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Inhalt

[Cover]

Titel

H - Wasserstoff

He - Helium

Li - Lithium

Be - Beryllium

B - Bor

C - Kohlenstoff

N - Stickstoff

O - Sauerstoff

F - Flour

Ne - Neon

Na - Natrium

Mg - Magnesium

AI - Aluminium

Si - Silicium

P - Phosphor

S - Schwefel

CI - Chlor

Ar - Argon

K - Kalium

Ca - Calcium

Sc - Scandium

Ti - Titan

V - Vanadium

Cr - Chrom

Mn - Mangan

Fe - Eisen

Co - Cobalt

Cu - Kupfer

Zn - Zink

Ga - Gallium

Ge - Germanium

As - Arsen

Se - Selen

Br - Brom

Kr - Krypton

Rb - Rubidium

Sr - Strontium

Y - Yttrium

Zr - Zirconium

Nb - Niob

Ru - Ruthenium

Rh - Rhodium

Pd - Palladium

Ag - Silber

Cd - Cadmium

In - Indium

Sn - Zinn

Sb - Antimon

Te - Tellur

I - Iod

Xe - Xenon

Cs - Caesium

Ba - Barium

Ce - Cerium

Pr - Praseodym

Nd - Neodym

Pm - Promethium

Sm - Samarium

Eu - Europium

Gd - Gadolinium

Dy - Dysprosium

Ho - Holmium

Er - Erbium

Lu - Lutetium

Hf - Hafnium

Ta - Tantal

W - Wolfram

Pb - Blei

Th - Thorium

Am - Americium

Cm - Curium

Bk - Berkelium

Cf - Californium

Es - Einsteinium

Fm - Fermium

Md - Mendelevium

No - Nobelium

Lr - Lawrencium

Rf - Rutherfordium

Db - Dubnium

Sg - Seaborgium

Dank des Autors

Glossar

Autorenporträt

Übersetzerporträt

Über das Buch

Impressum

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Habt ihr euch schon einmal gefragt, liebe Eltern, womit sich die Engel im Himmel die Zähne putzen? Ich kann es euch sagen. Mit doppeltkohlensaurem Natron, das wir auf unsere Zahnbürsten streuen. Es schmeckt ein bisschen salzig, was nicht weiter verwunderlich ist, weil doppeltkohlensaures Natron, genauer gesagt Natriumbikarbonat, eine Art Salz ist.

Doch ihr denkt eher nicht darüber nach, welche Zahnpasta es im Himmel geben könnte. Schließlich seid ihr Atheisten, und selbst gläubige Menschen machen sich nur selten Gedanken über die elementaren Seiten des Lebens nach dem Tod. Wenn sie an den Himmel denken, stellen sie sich wahrscheinlich am ehesten ein Gefühl allumfassender Liebe und allumfassenden Friedens vor und fragen sich nicht, ob die Ananas, die es dort zu essen gibt, frisch sind oder aus der Dose kommen. (Nebenbei bemerkt kriegen wir hier beides, allerdings mehr Dosenananas als frische.)

Dieser Bericht über mein Nachleben, den ich für euch schreibe, soll eine Art Handbuch für euch sein, und ich hoffe, eines Tages einen Weg zu finden, euch meine Geschichte zukommen zu lassen.

Wie ihr wisst, bin ich genau heute vor einem Monat, am 7. September 1979, vor meinem Spind in der Helen-Keller-Junior-High-School gestorben. Bevor ich starb, hatte ich versucht, die 106 Elemente des Periodensystems aufzusagen. Meine Spindnummer (Nr. 106) hatte mich auf die Idee gebracht, alle Elemente nach ihren Ordnungszahlen auswendig zu lernen. Bei Nr. 78 angekommen, Platin (Pt), wurde ich von Jermaine Tucker unterbrochen, der mir mit einem »Was zum Teufel treibst du denn jetzt schon wieder, Boo?«, eine Kopfnuss versetzte.

Ich habe euch ja erzählt, dass meine Klassenkameraden mich wegen meiner totenblassen Haut und meiner elektrisch aufgeladenen weißblonden Haare, die immer zu Berge stehen, Boo nannten, als wäre ich ein Geist oder ein Schreckgespenst. Einige von ihnen hielten mich sogar für einen Albino, was ich natürlich nicht bin: Echte Albinos haben rosa bis rote Augen, während meine hellblau sind.

»Boo! Wie ironisch«, sagt ihr jetzt vielleicht. »Denn unser Sohn ist ja nun ein Geist.« Aber das wäre falsch beziehungsweise keine echte Ironie. Echte Ironie wäre, hätte Jermaine Tucker gesagt: »Mann, Boo, ich bewundere und respektiere dich dafür, dass du die Elemente des Periodensystems auswendig lernst!« Respekt und Bewunderung sind nämlich das genaue Gegenteil dessen, was Jermaine und übrigens auch die meisten meiner anderen Klassenkameraden mir entgegenbrachten.

Wusstet ihr, dass ich eine Art Paria war? Falls nicht, tut es mir leid, dass ich euch das nie so deutlich gesagt habe, aber ich wollte nicht, dass ihr euch wegen etwas sorgt, das ihr in keinster Weise ändern konntet. Ihr habt euch auch so schon genug Sorgen über das angeborene Loch in meinem Herzen gemacht und mich immer ermahnt, mich bloß nicht zu überanstrengen.

Jermaine verzog sich ins Klassenzimmer, und ich machte unter den Blicken des Evolutionsbiologen Richard Dawkins und der Primatologin Jane Goodall, deren Fotos ich innen an meine Spindtür geheftet hatte, unbeirrt mit meiner Liste weiter. Zum allerersten Mal kam ich bis zur Nr. 106, Seaborgium (Sg), ohne auch nur ein einziges Mal auf die Tabelle zu schielen, die unter den Fotos von Richard und Jane hing.

Anscheinend aber war diese mentale Höchstleistung zu viel für mein löchriges Herz, denn im nächsten Augenblick brach ich tot auf dem Boden zusammen. In Anbetracht meines Spitznamens könnte ich sagen, dass ich den Geist aufgab, aber ich hasse Euphemismen und ziehe es vor, Tatsachen schlicht und einfach nur zu konstatieren. Und Tatsache ist: Mein Herz blieb stehen, und ich starb.

Wieviel Zeit zwischen dem letzten Schlag meines Herzens im Schulflur der Helen-Keller und dem Moment verging, als ich im Jenseits die Augen aufschlug, kann ich nicht sagen. Wer weiß schon, in welcher Zeitzone der Himmel liegt? Aber der Raum, in dem ich lag, entsprach nicht einmal annähernd irgendwelchen himmlischen Klischeebildern. Keine weißgewandeten Engel schwebten huldvoll lächelnd und lieblich singend auf Wolkenbänken. Stattdessen sah ich ein schwarzes Mädchen, das schnarchend in einem Drehsessel mit hoher Rückenlehne saß. Auf dem Boden vor ihr lag ein Buch.

Ich wusste sofort, dass ich tot war, weil ich das Mädchen klar und deutlich sehen konnte, obwohl ich meine Brille nicht aufhatte. Ich konnte sogar den Titel des Buchs lesen (Brown Girl, Brownstones von Paule Marshall). Überhaupt sah ich alles um mich herum absolut klar. Das Mädchen trug Jeans und ein mit Angorakätzchen bedrucktes T-Shirt. An den Enden ihrer zu vielen Zöpfchen geflochtenen Haare baumelten bunte Perlen. Sie erinnerten mich an das Rechenbrett, das ihr mir geschenkt habt, als ich fünf war.

Ich lag mit einem Laken und einer dünnen Baumwolldecke zugedeckt in einem Einzelbett. Abgesehen von dem Drehsessel war das Bett das einzige Möbelstück in dem fensterlosen Zimmer. An der Decke kreiselte ein Ventilator, an den Wänden hingen abstrakte Gemälde – Kringel, Kleckse, Spritzer. Ich setzte mich auf. Meine nackte Brust kam mir sogar noch weißer vor als sonst, und die bläulichen Adern, die meine Schultern mit einem Marmormuster überzogen, zeichneten sich deutlich unter der Haut ab. Ich linste unter die Decke und sah, dass ich weder eine Schlafanzughose noch eine Unterhose anhatte. Nacktheit an sich stört mich nicht, ein Penis ist genauso wenig Grund zu Verlegenheit wie ein Ohr oder eine Nase. Allerdings heißt das noch lange nicht, dass ich beispielsweise den Duschraum der Helen-Keller als angenehmen Aufenthaltsort empfunden hätte. Erstens war dieser Duschraum eine Brutstätte für das humane Papillomavirus, das unter anderem Dornwarzen hervorruft. Außerdem fand Kevin Stein es dort gleich zweimal zum Brüllen komisch, mein Bein anzupinkeln.

»Tschuldigung? Hallo?«, rief ich dem Mädchen im Drehsessel zu, das erschrocken zusammenfuhr und mich mit großen Augen ansah.

»Darf ich davon ausgehen, dass ich tot bin?«, fragte ich.

Sie hievte sich aus dem Sessel, wobei sie ihren Roman unter das Bett kickte, kam eilig zu mir herüber, ergriff meine Hand und drückte sie. Ich riss sie sofort zurück, weil ich mich, wie ihr wisst, nicht gern anfassen lasse.

»Du bist nicht tot, Herzchen«, sagte sie. »Du bist zwar gegangen, aber du lebst noch.«

»Gegangen?«

»Wir hier sagen nicht ›sterben‹, sondern ›gehen‹, als wäre man einfach nur woanders hingegangen«, erklärte sie mit einem Lächeln, das eine Lücke zwischen ihren Schneidezähnen enthüllte, durch die man einen Strohhalm hätte stecken können. Als sie sich auf die Bettkante setzte, sackte die Matratze unter ihrem Gewicht ein, weil sie ziemlich dick war. Irgendwann einmal hatte ich in der Zeitschrift Science einen Artikel über Langlebigkeit gelesen, in dem es hieß, dass schlanke Menschen länger leben, und als Ausgleich für mein löchriges Herz versuchte ich seitdem, mein Leben dadurch zu verlängern, dass ich auf mein Gewicht achtete. Es erübrigt sich zu sagen, dass meine Bemühungen vergeblich waren.

»Vielleicht sollte ich mich erst einmal vorstellen«, sagte das Mädchen. »Ich bin Thelma Rudd und komme ursprünglich aus Wilmington, North Carolina. Meiner Familie gehört das Horseshoe Diner dort.« Dann erkundigte sie sich nach meinem Namen und wollte wissen, wo ich herkäme.

»Oliver Dalrymple aus Hoffman Estates, Illinois«, antwortete ich. »Meine Eltern haben da einen Frisiersalon, er heißt ›Clippers‹.«

»Weißt du, wie es dazu gekommen ist, dass du gegangen bist, Oliver Dalrymple?«

»Ich glaube, der Grund war mein löchriges Herz.«

»Dein was?« Sie sah mich verwirrt an.

»Mein löchriges Herz. Oder anders ausgedrückt: Ich habe ein Loch im Herzen. Ich wurde schon damit geboren.«

»Oh, wie schrecklich.« Sie tätschelte mitfühlend mein Bein.

Dann erklärte sie mir, sie sei Mitglied einer Freiwilligengruppe, die sich »Helfer« nannten. »Ich melde mich immer am liebsten für den Wiedergeburtsdienst hier im Meg-Murry-Hospital«, sagte sie. »Ich mag es, Neugeborene wie dich bei uns willkommen zu heißen.«

Ich fragte, wie lange so eine »Wiedergeburt« dauere.

»Sie ist schneller vorbei, als du blinzeln kannst«, sagte Thelma und blinzelte mehrmals. »Übrigens hat hier im Meg-Murry immer irgendein Helfer Bereitschaft, weil wir nie wissen, wann eine neue Sendung ankommt.«

Sie klopfte auf die Matratze, und ich besah mir das Bett mit der zerknitterten Decke und dem Abdruck meines Kopfes auf dem Kissen. Es sah kein bisschen geheimnisvoll oder magisch aus. »Wir liegen plötzlich einfach hier?«, fragte ich.

Thelma nickte und warf mir einen prüfenden Blick aus so tief liegenden Augen zu, dass ich vermutete, auch sie hatte früher eine Brille getragen. »Weißt du, du bist der gelassenste Neugeborene, dem ich je begegnet bin«, sagte sie. »Du würdest nicht glauben, was ich in meinen neunzehn Jahren hier in der Stadt schon alles an hysterischen Anfällen erlebt habe.«

»Deinen neunzehn Jahren?«, rief ich. »Du siehst genauso alt aus wie ich.«

»Bin ich auch. Wir sind alle dreizehn.«

Dieses spezielle Jenseits – »wir nennen es einfach die Stadt« –, erklärte sie mir, sei ausschließlich Amerikanern vorbehalten, die im Alter von dreizehn Jahren gegangen waren. »Wir glauben übrigens, dass es im Himmel noch viele andere Städte gibt, eine für jedes Alter. Also eine für Leute, die mit sechzehn gehen, eine für die Dreiundzwanzigjährigen, eine für die Vierundvierzigjähren und so weiter und so fort.«

»Dreizehn«, sagte ich verwundert. »Ihr seid alle dreizehn?«

»Und wir werden nicht älter. Wir bleiben unser ganzes Nachleben lang dreizehn. Ich sehe noch genauso aus wie vor neunzehn Jahren, als ich herkam.«

Vielleicht findet ihr das jetzt ein bisschen merkwürdig, liebe Eltern, aber dieses Verharren im Hier und Jetzt machte mich trauriger als die Erkenntnis, dass ich tot war. Ich würde nie erwachsen werden, nie studieren, nie als Wissenschaftler arbeiten. Abgesehen davon hatte ich daheim in Amerika mehr unerfreuliche Erfahrungen mit Dreizehnjährigen gemacht, als mir lieb war, und die Nase gestrichen voll von ihnen und ihrer Dummheit, Gehässigkeit und Unreife.

Thelma bemerkte meine plötzliche Niedergeschlagenheit. »Aber wir werden klüger, je länger wir hier sind«, versuchte sie, mich zu trösten. »Na ja, zumindest einige von uns.«

»Die Nachwelt dem Alter entsprechend einzuteilen ist schon logisch«, antwortete ich, um kein Spielverderber zu sein. »Denn wenn alle Toten an ein und demselben Ort untergebracht wären, wäre es hier schrecklich überbevölkert.«

Dann fragte ich: »Bleiben wir eigentlich bis in alle Ewigkeit hier?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, nur fünfzig Jahre. Wenn die fünfzig Jahre um sind, schlafen wir eines Abends ein und wachen nicht wieder auf. Wir verschwinden über Nacht. Das einzige, was von uns zurückbleibt, sind unsere Pyjamas.«

»Oh«, machte ich. »Und wo kommen wir dann hin?«

»Manche meinen, wir erreichen eine höhere Himmelsebene. Eine mit besserem Essen, besseren sanitären Anlagen und sonnigerem Wetter«, antwortete Thelma. »Andere glauben, dass wir in Amerika wiedergeboren werden. Aber wir wissen es nicht wirklich.«

Sie stand auf, öffnete die Tür eines begehbaren Schranks, kam mit einer Jeans, mehreren T-Shirts, Boxershorts und Socken zurück und legte sie aufs Bett.

»Welche Schuhgröße hast du?«

»Achtunddreißig.«

Sie verschwand noch einmal im Schrank, um Schuhe für mich zu suchen.

»Hättest du vielleicht Collegeschuhe?«, fragte ich, weil du, liebe Mutter, mir immer Collegeschuhe gekauft hast.

»Lederschuhe kannst du vergessen«, rief Thelma. »Leder wird schließlich aus toten Tieren gemacht, und im Himmel gibt es überhaupt nichts Totes.«

Während sie im Schrank herumkramte, stieg ich in die Boxershorts und in die Jeans, die mit roten, weißen und blauen Flicken besetzt war, wahrscheinlich ein Überbleibsel der Zweihundertjahrfeier vor drei Jahren. »Und es kommen nur Amerikaner her?«, fragte ich.

»Yep. Keine Ausländer. Nur Kids, die in den Vereinigten Staaten gelebt haben.«

Ich dachte an die absurden Science-Fiction-Filme, in denen die Bewohner ferner Planeten immer fließendes amerikanisches Englisch sprachen, nie Schwedisch oder Suaheli.

»Und was ist mit den unterschiedlichen Religionen?«, fragte ich, während ich ein gebatiktes T-Shirt aus den rund Dutzend auf dem Bett herausfischte und anzog.

»Keine Trennung nach Religionen. Es gibt bei uns absolut alles. Baptisten, Katholiken, Mormonen, Juden, Zeugen Jehovas. Was immer dir einfällt, Herzchen, wir haben es.«

Sie kam mit einem schäbigen Paar Turnschuhe zum Vorschein, auf deren Kappen jemand mit Tinte die Buchstaben L und R gekritzelt hatte, und hielt sie mir hin. »Was bist du?«

»Atheist.«

Sie lachte laut auf. »Ich bin auch nicht immer so ganz von der Existenz eines höheren Wesens überzeugt«, grinste sie.

Ich setzte mich aufs Bett und zog die Turnschuhe an. Thelma ließ sich neben mich fallen und zupfte ein paar Flusen von meinem T-Shirt.

»Im Ernst, ich bin zwar nicht religiös, aber doch irgendwie spirituell«, ergänzte sie. »Bist du spirituell, Oliver?«

»Ich hatte in meinem ganzen Leben noch keinen einzigen spirituellen Tag.«

Sie schenkte mir ihr Zahnlückenlächeln. »Tja, dein ganzes amerikanisches Leben ist vorbei, Herzchen«, sagte sie. »Aber dein Nachleben fängt gerade erst an. Vielleicht findest du ja hier ein bisschen Spiritualität.«

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Was meinen die Leute eigentlich mit Spiritualität? Meinen sie, dass sie tief in ihrem Inneren um die Existenz einer höheren Macht wissen, die ihr Leben lenkt und leitet und die Welt um sie herum steuert? Oder meinen sie einfach nur, dass Schönheit sie mit Staunen und Ehrfurcht erfüllt? Die Schönheit eines Cellokonzerts in e-Moll zum Beispiel (eines deiner Lieblingsstücke, Mutter) oder die der übereinander geschichteten Lagen aus Schluffstein, Ton und Schiefer, aus denen die Painted Desert, deine Lieblinglingswüste, Vater, besteht.

Erinnert ihr euch noch an die Aurora Borealis, die wir auf dem Kreuzfahrtschiff nach Alaska sahen, und wie ergriffen wir waren, als Gaspartikel aus unserer Atmosphäre mit aufgeladenen Sonnenpartikeln zusammenstießen und Bögen aus geisterhaft grünem und rosa Licht schufen, die den sternengesprenkelten Hintergrund des nächtlichen Himmels überspannten? Doch nicht einen Moment empfanden wir die Art von Spiritualität, die einen denken lässt, dass ein Gott (beispielsweise ein pausbäckiger Zeus mit lockigen Haaren) mit einem Sortiment farbiger Taschenlampen hinter einer Wolke sitzt und den Himmel damit ausleuchtet.

Religiöse Menschen denken nie an himmlische Toiletten oder himmlische Zahnpasten, malen sich aber oft Landschaften aus. Sie stellen sich dahinplätschernde Bächlein vor, schneebedeckte Bergspitzen, rauschende Wasserfälle und sattgrüne Wälder. Sie stellen sich Orte vor, wo die Schönheit der Natur sie geradezu überwältigt.

Vergesst die Bächlein, die Berge, die Wasserfälle und die Wälder. Wenn ihr wissen wollt, wie es hier bei uns aussieht, stellt euch eine riesige Sozialsiedlung vor. Die dreistöckigen Backsteinbauten, in denen wir untergebracht sind, erinnern an niedrige Miethäuser. Alle anderen Gebäude – die Schulen, Bibliotheken, Cafeterias, Gemeindezentren, Lagerhäuser – sind hässliche, aber solide Gebilde, ähnlich den öffentlichen Gebäuden daheim in Illinois, allerdings mit einem großen Unterschied.

Unsere Gebäude können sich selbst reparieren.

Mit der Zeit schließen sich Risse in Wänden, schiefe Treppenstufen werden wieder gerade, lose Bodenbretter sind irgendwann wieder fest. Wenn jemand versehentlich einen Ball durch eine Fensterscheibe schießt, wächst die Scheibe im Lauf der Wochen wieder zusammen. Gelegentlich schlägt ein gelangweilter Stadt-Bewohner das Fenster seines Zimmers absichtlich ein, nur um zu sehen, wie das Glas langsam wieder nachwächst.

Drei Wochen nach meiner Ankunft zerbrach auch ich absichtlich eine Fensterscheibe, aber nicht aus Langeweile, sondern um ein Experiment durchzuführen. Da ich keinen Außenlärm in meinem Zimmer haben wollte, weil ich nicht sehr fest schlafe, schlug ich mit einem Hammer das Fenster eines Schuppens oben auf dem Dach meines Wohnheims ein, dem Frank-and-Joe-Hardy-Wohnheim, das natürlich nach den berühmten Hardy Boys benannt ist. Morgens gehe ich immer als Erstes aufs Dach, um den Sonnenaufgang zu betrachten und zu kontrollieren, wie schnell sich das Glas im Fensterrahmen schließt. Mit einem Lineal messe ich das Tageswachstum, um zu sehen, ob es konstant ist. Bislang nicht: an manchen Tagen wächst das Glas zwei Zentimeter, an anderen fünf oder mehr. Alles sehr rätselhaft.

Mit einem Taschenmesser habe ich mir diese Woche einen Schnitt am linken Unterarm zugefügt. Keine Sorge, liebe Eltern. Es war nur ein Experiment, um herauszufinden, wie viele Tage es dauert, bis die Wunde gänzlich verheilt und nichts mehr davon zu sehen ist. Anscheinend verlaufen Heilungsprozesse in unserem Himmel schneller als normal. Außerdem sind wir immun gegen ernsthafte Erkrankungen, sodass Kinder, die beispielsweise an Leukämie starben, keine Angst zu haben brauchen, erneut leiden zu müssen. Auch Blindheit und Taubheit existieren nicht. Könnt ihr euch vorstellen, wie verblüfft und verwirrt eine Helen Keller wäre, würde sie in einer Welt aufwachen, in der sie sowohl sehen als auch hören kann?

Ob die Stadt mich beeindruckt? Ja, oft tut sie das. Aber in dem einen Monat meines Hierseins habe ich kaum jemanden kennengelernt, der mein Staunen über so banale Dinge wie Toiletten, Lichtschalter und Müllschlucker teilt. Wenn man die Toilettenspülung betätigt, wohin verschwindet dann der Urin? Wenn man die Schreibtischlampe anknipst, wo kommt der Strom dafür her? Wenn man eine leere Ananasdose in den Müllschlucker wirft, wie tief fällt sie dann?

Einige Stadt-Bewohner behaupten, dass unser Müll bis ganz nach Amerika hinunterplumpst. Sie glauben, dass die Müllschlucker eine Art Portal zurück nach Hause sind und es vielleicht auch noch andere Tunnel gibt, die nach Amerika führen. Ich selbst brauche unumstößliche Beweise, ehe ich an so etwas glauben kann. Deshalb habe ich, um die Tiefe der Schlucker zu testen, neulich einen Strandeimer an einer Schnur hinuntergelassen. Obwohl ich auf allen drei Stockwerken des Frank-and-Joe Zettel mit der Bitte um Rücksicht auf mein Experiment aufgehängt hatte, kümmerten sich meine Mitbewohner nicht darum und warfen ihre Mülltüten trotzdem in den Schlucker, mit dem Ergebnis, dass mein Eimer sich losriss und mein Experiment ruiniert war. Aber das ist nicht weiter schlimm. Ich werde es irgendwann noch einmal versuchen.

Als Fortbewegungsmittel dienen uns Zehngangräder. Oft ist die Farbe abgeblättert und die Ketten springen gerne einmal ab, aber sie erfüllen ihren Zweck und bringen einen von A nach B (das Fahren auf den Bürgersteigen ist übrigens verboten). Die Fahrräder gehören allen gemeinsam; anders ausgedrückt dürfen wir uns nicht als Besitzer eines bestimmten Fahrrads betrachten, das uns vielleicht besonders gut gefällt. Gestern ließ ich mir im Fahrraddepot ein Rad aushändigen und fuhr damit zur Guy-Montag-Bibliothek, um den Nachmittag damit zu verbringen, den Bestand durchzusehen. Wie angewiesen knotete ich ein rotes Band an den Lenker, um zu signalisieren, dass das Rad in Gebrauch ist, aber als ich aus der Bibliothek kam, war es trotzdem weg. Sollte man nicht annehmen, dass gerade Engel sich an Regeln halten und die Finger von Sachen lassen, die ihnen nicht gehören? Aber leider haben die Bewohner der Stadt dieselben Schwächen wie die von Hoffman Estates.

Eine weitere Enttäuschung: Unsere Bibliotheken enthalten ausschließlich erzählende Literatur. Was gäbe ich nicht alles für ein Buch über Entomologie oder Astronomie! Aber nein, ich muss mich mit Krimis, Comics, literarischen Klassikern (es gibt unzählige Exemplare von Herr der Fliegen, um nur ein Beispiel zu nennen) und Ratgebern für Heranwachsende begnügen, in denen es um Teenager-Schwangerschaften oder Drogensucht geht. Zugegeben, es gibt in der Stadt keine Insekten, daher hätte ein Buch über Entomologie keinen wirklichen Nutzen, aber andererseits gibt es auch keine Teenager-Schwangerschaften (die einzige hiesige Form der Geburt ist die Wiedergeburt) oder Drogenabhängige (es gibt nicht einmal Marihuana, aber ein Junge in meinem Wohnheim behauptet, dass man auch vom Rauchen von Kamillenteeblättern »high« werden kann).

Überhaupt fehlt es in der Stadt an vielen Dingen, die Amerikaner für selbstverständlich halten, als da wären: Telefone, Fernseher, Zeitungen, Hochhäuser, Autos, Ampeln, Supermärkte, Briefkästen und und und …

Dafür haben wir etwas, was amerikanische Städte normalerweise nicht haben – gigantische Betonmauern. Vier riesige, geschätzte 25 Stock hohe Mauern, Nord-, Süd-, Ost- und Westmauer genannt, umschließen unser Zuhause. Gelegentlich brechen tellergroße Betonbrocken davon ab und zerschellen auf dem Boden. Unten weisen die Mauern zahllose, von künstlerisch veranlagten Kids angefertigte Wandmalereien auf, und manchmal versammeln sich ganze Gruppen von Städtern am Fuß einer Mauer und rufen, schreien oder singen, in der Hoffnung, dass jemand auf der anderen Seite ihnen antwortet. Bis jetzt ist noch nie eine Antwort gekommen.

Unsere Glückszahl ist die dreizehn (wegen unseres Alters). Dementsprechend ist die Stadt in dreizehn Zonen unterteilt, die eine Art Flickenteppich ergeben: Eins, Zwei, Drei, Vier, Fünf etc. (Das Frank-and-Joe liegt übrigens in der Elf, in der Nähe der Nordmauer.) Manche Bewohner glauben, die Stadt sei nichts anderes als ein riesiges Terrarium und wir alle seien im Grunde genommen nur Labormäuse. Sie fragen sich, ob in einem Terrarium weiter südlich dreizehnjährige Mexikaner leben, und in einem weiter nördlich dreizehnjährige Kanadier. Unseren Gott stellen sie sich als Wissenschaftler vor, der in einem von Engeln bevölkerten Labor von gigantischen Ausmaßen endlose Experimente durchführt.

Wie sehr ich mir wünschte, unser Gott wäre tatsächlich Wissenschaftler wie Richard Dawkins oder Jane Goodall. (Wie ich schon oft gesagt habe, seid ihr beide, liebe Eltern, Richard und Jane wie aus dem Gesicht geschnitten, obwohl Mutter immer behauptet, dass sie eher aussieht wie eine blonde Version von Popeyes Freundin Olivia.)

Jedenfalls ist unser Gott meiner Meinung nach absolut kein Wissenschaftler, sondern ein exzentrischer Hippie mit künstlerischer Ader. Wir nennen ihn Zig, weil das hip und groovy klingt (von jetzt an, liebe Eltern, werde ich jedes Mal, wenn von Gott als dem Lenker unseres Himmels die Rede ist, stattdessen »Zig« schreiben). Ich stelle mir Zig hager, langhaarig und bärtig vor, ähnlich wie Jesus oft dargestellt wird, bloß trägt Zig keine langen Gewänder, sondern verwaschene Jeans und mit Gänseblümchen oder Yin-Yang-Symbolen oder ähnlichem bedruckte T-Shirts. Seine Füße stecken in Flip-Flops, die in der Stadt sehr beliebt sind, und in meiner Vorstellung raucht er Marihuana (statt Kamillenteeblätter), brennt Räucherstäbchen ab und trägt Stimmungsringe an mehreren Fingern. Meiner Meinung nach kann er kein richtiger Vollgott sein, weil Götter gemeinhin als unfehlbar gelten, während unser Zig ständig irgendwas vermurkst. So zum Beispiel sind die Toiletten hier andauernd bis zum Überlaufen verstopft, sodass die Städter sagen: »Zig weiß einen Sch**ß über Sch**ßhäuser.« (Da ihr unflätige Ausdrücke nicht gutheißt, liebe Eltern, setze ich an den entsprechenden Stellen Sternchen ein, um euch nicht zu sehr zu schockieren.)

Zig schickt uns keine Chemiekästen, Astronomiebücher, Winkelmesser oder Periodensysteme, sondern Plakafarben, Pastell- und Malkreiden und Bunt- und Filzstifte, alle in sämtlichen Farbschattierungen. Wir bekommen sogar Kanister mit Sprühfarben (was die Graffiti überall erklärt).

Vater unser, der du malst im Himmel (haha).

Außerdem schickt er uns Musikinstrumente – Ukulelen, akustische Gitarren, Posaunen, Geigen, Tamburine und Mundharmonikas. Viele der Kids hier sind ziemlich musikalisch, und ich würde gern bei ihnen mitmachen. Dagegen spricht nur, dass ich total unmusikalisch bin, keinen Ton halten kann und keinerlei Gefühl für Rhythmus habe. Was rede ich denn da? Ich würde natürlich nicht einmal dann bei so etwas mitmachen, wenn ich die Musik im Blut und den satten Bariton eines Opernsängers hätte.

Zig schickt uns auch Sportsachen – Fuß- und Basketbälle, Baseball-, Hockey- und Federballschläger. Ich muss zugeben, dass dieses ganze Zeug mir unheimlich ist. In der Helen-Keller wurde ich beim Sport regelmäßig gedemütigt. Beim Völkerball war ich immer derjenige, der am brutalsten abgeschossen wurde, weshalb ich nie viel für Mannschaftssport übrig hatte.

Überhaupt lautete meine Strategie daheim in Amerika: Distanz halten. Es ist eine Strategie, die ich, so Zig will, auch hier beibehalten werde.

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In unserem Himmel gibt es keine Kirchen, sondern nur sogenannte »Häuser des Guten«. In meiner fünften Woche in der Stadt schleppt mich Helferin Thelma Rudd zu einer Punschparty in ein solches Haus des Guten, das Jonathan-Livingston. Punschparty klingt für euch vielleicht nach Ausschweifung, aber in unserem Fruchtpunsch gibt es keinen Alkohol. Übrigens hält Thelma im Gegensatz zu mir nicht viel von Distanz und sagt, ich als Neugeborener müsse unter die Leute gehen und Freundschaften schließen, vor allem, da ich noch keinen Zimmergenossen hätte.

»Aber daheim in Hoffman Estates hatte ich auch keine Freunde«, versichere ich ihr. »Und ich habe nie darunter gelitten.«

Sie zieht eine Augenbraue hoch und sagt: »Baby, Baby, du sollst Thelma doch nicht anlügen.«

Also denke ich an meine freundlosen Tage an der Helen-Keller zurück. In Bio hatte ich nie einen Partner, mit dem ich gemeinsam Frösche sezieren konnte. Niemand wollte mit mir zusammenarbeiten, obwohl er oder sie dann garantiert eine 1+ eingeheimst hätte. Bevor ich auf Distanz umschaltete, versuchte ich gelegentlich, insbesondere in der siebten Klasse, Unterhaltungen mit meinen Mitschülern anzufangen. Ich übte sie vor meinem Schlafzimmerspiegel ein, weil ich in der Vergangenheit gelegentlich Dinge gesagt hatte, die andere kränkten oder irritierten. Zu meinem Spiegel sagte ich: »Hallo, Cynthia Orwell. Wie war das heutige Cheerleader-Training? Hast du den Spagat zu deiner Zufriedenheit hinbekommen?« Als ich dasselbe zur realen Cynthia Orwell sagte, rümpfte sie die Nase, als ginge von mir ein unangenehmer Geruch aus, und sagte: »Boo, du Schizo, tu mir einen Gefallen und verp*ss dich, okay?« Daran erkannte ich, dass ich die Kunst des Small Talk nicht wirklich beherrsche. Vielleicht, weil ich im Grunde genommen nicht weiß, was das Ganze eigentlich soll.

Jetzt versuche ich, mir etwas einfallen zu lassen, was ich zu Thelma sagen könnte, während wir den Bürgersteig entlanggehen und Fahrräder auf der Straße an uns vorbeiflitzen. Das Wetter ist immer ein unverfängliches Thema. Ich sehe zum grauen Himmel mit seinen dünnen, zarten Zirruswolken auf. Bis jetzt war jeder Tag hier warm, meiner Schätzung nach so um die 25 bis 30 Grad, nachts vier bis sechs Grad kälter. Ich wäre froh, ich hätte ein Thermometer, aber Thermometer sind auch etwas, ohne das wir hier auskommen müssen, vielleicht weil es keine Extreme zu messen gibt. Das Wetter hier ist immer frühsommerlich.

Leider sind an unserem Himmel keine Vögel zu sehen. In der ganzen Stadt gibt es weder Vögel noch sonstige Tiere (es gibt nicht einmal Insekten), ausgenommen ein sehr gelegentliches Exemplar, das irgendwie zu uns durchgerutscht ist. Vielleicht ist Zig der Meinung, dass wir Amerikaner bei uns zu Hause genug Kreaturen gequält haben.

Thelma und ich biegen in die John-Clayton-Street ein. Alle Straßennamen werden mit Kopiertinte auf in Zellophan gehüllte Pappschilder geschrieben und so wie in manchen europäischen Ländern an die Häuserwände geklebt oder genagelt. Gebäude, Straßen und Parks tragen allesamt die Namen von Charakteren aus Büchern. Gelegentlich stimmen Anwohner darüber ab, einen Namen zu ändern oder zu aktualisieren. »Übrigens, Oliver«, sagt Thelma, »glaube ich, dass du einen prima Helfer abgeben würdest.«

»Hast du Kamillenteeblätter geraucht? Ich kann doch überhaupt nicht mit anderen umgehen«, antworte ich und bücke mich nach einem Stein, der auf dem Bürgerstein liegt. »Mit Steinen komme ich viel besser zurecht. Dieser kleine Bursche zum Beispiel hat Einlagerungen von Eisenoxid.«

Ungeachtet der Tatsache, dass das Fahrradfahren auf den Bürgersteigen verboten ist, flitzt ein Junge auf einem Rad mit einem brandneuen Bananensattel so dicht an uns vorbei, dass der Lenker Thelma streift. »Kannst du nicht aufpassen, Fettarsch?«, schreit der Junge Thelma an.

Die schnappt sich den eisenoxidierten Stein von meiner Handfläche und macht Anstalten, ihn dem Fahrradfahrer hinterherzuschmeißen, reißt sich aber im letzten Augenblick zusammen, schließt die Augen und murmelt: »Zig, gib mir Kraft.«

Thelma Rudd wohnt auch im Frank-and-Joe, aber einen Stock unter mir, in der zweiten Etage. Der Helferrat hat sie zu meiner Tutorin bestimmt, was heißt, dass sie die Aufgabe hat, sich um mich zu kümmern. Und so schaut sie oft bei mir vorbei, um mich zu fragen, ob ich zurechtkomme. Ich sage immer, dass alles in Ordnung ist (tatsächlich sage ich, dass alles »paletti« ist, weil ihr, liebe Eltern, diesen altmodischen Ausdruck immer benutzt, und jedesmal, wenn ich ihn verwende, stelle ich mir eure Gesichter vor). Thelma beäugt mich oft mit einer Mischung aus Besorgnis und Verwirrung. Anscheinend denkt sie, dass ich ihr etwas verheimliche, denn als ich das letzte Mal »alles paletti« sagte, antwortete sie: »Sag Mama die Wahrheit.«

Einige der älteren Mädchen – mit »älter« meine ich die dreizehnjährigen Mädchen, die seit zwanzig Jahren oder länger hier sind – nennen sich selbst Mama und verhalten sich Neugeborenen gegenüber mütterlich. Sie nähen Flicken auf ihre Hosen, bringen ihnen Vollkornkekse zum Frühstück, um ihre Verdauung anzuregen, und nennen sie Schätzchen, Herzchen, Baby oder Kleiner.

Seit ich Thelma erzählt habe, dass du, Mutter, gerne Jazzklassiker hörst, singt sie mir vor dem Schlafengehen Klassiker der amerikanischen Unterhaltungsmusik vor. Ich bin zwar über das Schlafliedalter hinaus, aber in Thelmas Augen bin ich noch ein Neugeborener. Gestern Abend entschied sie sich für Cole Porters »Begin the Beguine«.

In der Merricat-Blackwood-Street bleibt Thelma vor einem Lagerhaus stehen, in dem Dutzende von Städtern scheppernde Einkaufswagen voller Konservendosen mit grünen Bohnen, Mais, Birnen und Kichererbsen durch die Gegend schieben.

»Anscheinend ist gerade eine neue Lieferung angekommen«, sagt Thelma.

Ich frage sie, ob wir einen Moment reingehen können, weil ich noch nie in so einem Lebensmittel-Lagerhaus war. Es ist ungefähr so groß wie die Turnhalle der Helen-Keller, aber anstelle der gestuften Sitzreihen ringsum gibt es hier Lagerregale aus Metall, die so hoch sind, dass man Leitern braucht, um die oberen Borde zu erreichen. Die Regale sind so etwas wie Wiedergeburtsbetten für Konservendosen, Frühstücksflockenschachteln, Reistüten, Nudeln, Kartoffeln, Möhren, Äpfel und all die anderen simplen Sachen, die es bei uns gibt. Alles ist vegetarisch, weil Fleisch, wie Thelma sagen würde, Tod bedeutet, und in der Stadt kann es nichts wirklich Totes geben.

»Erscheinen die Lebensmittel wie aus heiterem Himmel?«, frage ich Thelma. »Wie die Neugeborenen?«

»Yep. Aber erst, wenn wir die letzte Lieferung restlos aufgebraucht haben.«

Wir verlassen das Lagerhaus und gehen weiter zum Jonathan-Livingston-Haus-des-Guten. Es erweist sich als eine Art Gemeindezentrum mit Möbeln, die aus einem Ramschverkauf zu stammen scheinen. Der winzige Kühlschrank und der ebenso winzige Herd in der Miniküche sind eingedellt. Die Holzstühle, die überall im Raum herumstehen, passen nicht zueinander und sind völlig zerschrammt und zerkratzt. Als Couchtisch dient ein ramponierter Schiffskoffer mit herunterbaumelnden Kunstledergriffen. Auf der schäbigen karierten Couch, auf der Thelma und ich Platz nehmen, verbergen Decken die Stellen, aus denen die Füllung quillt. Über der Couch hängt eine Kuckucksuhr ohne Zeiger. Alle paar Minuten klappt ein kleiner Fensterladen auf und eine leere Plattform fährt heraus und verschwindet dann wieder im Inneren.

Die meisten Anwesenden im Haus des Guten tragen die gleiche violette Armbinde, die auch Thelma um ihren linken Oberarm geschlungen hat. Sie ist das Symbol der Helfer. Abgesehen davon laufen die Helfer herum wie alle anderen auch, in Jeans und T-Shirt.

Genau wie die Jungen im Frank-and-Joe haben auch die hier Versammelten völlig verschnittene Haare, da es in der Stadt keine Friseure gibt. Also schneiden sie sich gegenseitig die Haare, was dazu führt, dass manche hier und da kahle Stellen haben. Ihr als Friseure, liebe Eltern, wärt entsetzt. Immerhin wachsen Haare im Himmel schneller nach, so wie auch Wunden und sonstige Verletzungen schneller heilen.

Die Frisuren der Mädchen sind weniger verhunzt, weil die meisten ihre Haare einfach wachsen lassen. Das Mädchen, das sich jetzt zu Thelma und mir setzt, hat dichte, lange, goldblonde Locken wie aus einer amerikanischen Shampoo-Werbung. Thelma stellt sie mir als Esther Haglund vor. Aber Esther Haglund käme nie für eine Shampoo-Werbung infrage, weil sie nämlich ein Zwerg ist, allerdings ein ziemlich großer (sie ist vielleicht vierzig Zentimeter kleiner als ich), mit dem vergrößerten Schädel und der vorgewölbten Stirn, die für Zwerge typisch sind.

»Esther ist noch in der Ausbildung zur Helferin«, erklärt Thelma. »Deshalb ist ihre Armbinde hellviolett.«

»Sie ist lila«, sagt Esther und berührt die Binde um ihren linken Oberarm. »Ich habe sie selbst gestrickt.«

Thelma deutet auf Esthers Faltenrock. »Esther macht all ihre Kleider selbst.«

Ich starre sie einfach nur an. Sie ist der erste Zwerg, den ich persönlich kennenlerne.

»Wie gefällt es dir bis jetzt, Helferin in Ausbildung zu sein?«, erkundigt sich Thelma bei Esther.

»Ich will mich ja nicht beklagen, Thelma«, legt Esther los, »aber ich schwöre bei Zig, dass die anderen in meinem Wohnheim manchmal richtige Schweine sind. Ich mache ihnen was zu essen, organisiere ihre Stundenpläne, biete ihnen eine Schulter, an der sie sich ausweinen können, und stopfe sogar ihre blöden Socken, und was machen sie? Sie verwandeln die Küche in einen zigverdammten Saustall und erwarten, dass ich hinter ihnen herräume. Einer hat doch glatt zu mir gesagt: ›Ihr Helfer lebt doch für so ’ne Sch**ße.‹

Thelma schüttelt den Kopf.

Esther merkt, dass ich sie anstarre. »Hast du vielleicht eine Frage, Oliver?«, will sie wissen.

»Ja, Esther, habe ich. Ich wüsste gern, unter welcher Form von Zwergentum du leidest.«

»Leidest?« Esthers Augen quellen bedrohlich vor. »Was, zum Teufel, meinst du denn damit?«

»Nur, dass ich mich im Augenblick nicht an die verschiedenen Arten von Zwergentum erinneren kann, die – «

Thelma unterbricht mich. »Er ist ein Neuling, Esther.«

»Ist mir piepegal, ob er ein Neuling oder ein Oldie ist. Seine Frage ist schlichtweg unverschämt.« An mich gewandt setzt sie hinzu. »Es heißt nicht ›Zwerg‹, sondern ›kleinwüchsig‹. Hast du das kapiert?«

Ich nicke.

Esther schnappt sich ihr Glas vom Beistelltisch und verschwindet mit ihrem o-beinigen Gang in der Menge der Helfer.

»Sieht so aus, als hätte ich gerade eine neue Freundin gefunden«, sage ich zu Thelma. (Bitte beachtet, liebe Eltern, dass es sich bei dieser Bemerkung um echte Ironie handelt.)

Thelma tätschelt mein Bein. »Mach dir nichts draus.«

»Ich wüsste trotzdem gern, wieso Zig nichts für Zwerge tut«, sage ich. »Schließlich kann er auch Krebs und Blindheit heilen.«

»Kleinwüchsig zu sein ist keine Krankheit, Oliver. Es gibt nichts zu heilen.«

Ich denke darüber nach und frage dann: »Und was ist mit Kindern mit Downsyndrom?«

»Also, manche hier sagen, dass zurückgebliebene Kinder ein bisschen schlauer hier ankommen, um ihnen das Nachleben zu erleichtern.«

»Zig passt ihren IQ nach oben an?«

»Glauben manche. Aber keiner weiß, ob es stimmt.«

Mir kommt ein beängstigender Gedanke: Vielleicht hat Zig meinen IQ nach unten angepasst. Vielleicht war mein IQ daheim in Hoffman Estates zu hoch. Vielleicht hat dieser IQ verhindert, dass ich normal mit Gleichaltrigen interagieren konnte. Mr Miller, mein alter Englischlehrer, sagte einmal: »Oliver, hyperintelligent zu sein ist ein Handicap.« Damals dachte ich, er sei verärgert, weil ich ihn vor der ganzen Klasse verbessert hatte. Er hatte mich so wütend angesehen, dass ich schon dachte, er würde mir den Zeigestock überziehen.

Ich weiß nicht genau, wie hoch mein Intelligenzquotient war, liebe Eltern, weil ihr mich nicht testen lassen wolltet. Ihr wolltet auch nicht, dass ich Klassen übersprang. »Du fällst auch so schon genug auf«, hast du, Vater, argumentiert. Im Nachhinein halte ich eure Entscheidung für wohlüberlegt, denn wenn ich nie Zeit mit Kindern meines eigenen Alters verbracht hätte, wäre ich hier erst recht völlig aufgeschmissen.

Jemand anderes im Haus des Guten zieht meine Aufmerksamkeit auf sich. Es ist ein Junge, der an einem Tisch lehnt, auf dem ein paar Kleinigkeiten zu essen bereitstehen, und ein Stück Möhre mümmelt. Er ist schwarz und hat eine Afrofrisur, vor allem aber hat er helle Flecken an den Armen und im Gesicht, unter anderem einen sternförmigen Fleck mitten auf der Stirn.

Ich weise Thelma auf den Jungen hin.

»Das ist Reginald Washington«, sagt sie, »der Präsident unseres Helferrats.«

»Er hat die Weißfleckenkrankheit«, sage ich. »Sie zerstört die Pigmentzellen der Haut.«

»Er ist so hier angekommen, aber die Flecken haben sich nicht weiter ausgebreitet, seit er hier ist. Er sagt, das ist Zigs Werk. Unter anderem ist er Helfer geworden, weil er Zig dafür danken will.«

Reginald Washington klatscht Aufmerksamkeit heischend in die Hände. Er steht an einem Pult in der Nähe des Tischs mit dem Essen. »Darf ich um eure Aufmerksamkeit bitten, Freunde.«

Dann spricht er über das Helfersein und darüber, wie wichtig es ist, anderen zur Seite zu stehen, statt sich nur mit sich selbst zu beschäftigen und nur um sich selbst zu kreisen. In der Hand hält er ein kleines Megafon, das er benutzt, um einige seiner Aussagen zu verstärken, sodass sie klingen, als kämen sie von Zig. »Seid nett zu anderen, dann sind sie auch nett zu euch!«, donnert er, während die Helfer zustimmend nicken – alle, bis auf Esther, die die Augen verdreht.

Diese Behauptung ist reiner Unsinn, liebe Eltern. Ich will euch ein Beispiel nennen. Einmal war ich so nett, Oscar Stanley und Larry Schultz meine Geometrie-Hausaufgaben abschreiben zu lassen. Und? Waren sie deswegen auch nett zu mir? Absolut nicht! Gleich am nächsten Tag stellten sie mir auf der Außentreppe der Helen-Keller ein Bein, und ich verknackste mir den Knöchel.

Ich höre Reginald nicht mehr zu, sondern ziehe es vor, um mich selbst zu kreisen. Wieder frage ich mich, ob meine geistigen Fähigkeiten im Nachleben nachgelassen haben, und rege mich derart über diese Möglichkeit auf, dass ich richtiggehend anfange, um meine verlorenen Intelligenzpunkte zu trauern. Schließlich entschuldige ich mich und gehe in den Jungswaschraum, wo ich mich auf eine Toilette setze und mir die Elemente des Periodensystems aufsage, bis es mir wieder besser geht.

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Gleich zu Anfang, liebe Eltern, möchte ich euch darauf hinweisen, dass es sich bei der nächsten Szene um einen Traum handelt. Ich mag es nicht, wenn Träume, und sei es auch nur für einen kurzen Moment, als Realität ausgegeben werden. Derartige Tricksereien liegen mir nicht, und ich würde euch nie wissentlich täuschen.

Hier also der Traum, den ich in der Nacht der Punschparty träumte: Ich liege im Mittelkreis des leeren Basketballfelds der Helen-Keller. An der einen Wand hängt ein Transparent mit der Aufschrift: »Los, Trojaner, los!« Der Junge, der ich in meinem Traum bin, denkt, er sei in Amerika wiedergeboren worden, weil die Brille auf seiner Nase sitzt und er wieder splitterfasernackt ist. Er steht auf und geht zur Tür der Turnhalle, als sich der Raum binnen eines Augenblicks mit allen möglichen gebrauchten Gegenständen füllt – Sofas, Herden, Fahrrädern, Kisten voller Bücher, Matratzen. So viele Gegenstände stapeln sich um ihn herum, dass er darüber klettern muss, um die Tür zu erreichen. Während er über Kisten hinwegsteigt, die alle denselben Krimi enthalten (Zehn kleine Negerlein von Agatha Christie), hört er ein lautes Klopfen an der Tür. Obwohl er Atheist ist, hat er das Gefühl, dass das Klopfen von einer höheren Macht kommt. Er stößt sich den Zeh an und knickt um, als er über das Gerümpel klettert, aber schließlich erreicht er den Ausgang und drückt die Tür auf. Ein blendendes Licht empfängt ihn, und er sagt zu dem Licht: »Hallo? Bist du das, Zig? Ich bin’s, Oliver.«

Und eine Stimme antwortet: »Hallo, Oliver.« Damit endet mein Traum. Ich wache auf und merke, dass jemand an meine Zimmertür klopft.

»Oliver? Ich bin’s, Thelma.«

»Einen Moment«, murmele ich verschlafen. Nach der Punschparty sagte Thelma, sie müsse zur Nachtschicht im Wiedergeburtsraum des Meg-Murry. Wieso ist sie dann schon wieder hier im Frank-and-Joe?

Ich steige aus dem Bett. Mondlicht fällt durch die offenen Vorhänge. Bei uns ist immer Vollmond, auch so ein Rätsel. Ich knipse die Nachttischlampe an und blinzele in die plötzliche Helligkeit. Die Uhr auf meinem Schreibtisch zeigt Viertel vor drei.

In meinem viel zu großen Schlafanzug schlurfe ich zur Tür. Als ich sie öffne, denke ich einen Moment, ich bin immer noch in meinem Traum von der Helen-Keller, denn neben Thelma Rudd steht ein Junge aus dem Basketballteam der Schule im schwach beleuchteten Flur. Auch ohne Schuluniform erkenne ich ihn sofort.

»Zig hat uns eine späte Sendung geschickt«, sagt Thelma, aber ich beachte sie nicht. Ungläubig starre ich den Jungen an.

»Johnny Henzel?«, frage ich.

Der Junge nickt. Er fixiert mich genauso verblüfft wie ich ihn. Er ist dünner als in Hoffman Estates, und seine extrem kurz geschorenen Haare lassen Ohren frei, von denen eins größer ist als das andere. Seine Wimpern sind so dunkel, dass man denken könnte, sie sind getuscht.

»Hattest du auch ein löchriges Herz?«, frage ich.

»Was?«, fragt Johnny Henzel zurück.

»Bist du hier, weil du auch ein Loch im Herzen hattest?«, formuliere ich meine Frage um. Ich müsste natürlich wissen, dass die Chance zweier Todesfälle aus demselben Grund an derselben Schule innerhalb desselben Schuljahrs unendlich gering ist, aber ich schlafe noch halb.

»Wollen wir nicht reingehen?«, schlägt Thelma vor, aber keiner von uns beiden rührt sich.

Johnny fährt sich mit der Hand über die kurz geschorenen Haare, kratzt sich am Kopf und verzieht schmerzlich das Gesicht. Dann hört er auf, sich zu kratzen, und sagt: »Wir sind nicht an ’nem verf*ckten Herzfehler gestorben, Boo.« Seine Stimme ist rau und zittrig. »Irgendein durchgeknallter Typ hat uns erschossen

Ein Schrei. Nicht im Flur vor meinem Zimmer, sondern in meinem Kopf. Die Erinnerung an einen Schrei, der durch den Flur der Helen-Keller gellte.

Meine Stimme ist nur ein Flüstern: »Du musst dich irren.«

Johnny Henzel lässt seinen Rucksack fallen, macht einen Schritt auf mich zu und breitet die Arme aus. Er zieht mich an sich und legt seinen verschwitzten Kopf auf meine knochige Schulter. Obwohl ich mich nicht gerne anfassen lasse, obwohl ich nie von irgendwem umarmt wurde, außer von euch beiden, liebe Eltern, mache ich mich nicht los, sondern tätschele Johnny Henzels Rücken so sanft, wie eine Mama es tun würde, während er in meinen Armen schluchzt und schluchzt und schluchzt.

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Erinnert ihr euch an eure Lieblingsgeschichte, liebe Eltern? Die über meine Unfähigkeit zu weinen? Die Enzyklopädie-Geschichte? Sie ereignete sich, als ich vier war und wir gerade in den Hill Drive 222 in der Siedlung Sandpits Apartments in Hoffman Estates, Illinois, gezogen waren, weil ihr den dortigen Friseursalon übernehmen wolltet. Ihr hattet mich mit meinen Plastikdinosauriern ins Wohnzimmer gesetzt und wart damit beschäftigt, in der Küche das Geschirr auszupacken. Ein fürchterliches Getöse ließ euch kurz darauf ins Wohnzimmer stürzen, wo sich zeigte, dass das Regal mit der eben erst eingeräumten Enzyklopädie dem Gewicht der zahlreichen Bücher nicht standgehalten hatte. Drei der Borde hatten nachgegeben und die Bände A-Z überall verstreut. Ich saß völlig ungerührt mitten zwischen den Wälzern und betrachtete hingerissen das Gesicht meines Spielzeug-Anklysaurus, eines Dinosauriers mit gepanzertem Körper und knöcherner Schwanzkeule.

»Ein ganzes Regal voller dicker fetter Bücher ist auf unseren kleinen Eierkopf runtergekracht«, hast du, liebe Mutter, immer voller Staunen gesagt. »Und er hat nicht mal einen einzigen Kratzer abbekommen.«

»Unser Sohn hat eben den Schädel eines Anklysaurus!«, fügtest du, lieber Vater, immer hinzu.

Oh, wie ich es geliebt habe, euch diese Geschichte erzählen zu hören! Ich vermisse euch, liebe Eltern. Wegen des Lochs in meinem Herzens müsst ihr mit meinem frühen Tod gerechnet haben, aber sicher habt ihr nicht damit gerechnet, dass ein Junge mit einer Knarre mein Leben auslöschen würde.