kleinen Garage, die sich auf einem Zwischendeck im Schiffsheck befand. Die Stahlrampe, über die die Limousine des saudischen Prinzen an Bord rollen konnte, war zur Hälfte herabgefahren und gab den Blick auf die geschlossenen Hallentore frei, die unmittelbar hinterm Heck der Yacht in die Höhe strebten. Ebbte der Lärm im Dock einmal ab, dann hörte er draußen die Weser gegen das schmutzig gelbe Portal rollen.

Wie in den vergangenen Schichten war er allein in dem streng nach Lack riechenden, immer noch zur Hälfte trist grauen Raum, wo es nichts gab, das nicht aus Metall bestand, und den er von oben bis unten samt aller darin vernieteten und verschweißten Schränke und Kisten in einem fast weißen Hellblau zu streichen hatte. Die Decke und zwei Wände der Yachtgarage waren fertig. Es fehlte der Anstrich der Rohre, der Kästen der Lüftungsanlage und der des Bodens, den er zum Schluss in Angriff nehmen sollte.

Es war fast Mittag, und er hatte auf seiner Leiter mit dem darin eingehängten Farbeimer die dritte Wand beinahe beendet, als er nach vergeblichen Versuchen, ihn zu ignorieren, sich endlich eingestand, dass der Schmerz wieder da war und minütlich stärker wurde. Eine Zeitlang verblüffte ihn die Pünktlichkeit, mit der die Wirkung der Tabletten nachließ und das immer kräftigere Stechen den frei gewordenen Raum in seinem Empfinden einnahm. Zwölf Stunden waren seit den ersten beiden Aspirin vergangen, die zweiten hatte er vor sechs Stunden genommen.

Dann aber war er zu solchen Berechnungen nicht mehr fähig. Und weil er wusste, wie heftig der Schmerz sein würde, fühlte er Panik in sich aufsteigen, hatte mit einem Mal Angst, der Wachposten könnte ihm die Tablette nicht zurückgegeben haben, und fühlte sein Herz rasen, bis er das Röhrchen in der Tasche ertastete.

Er sagte sich, dass er zwar eine Tablette hatte, aber kein Wasser, und glitt die Leiter hinunter. Bis er welches geholt und getrunken hätte und bis die Wirkung einsetzte, bis dahin bin ich am Ende, dachte er. Er nahm das Röhrchen in die Hand, biss es auf und zerkaute die Tablette, die so bitter war, dass es ihn schüttelte. Er merkte, wie er in die Knie ging, und fühlte an den Handflächen den kalten Metallboden. Und als er die Eiseskälte auch an Hintern und Beinen spürte, fing er an zu zittern. Er rutschte rückwärts an die Wand und lehnte sich dagegen. Starr blieb er so sitzen und sehnte das Nachlassen des Schmerzes herbei. Er hielt die Augen geschlossen, und er hatte dabei die Vorstellung, seine Gedanken zögen sich tief in einen geschützten Teil seines Körpers zurück.

Solange er sich nicht bewegte, schien es ihm wieder, als würde er mitverfolgen können, wie sich der Schmerz ausbreitete, ohne dass er dabei Schmerzen hatte. Es war ihm, als beobachte er jemanden zum ersten Mal, der ihn noch nie interessiert hatte. Einzig der stechende Geruch erinnerte ihn daran, wo er war. Ein Junge mit gebräuntem Gesicht schlenderte vor den halb offen stehenden Türen vorüber, und als Jan-Erik auffiel, dass der Halbstarke in ein Funkgerät sprach, fragte er sich, ob er die Kawasaki wohl abgeschlossen hatte.

Der gelbe Abendhimmel dort draußen machte ihn wehmütig. Und der furchtbare Gestank, der über dem Gelände hing, brannte in Nase und Mund. Noch nie war er so weit weg gewesen, und dieses Feuerland konnte ihn nicht trösten. Er war aus Tränen gemacht, und darum konnte er gar nicht anders und versuchte einen Arm ganz aus Tränen zu heben, um den Jungen zu begrüßen, als der von der Veranda herein- und auf ihn zukam. Aber der Schmerz, der ihn fest umklammert hielt, machte jede Bewegung unmöglich. Der Junge beugte sich zu ihm hinunter. Traurig sah er aus, und er hatte ihn nie zuvor in dem Vorort von Punta Delgada gesehen. Er musste der Sohn von einem der chilenischen Arbeiter sein, die schon am Mittag zu betrunken waren, um den zurückgelassenen Fuhrpark der Deutschen in Schuss zu halten. Keine fünfzehn war der Junge, aber hatte dunkle Augenringe, und als er dicht vor seinem Gesicht den Mund öffnete und auf Englisch etwas zu ihm sagte, sah Jan-Erik, dass ihm ein Stück eines Eckzahns fehlte, an dessen Stelle ein kleiner Edelstein in dem Gebiss funkelte.

»Relax. Let me help you. Here«, sagte dieser kleine Chilene, der hier unerlaubt in sein Zimmer kam. Er hatte ein Tuch, schüttelte es auf und gab es ihm.

»Dry your tears, Mister, don’t cry. Lay down till the doctor comes. I already called him.«

Er kann sprechen, dachte Jan-Erik aufgewühlt und mit einem Mal von einem heißen Glücksgefühl durchlaufen. Mama, dein Ohrstecker, er hat den Eichelhäher zum Sprechen gebracht.