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Jami Attenberg

Saint Mazie

Roman

ISBN epub: 978-3-7317-6099-3

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Schöffling & Co. Verlagsbuchhandlung GmbH

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Inhalt

[Cover]

Titel

Widmung

Edie, 28 Kilo

Das denkbar Gemeinste

Edie, 92 Kilo

Der Weidenbaum

Edie, 73 Kilo

Middlestein und das Exil

Edie, 95 Kilo

Exodus

Edie, 109 Kilo

Das Goldene Einhorn

Männliches Muster

Edie, 151 Kilo

Das wandelnde Elend

Middlestein und die Liebe

Sitzordnung

Am Boden

Middlestein und die Trauer

Danksagung

Zitatnachweis

Autorenporträt

Übersetzerporträt

Über das Buch

Impressum

[Leseprobe – Saint Mazie]

[Leseprobe – Der amerikanische Architekt]

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Für meine Familie

Die Middlesteins

Edie, 28 Kilo

Sie musste ihrer Tochter doch zu essen geben!

Die kleine Edie Herzen – gar nicht so klein für ihre fünf Jahre. Der Mutter war das natürlich klar, wie konnte es ihr auch entgehen! Die ehemals pfirsichweichen Arme und Beine hatten sich zu etwas ausgewachsen, das schon nicht mehr zum Anbeißen war. Sie fühlten sich erstaunlich fest an. Ein Kind musste doch eigentlich knuddelig sein. Doch Edie war ein zementartiger Klops. Sie atmete viel zu schwer, wie ein aufgeblähter alter Onkel nach dem Essen. Und weil sie äußerst ungern Treppen stieg, bettelte sie nun darum, die vier Stockwerke zur Wohnung hinaufgetragen zu werden – von ihrer ächzenden Mutter: der Rücken, die Einkäufe, eine Tasche mit Büchern aus der Bibliothek.

»Ich bin müde«, sagte Edie.

»Wir sind alle müde«, sagte ihre Mutter. »Komm schon, hilf mir mal.« Sie reichte Edie die Tasche mit den Büchern. »Du hast sie dir ausgesucht, jetzt trag sie auch.«

Edies Mutter – selbst nicht gerade dünn. Mit fast einsachtzig und einem wuchtigen Körper verströmte sie in ihrer üppigen Majestät den Glanz einer Löwin, und brüllen konnte sie auch. Sie hielt sich für eine Königin unter den Frauen. Aber trotzdem, sie schwitzte und hatte Kopfschmerzen, und diese Treppe machte wirklich keinen Spaß.

Ihr Mann, Edies Vater, nahm immer zwei Stufen auf einmal, um möglichst rasch voranzukommen. Er war groß, hatte einen dichten, dunklen weichen Haarschopf und lange, schlaksige blasse Arme und Beine, und sein ganz und gar wässrig blau geäderter Brustkorb mit den vorstehenden Rippen war so schmal, dass er beinahe durchscheinend aussah. Wenn sie miteinander geschlafen hatten, sah sie immer träge zu, wie sich die Haut über seinem Herzen hob und senkte, schnell, langsamer, langsam.

Bei den Mahlzeiten aß er und aß, denn was Essen anging, folgte er einem fleischlichen Urinstinkt. Er beugte sich über den Tisch, legte zur Abgrenzung seines Territoriums einen Arm um den Teller und schaufelte sich mit der anderen Hand das Essen in den Mund, ohne zum Kauen oder zum Atmen innezuhalten. Aber er nahm nie auch nur ein einziges Kilo zu. Acht Jahre zuvor hatte er während seiner langen Reise von der Ukraine nach Chicago gehungert, und seither wurde er nicht mehr satt.

Wenn man bedachte, in wie vielen Punkten man sich auf der Welt einig sein konnte, hatten sie wenig gemeinsam, die beiden Eheleute. Er war kein Patriot, sie seit jeher in Amerika zu Hause. Sie war im Umgang mit Geld leichtsinniger als er, weil sie in diesem riesigen, reichen Land, in der gesunden Stadt Chicago das Gefühl hatte, dass man jederzeit auch mehr verdienen konnte. Sie besuchten unterschiedliche Synagogen – er die der russischen Einwanderer, sie die von Deutschen zwei Generationen zuvor gegründete, in die schon ihre Eltern zu Lebzeiten gegangen waren, die Synagoge, in der sie groß geworden war, denn das konnte sie nicht aufgeben, nicht einmal in dieser neuen Verbindung. Er hatte mehr Geheimnisse, hatte mehr Elend gesehen. Sie kannte so etwas nur aus den Nachrichten. Und wohin seine Tochter Edie auch wollte, er trug sie auf den Schultern, hoch oben am Himmel, so nahe wie möglich bei Gott. Während seine Frau der festen Meinung war, dass Edie inzwischen selbst überallhin laufen konnte.

Einig waren sie sich darin, wie sie miteinander schlafen wollten (nach Lust und Laune, ohne Voreingenommenheit) und wie oft (allnächtlich, mindestens), und sie waren sich einig, dass Essen aus Liebe gemacht war und wiederum Liebe hervorbrachte, und sie versagten sich nie einen Bissen, den sie begehrten.

Und wenn ihre geliebte, großäugige und bereits scharfsinnige Tochter Edie kräftig für ihr Alter war, dann machte das nichts.

Denn sie mussten ihr doch zu essen geben!

Da die kleine Edie Herzen einen schlechten Tag hatte, stieg sie langsamer als je zuvor in der Geschichte des Treppensteigens die Treppe hinauf und beschloss bald, dass sie keine weitere Stufe mehr schaffen würde. Es war schwül im Treppenhaus, die staubige Luft hatte sich durch das Oberlicht aufgeheizt, und als Edie sich schließlich hinsetzte und die Büchertasche neben sich zu Boden fallen ließ, quatschte der Schweiß zwischen Schenkelrückseiten und Treppenstufe.

»Edie, Bobbele, bitte nicht.«

»Es ist zu heiß«, sagte sie. »Heiß, müde. Trag mich.«

»Ich habe keine Hand frei!«

»Wo ist Daddy? Er kann mich doch tragen.«

»Was ist denn heute los mit dir?«

Edie wollte sich nicht wie ein Baby anstellen. Quengeln lag ihr nicht. Sie wollte bloß getragen werden. Sie wollte getragen und geknuddelt und mit salziger Leberwurst und roter Zwiebel auf warmem Roggenbrot gefüttert werden. Sie wollte lesen und plaudern und lachen und fernsehen und Radio hören, und abends wollte sie ins Bett gebracht werden und von einem Elternteil oder beiden einen Gutenachtkuss kriegen, egal, von wem, denn sie liebte beide gleich. Sie wollte der Welt beim Vorüberziehen zuschauen und im Kopf Geschichten über all das erfinden, was sie da sah, die vielen Liedchen singen, die sie in der Sonntagsschule lernte, und so weit zählen, wie sie konnte, nämlich schon bis über Tausend. Es gab so viel zu beobachten und zu überlegen, warum also musste sie laufen? Sie vermisste ihren Buggy, den sie manchmal aus der Abstellkammer zog und wehmütig betrachtete. Sie hätte sich so gern bis in alle Ewigkeit herumschieben lassen wie eine Prinzessin in der Kutsche und ihr Königreich inspiziert, am liebsten eins mit einem Zauberwald, in dem winzige Elfen tanzten. Elfen, die ihr eigenes Deli besaßen, in dem es nur Leberwurst gab.

Edies Mutter verlagerte die Einkäufe in ihren verschwitzen Armen. Etwas roch säuerlich, sie merkte, dass sie es selbst war, plötzlich lief ein wahrer Schweißbach von ihrer Achsel den Arm hinunter, und als sie den Arm an der Tüte abwischen wollte, drehte sich die Tüte auf einmal, und als sie mit dem anderen Arm danach griff, kam die andere Tüte ins Rutschen, und sie beugte sich vor und hielt beide fest und versuchte, die Tüten auf den Schenkeln abzusetzen, aber es half nichts, die obersten Lebensmittel quollen aus beiden Tüten heraus: Zuerst landeten der Laib Brot, das Gemüse und die Tomaten auf Edies Kopf, dann zwei große Dosen Bohnen auf Edies Fingerspitzen.

Die kleine Edie Herzen, Löwin in Ausbildung, konnte schon ziemlich gut brüllen.

Ihre Mutter ließ die Tüten fallen. Sie packte ihre Tochter, sie hielt sie fest, sie drückte sie an sich (und fragte sich wieder einmal, warum Edie schon so fest war, so hart), sie beruhigte ihre Kleine, während ihr Vergehen in ihrem Magen kochte wie ein Ei in heißem Wasser, ein Gefühl irgendwo zwischen dem Wunsch, ihre Tochter möge sofort mit dem Weinen aufhören – in fünf Minuten, fünf Jahren, fünfzig Jahren würde es ohnehin wieder gut sein, sie würde sich an den Schmerz gar nicht mehr erinnern –, und dem Wunsch, selbst zu weinen, denn sie wusste, sie würde niemals vergessen, wie ihr zwei Dosen mit Bohnen heruntergefallen waren, direkt auf die Finger ihrer Tochter.

»Komm, zeig doch mal«, sagte sie zu Edie, die heulte und gleichzeitig den Kopf schüttelte und die Hände fest an den Körper drückte. »Woher sollen wir wissen, ob alles in Ordnung ist, wenn ich sie mir nicht ansehen darf?«

Edie blieb eine Weile dabei, zu heulen und die Hände zu verstecken. Nachbarinnen machten die Türen auf, warfen einen Blick ins Treppenhaus und schlossen sie wieder, als sie sahen, dass es nur um dieses dicke Kind aus 6D ging, das eben noch klein war, und kleine Kinder weinten eben. Edies Mutter herzte und flehte. Die Eiscreme schmolz. Ein Nagel würde blau werden und eine Woche später abfallen, und wenn sie meinte, dass Edie inzwischen schrie wie am Spieß, dann hatte sie noch nichts Richtiges gehört, aber das konnte noch niemand wissen. Narben würden nicht zurückbleiben, obwohl Edie ein narbenreiches Leben bevorstehen sollte, in der einen oder anderen Hinsicht, aber auch das konnte noch niemand wissen.

Edies Mutter saß da und hielt ihre Tochter im Arm, bis sie schließlich das Einzige tat, was ihr noch übrigblieb. Sie griff hinter sich, hob das in seinem Umschlagpapier noch warme, erst vor einer knappen Stunde bei Schiller’s an der Dreiundfünfzigsten Straße gebackene Roggenbrot vom Boden auf, riss einen Brocken ab und reichte ihn ihrer Tochter, die jedoch nicht reagierte und unversöhnlich weiter schluchzte, weil gerade ein winziger Funke Gemeinheit in ihr aufgeglommen war.

»Gut«, sagte ihre Mutter. »Ich nehm’s gern.«

Wie lange mochte es wohl gedauert haben, bis Edie den Kopf wandte und ihre zitternde Hand nach Nahrung ausstreckte? Mit erwartungsvoll, wenn auch verschlafen geöffnetem Mund, wie ein Vogeljunges. Der Roggen im Mund. Sehnsucht nach Leberwurst. Elfenträume. Wie lange, bis sie ihrer Mutter auch die andere, rosa, lila und blau verfärbte Hand mit dem blutigen Nagelbett am Zeigefinger hinhielt? Bis ihre Mutter die Hand über und über küsste?

Essen war aus Liebe gemacht und Liebe aus Essen, und wenn man so dafür sorgen konnte, dass ein Kind aufhörte zu weinen, dann war das völlig in Ordnung.

»Trag mich«, sagte Edie, und diesmal konnte die Mutter es ihr nicht abschlagen. So stieg sie dann die Treppe hinauf in den vierten Stock, um den Hals die Tasche mit Büchern aus der Bibliothek, die sie nur ein bisschen würgte, in einem Arm die beiden Einkaufstüten und auf dem anderen ihre geliebte Tochter Edie.

Das denkbar Gemeinste

Robins Mutter Edie stand in der kommenden Woche eine weitere Operation bevor. Gleicher Eingriff, anderes Bein. Alle sagten ständig: Immerhin weiß man, was einen erwartet. Robin stieß gerade mit Daniel, ihrem Nachbarn von unten, auf das Bein an, in der Bar gegenüber ihrem Mietshaus. Draußen war es kalt. Januar in Chicago. Robin hatte fünf Kleidungsschichten angelegt, nur um über die Straße zu gehen. Daniel war schon betrunken gewesen, als sie kam. Ihre Mutter wurde zum zweiten Mal innerhalb eines Jahres aufgeschnitten. Prost.

Die Bar war nullachtfünfzehn, null gemütlich und überhaupt eher eine Nullnummer. Robin fiel es schwer, den Weg dorthin zu erklären. Im einzigen Fenster hing zwar eine Leuchtreklame für »Old Style«-Bier, aber an der Eingangstür stand keine Hausnummer. Zwischen 242 und 246, sagte sie meist, auch wenn die Leute das irgendwie verwirrend fanden. Daniel allerdings nicht. Er kannte den Weg.

»Auf die zweite«, sagte Daniel. Er hob sein Glas. Diesmal trank er das braune Zeug. Sonst trank er eher das hell- oder dunkelgelbe Zeug, aber schließlich war Winter. »Geht’s um das rechte oder das linke Bein?«

»Das kann ich mir nicht mal merken, stell dir vor. Ich glaube, ich hab’s verdrängt. Ist das nicht schrecklich? Bin ich ein schrecklicher Mensch?« Das Ganze hatte sie überrascht, obwohl es eigentlich kein Wunder war. Ihre Mutter weigerte sich, vernünftig zu essen oder Sport zu treiben, und war im Laufe der letzten zehn Jahre völlig verfettet. Zwei Jahre zuvor hatte man bei ihr Diabetes diagnostiziert. Im fortgeschrittenen Stadium. Der Diabetes hatte in Kombination mit der katastrophalen genetischen Veranlagung zu einer Gefäßerkrankung in den Beinen geführt. Aus dem anfänglichen Kribbeln war ein dauerhafter Schmerz geworden. Robin hatte die Beine ihrer Mutter im Krankenhaus nach der ersten Operation gesehen und beim Anblick der blauen Verfärbungen gewürgt. Das hätte ihrer Mutter doch auffallen müssen! Oder ihrem Vater! Das konnte ihnen doch nicht entgangen sein! Der Arzt hatte ein kleines Metallröhrchen, einen Stent, in das Bein eingeführt, damit das Blut richtig fließen konnte. (Robin fragte sich, was mit dem Blut passierte, wenn es nicht floss.) Ursprünglich hatte er einen Bypass legen wollen, eine Vorstellung, die alle bedrohlich fanden. Doch der Arzt blieb bei seiner Meinung, wie Benny sagte, Robins Bruder. »Daraus könnte schnell was Ernstes werden«, hatte er ihr erklärt. »Das sollte uns eine Warnung sein.« Aber Edie hatte selbst mit dem Arzt verhandelt. Sie versprach ihm, sich zu bessern. Sie versprach, an sich zu arbeiten. Nach fünfunddreißig Jahren als Anwältin wusste sie sich zu wehren. Ein halbes Jahr später hatte Edie nichts in ihrem Leben verändert, keinen Schritt unternommen, um sich selbst zu helfen, und das hatten sie nun alle davon.

»Es ist mir ja nicht gleichgültig«, sagte Robin. »Ich will es nur einfach nicht wissen.« Sie wusste ohnehin schon zu viel. Hier sprang ihr das wahre Leben ins Gesicht, und damit wollte sie nichts zu tun haben.

In der Woche zuvor war sie nach Hause gefahren, um nachzusehen, was der Wahnsinn so machte, zurück in die Vorstadt, in der sie aufgewachsen war, die sie dreizehn Jahre zuvor in der Hoffnung verlassen hatte, niemals zurückzukehren, und in der sie sich nun viel zu häufig wiederfand. Ihre Mutter hatte sie vor dem Bahnhof abgeholt, war dann um die Ecke gefahren und hatte vor einem Kino geparkt. Es war später Nachmittag; an der Schule, wo Robin unterrichtete, hatte es einen halben Tag frei gegeben. (Sie hatte sich ausgemalt, was sie mit diesem freien Nachmittag anfangen würde: ausgiebig am See laufen gehen während der wärmsten Stunden des Tages, oder ein frühes Besäufnis mit Daniel. Aber es hatte nicht sollen sein.) Rentner kamen im Zeitlupentempo aus der Matineevorstellung. Ein paar Hausfrauen zerrten ihre Kleinkinder zum Parkplatz auf der anderen Straßenseite. Fast hätte sich Robin aus dem Auto geworfen, ihnen nach. Nehmt mich mit!

»Ich muss dir was erzählen, bevor wir nach Hause fahren«, hatte ihre kurzatmige Mutter gesagt, von deren massigem Fleisch nur das fahle Gesicht, das Doppelkinn und der wulstige Hals aus dem Pelzmantel ragten. »Dein Vater hat mich verlassen. Er hatte genug.«

»Das soll wohl ein Witz sein«, sagte Robin.

»Es ist Tatsache«, sagte ihre Mutter. »Er hat die Flatter gemacht, und er kommt nicht zurück.«

Später fiel Robin auf, was für ein seltsamer Ausdruck das war. Als hätte ihr Vater zuvor wie ein Vogel in einem mit vollgekacktem Zeitungspapier ausgelegten Käfig gesessen. Ihre Gefühle für den Vater schwankten heftig in diesem Moment. Ihre Mutter war schwierig. Die Situation war schwierig. Er hatte sich wie ein Feigling davongemacht – Feigheit allerdings hatte Robin noch nie jemandem verübelt, das war einfach eine Entscheidung, die man eben traf. Doch sie hasste sich selbst für diesen Gedanken. Schließlich ging es um ihre Mutter, sie war krank, sie brauchte Hilfe. Wenn Robin sich ihre eigenen zugegebenermaßen fragilen Moralvorstellungen vor Augen führte, wusste sie, dass es nur ein naheliegendes Urteil gab. Seine Entscheidung war verabscheuungswürdig. Den ganzen Gedankengang sollte sie niemals laut aussprechen, wohl aber das Fazit: Ihr Vater verdiente keine Vergebung. Sie hatte ihn schon vor dieser Geschichte zwar geliebt, aber nicht besonders gemocht, und nun brauchte es nicht viel, um ihre Gefühle in so etwas wie Hass umschlagen oder zumindest die Liebe vergehen zu lassen.

Die Mutter schluchzte. Robin berührte die Hand ihrer Mutter. Sie legte die Hand auf die Schulter der Mutter. Edie zitterte, und ihre Lippen waren blau. Nur ein Schritt bis zum Tod, dachte Robin. Aber sie war keine Ärztin.

»Ich hätte ihn besser behandeln sollen«, sagte die Mutter.

Dagegen konnte Robin nichts sagen, aber sie konnte auch nicht umhin, ihrem Vater die Schuld zu geben. Richard Middlestein hatte sich zu einem Leben mit Edie Herzen verpflichtet. Und Edie lebte noch.

So kam es, dass die Operation zur Nebensache wurde. Robin hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, Edie nach ihrer Gesundheit zu fragen. Um diese Dinge kümmerte sich ohnehin meist ihr Bruder. Bei der ersten Operation war Robin hingefahren, hatte ein paar Stunden im Wartezimmer gesessen wie alle anderen – langweilig; sie wussten doch alle, dass es gutgehen würde, es war ein simpler Eingriff und sie würde am selben Abend aus dem Krankenhaus kommen – und bei der nächsten behauptet, sie sei zu beschäftigt. Sie hatte geglaubt, ungeschoren davongekommen zu sein, auch wenn das hieß, dass sie menschlich einfach das Letzte war. Ihr zuverlässiger, solider, familienfixierter Bruder Benny, der zwei Vororte von den Eltern entfernt wohnte, würde ja hingehen. Er, seine Frau mit der korrigierten Nase, Nichte Emily und Neffe Josh, sie alle würden geduldig mit Robins Vater abwarten, bis ihre Mutter wieder zu sich kam. Wie viele besorgte Kinder brauchte man eigentlich, um so eine Glühbirne einzuschrauben?

Doch dieses jüngste Trauma war etwas Neues und Außergewöhnliches. Hier ging es um ein gebrochenes Herz. Ums Verlassenwerden. Und für diese Dinge war Benny alles andere als gerüstet. Robins Gedanken wanderten zu anderen Menschen im Leben ihrer Mutter, die vielleicht in der Lage wären, ihr zu helfen, etwa ihre langjährigen Freunde aus der Synagoge, die Cohns und die Grodsteins und die Weinmans und die Frankens. Vierzig Jahre kannten sie einander. Doch diese Freunde waren alle noch verheiratet und hatten keine Ahnung von solchen Sachen. Nein, das war Robins Gebiet. Die war schließlich Dauersingle, und das wahrscheinlich aus gutem Grund. Nun war sie endlich auch mal dran.

»Du bist überhaupt kein schrecklicher Mensch«, sagte Daniel. Er kratzte sich den blonden Bart, der so weich aussah. Robin stellte sich schon seit Monaten vor, wie weich er war. Alles an Daniel wirkte weich und tröstlich, wenn auch ein bisschen schwach. Der Kinn- und Schnauzbart, die Kopfhaare und die Haare auf Brust und Bauch – im Sommer zuvor hatte sie öfter gesehen, wie er hinten auf der Terrasse in einer ausgeblichenen Hängematte lümmelte und sich sonnte –, all das war ganz golden und flaumig. Einmal hatte sie ihm sogar den Kopf tätscheln wollen, nur um herauszufinden, wie sich die Haare anfühlten, doch als ihre Hand hochflog, hatte er das als Abklatschversuch verstanden und selbst die Hand gehoben, um einzuschlagen, und da hatte sie wohl oder übel reagieren müssen.

Aber es waren schließlich nur Haare. Sie musste sie nicht berühren. Sie hatte selbst Haare, die auch ziemlich weich waren, schwarz, lockig, lang, elastisch, drahtig, aber trotzdem weich.

Außerdem gab es da auch noch anderes: seinen vom hell- oder dunkelgelben oder braunen Zeug aufgeblähten, tief und breit über den Hosengürtel hängenden Bauch, sein ganz eigener Airbag; ausgebeulte, ausgeblichene Flanellhemden mit löchrigen Manschetten und Taschen, weißlich-blaue Jeans oder Cordhosen mit durchgescheuerten Knien; Converse-Hightops, deren Sohlen von Klebeband gehalten wurden. Blutunterlaufene Augen. Eingerissene Nagelhaut. Die viele Zeit, die er im Internet verbrachte. (Klar, das war sein Job, aber sie machte sich trotzdem Sorgen.) Das Haus verließ er nur, um in diese Bar zu gehen, oder wenn Robin ihn bei wärmerem Wetter mit auf Spaziergänge schleppte.

»Dein Freund Daniel«, so nannte ihn Felicia, ihre Mitbewohnerin.

»Er ist nicht mein Freund«, sagte sie daraufhin.

»Ihr verhaltet euch aber so«, sagte Felicia dann. »Worüber redet ihr denn auf euren Spaziergängen?«

Sie redeten über Robins Mutter. Genau wie im Moment.

»Ich weiß nicht, wie ich ihr helfen soll«, sagte sie.

»Ich glaube, du musst einfach für sie da sein«, sagte er.

Ihr war klar, dass das ihre Aufgabe war, aber jedes Mal, wenn sie mit dieser Bahn nach Hause fuhr und die hohen, funkelnden Gebäude von Downtown Chicago in der Ferne langsam verschwanden, bis man nur noch die für den Stadtrand charakteristischen zahllosen Einkaufszeilen und -meilen und -zentren sah – die Vorstadt hatte durchaus mehr zu bieten, das wusste sie, aber mittlerweile sah sie nichts anderes mehr, weil ihr die Kombination aus Vorurteil und Neurose den Blick verstellte –, jedes Mal verfiel sie dann in tiefe Depression.

Wenn sie von New York nicht wieder zurück nach Chicago gezogen wäre, wäre das alles nie passiert. Das wusste sie im Innersten. Sie hatte es dort nur ein Jahr ausgehalten, ein Jahr mit vier anderen Mädchen in einer schmalen, heruntergekommenen alten Etagenwohnung in Bushwick, mit knarrender Decke und Nachbarn, die anscheinend ständig kochten. (Pfannengeklapper, unaufhörliches Gebrutzel: Wieso brieten die ständig irgendwas?) Es gab in der Wohnung zwei Fenster, eins auf das unbebaute Grundstück nebenan und das andere auf den vermüllten Durchgang hinter dem Haus. Die Fenster waren vergittert. Drinnen war es wie im Gefängnis und draußen noch schlimmer. Männer machten auf der Straße widerliche Bemerkungen über sie. Oft wurde sie »weiße Tussi« genannt, was sie hasste, auch wenn sie nichts dagegen einwenden konnte. Sie suchte unausgesetzt nach dem Charme ihres Viertels, ohne dafür gerüstet oder entsprechend kundig zu sein. In diesem Jahr verbrachte sie viel Zeit in der Bahn auf dem Weg in andere Stadtviertel, nur um dort nicht bleiben zu müssen.

Robins Mitbewohnerinnen waren ihr relativ ähnlich. Sie hießen Jennifer und Julie und Jordan – alle waren Jüdinnen, alle hatten im Mittleren Westen das College besucht und alle hatten heimlich gemeinsame Bankkonten mit ihren Müttern, die dort ab und zu kleine Extras einzahlten, damit sich die Mädchen etwas Hübsches gönnen konnten. Es gab eine vierte Mitbewohnerin, die im Wohnzimmer auf dem Sofa schlief, wenn sie nicht bei ihrer Freundin übernachtete. Die forsche Teresa stammte aus Alaska, war in einer Stadt voller Betrunkener aufgewachsen und hatte sich bis in die Mittelschicht vorgekämpft, während die anderen Mitbewohnerinnen dort einfach nur verharrten.

Zusammengeführt hatte sie das gemeinnützige »Teach for America«-Hilfsprogramm, in dessen Namen sie nun an schrecklichen Highschools in ganz Brooklyn benachteiligte Kinder unterrichteten. Nicht im malerischen Brooklyn von Park Slope, wo schöne Menschen mit ihren kleinen Kindern wohnten, sondern östlich davon in Richtung der Rennbahnen und Flughäfen – in Richtung Nirgendwo, wie es ihnen manchmal vorkam. Robin war auf all das nicht vorbereitet gewesen. Nicht einmal durch ihren lebenslangen Konsum der Massenkultur, die zeigte, wie chaotisch es an Schulen in verarmten urbanen Gebieten zugehen konnte. Kein Film oder Song, keine Folge von Law & Order, kein Collegeseminar oder Orientierungsprogramm hatte sie darauf vorbereitet, wie absolut ätzend ein Jahr Unterricht an einer Schule voller gefährdeter Kinder sein konnte. Wenn sie Hoffnung und Inspiration gesucht hatte oder glaubte, selbst so etwas bieten zu können, dann war sie dort falsch. Sie spielte in einer völlig anderen Liga. Jeder wusste das. Robin hatte kein Pokerface. Sie zuckte den ganzen Tag.

Jeden Morgen wachte sie auf und fragte sich, ob sie mehr Schaden anrichtete als nutzte. Sie kaufte von ihrem eigenen Geld Papier und Textmarker. Sie versuchte, Neuerungen einzuführen: Sie beklebte eine große, leere Blechdose (gehackte Tomaten für die Pastasauce vom vergangenen Abend) mit Papier, taufte sie die »Hör-mir-zu-Dose« und stellte sie vorn im Klassenzimmer auf. »Wenn euch nach Schreien ist oder ihr euch über irgendwas ärgert, dann schreibt es einfach auf und steckt den Zettel da rein«, wies sie die Kinder an. »Und ich verspreche, euch wird zugehört.«

Nach dem Unterricht las sie die Zettel. Manchmal waren es schlichte Informationen.

Jemand hat meinen Bleistift geklaut.

Ich mag keine Tests.

Es müsste jeden Tag Chicken Nuggets zu Mittag geben.

Öfter waren es allerdings Botschaften voller Wut oder Traurigkeit.

Mein Vater hat mich gestern Abend Schwuchtel genannt.

Bei mir zu Hause ist es zum Schlafen zu laut.

Ich hasse Sie ich hasse die Worte hier ich hasse alle.

Aber nicht deswegen war sie aus der Stadt weggezogen, jedenfalls nicht, soweit sie sich erinnerte. Es hatte einen wirklichen, konkreten Wendepunkt gegeben, und zwar gegen Ende des Schuljahres. Eine Woche lang waren sie und ihre Mitbewohnerinnen völlig zerstochen aufgewacht – zunächst waren es nur wenige Stiche gewesen, bis sich dann ein paar Tage später am ganzen Körper, an Bauch, Beinen und Armen rote, brennende Flecken zeigten. Es half nichts. Sie hatten Bettwanzen. Teresa war diejenige, die schließlich erkannte, was es mit den Stichen auf sich hatte und was man dagegen unternehmen musste. Sie würden sämtliche Kleidungsstücke heiß waschen müssen. Einen Kammerjäger rufen. »Und diese Matratzen kann man nur wegschmeißen«, sagte sie. Wer hatte eigentlich vorgeschlagen, sie zu verbrennen? War es Robin gewesen? Hätte sie so rasch an komplette Zerstörung gedacht? Wenn sie es nicht selbst ausgesprochen hatte, war sie jedenfalls sofort dabei.

Sie schritten gemeinsam auf der Stelle zur Tat. Keine konnte die wanzenverseuchten Sachen auch nur einen Augenblick länger ertragen. Sie kickten ihre Matratzen die Treppe hinunter. Teresa zerrte das Sofa allein mit einer Hand hinaus. Sie schleiften alles über den Kiesbelag des unbebauten Grundstücks in den verdreckten Durchgang hinter dem Haus. Robin rannte zum Deli an der Ecke und kaufte Feuerzeugbenzin. Eines der Mädchen hatte Streichhölzer. Die anderen lasen in dem Durchgang alles auf, was gut brannte: alte Zeitungen, einen Lampenschirm, ein halbes Dutzend schmutzige Pizzakartons. Dann standen sie alle da und sahen zu, wie das Feuer die Matratzen verschlang. Die Scheißdinger einfach verschlang. Alle standen dabei und kratzten sich. Hatten sie das etwa verdient? Immerhin unterrichteten sie für Amerika!

Robin untersuchte ihren fleckigen Arm und sagte: »Scheiß drauf. Ich ziehe wieder nach Hause.«

»Ich auch«, sagte Julie.

»Ich auch«, sagte Jennifer.

»Ich auch«, sagte Jordan.

»Ich nicht«, sagte Teresa. »Ich ziehe zu meiner Freundin. New York ist irre.«

Inzwischen hatte Robin nur noch zwei Mitbewohnerinnen (eine, die nie da war, weil sie meistens bei ihrem Freund wohnte, wenn auch gewissermaßen undercover nach dem Motto: »Wir wollen es uns mit unseren katholischen Eltern nicht verderben, obwohl wir schon Ende zwanzig und eindeutig nicht mehr jungfräulich sind«, und eine, die immer da war, weil sie nichts Besseres hatte, so ungefähr wie Robin) und lebte in einer geräumigen Wohnung in Andersonville, nur drei Haltestellen von der Privatschule entfernt, wo sie seit sieben Jahren Geschichte unterrichtete. Ihr Leben in Chicago war besser, in allen Punkten, an die sie zur Zeit ihres Umzugs gedacht hatte, obwohl sie sich manchmal fragte, ob sie zu schnell die Flucht ergriffen hatte, denn dass sie nie mehr zurückgehen würde, wusste sie. Das war es nun, Chicago. Endstation.

Jetzt gab es nämlich eine Mutter mit Herzeleid, um die sie sich kümmern musste.

Wo hätte sie auch hinziehen sollen in den vergangenen Jahren? Sie hätte überall genauso gelebt wie derzeit in Chicago. Robin stand morgens auf, trank Kaffee, machte ein paar Dehnübungen, lief fünf Meilen, duschte, cremte sich ein, zupfte ein verirrtes Haar vom Kinn, legte zu viel Eyeliner auf und goss dann, bevor sie aus dem Haus ging, ein paar Pflanzen, an denen ihr wenig lag, die sie aber aus Gewohnheit am Leben erhielt. Dann fuhr sie mit Bahn oder Bus zu einer Schule, die nicht so weit weg war, als dass sie ihr ganzes Leben mit Pendeln verbringen musste, aber weit genug für ein erwachsenes Gefühl – echte Erwachsene gingen zur Arbeit aus dem Haus und fuhren irgendwohin; da lag auch ein Problem, das sie mit Daniel hatte und seinem Leben und damit, ihn ernst zu nehmen –, las während der Fahrt irgendeinen Roman aus der Zeit nach den Siebzigern, den sie sich in der Bibliothek beschafft hatte, und grinste über die lustigen Stellen, ohne je laut zu lachen. In der Schule gab sie einer Klasse Unterricht über den Vietnamkrieg und wurde ein bisschen politisch dabei, ohne sich zu sehr zu empören (natürlich sympathisierte sie mit den Demonstranten, aber trotzdem: Wir müssen unsere Truppen jederzeit unterstützen), und wenn sie dann mit der einzigen guten Freundin, die sie dort gefunden hatte, zu Mittag aß – wer immer die andere bissige junge Single-Frau war –, saßen die beiden allein an einem Tisch in der Cafeteria, machten sich über alle anderen lustig, Schüler wie Lehrer, und hatten letztlich doch immer etwas Nettes über alle zu sagen. Später fuhr Robin mit der Bahn nach Hause, ging vielleicht einkaufen, umweltfreundlich produzierte und meist vegetarische Nahrungsmittel, die sie anschließend verarbeitete und in Frieden zu sich nahm, während sie in ihrem Buch las und mit dem Zeigefinger den Zeilen folgte, um dann ihre Mitbewohnerin, die ins Zimmer kam, strahlend anzulächeln, jedoch schnell wieder nach unten zu blicken, als dürfte man sie nicht ablenken von genau dieser emotionalen Stelle im Buch, was nicht mal gelogen, aber auch ein Vorwand war, um noch ein bisschen zu schweigen, um einen weiteren Augenblick des Tages zu genießen, der allein ihr gehörte. Denn später würde sie in eine Bar gehen, mit einem Mann, oder sie würde dort einen Mann kennenlernen, und sie würde üben, eine Frau zu sein, würde eine gewisse Macht verspüren, würde dem Mann ihr gegenüber gerade genug Energie aussaugen, um sich noch vollständig und wesentlich und sexuell zu fühlen, ohne dafür etwas anderes tun zu müssen als einfach aufzutauchen und da zu sein. Keine Verletzungen. Sie hatte kein Interesse daran, jemals wieder verletzt zu werden oder jemanden zu verletzen. Es ging nur um ein bisschen Konversation. Einen unschuldigen Flirt. Und dann würde sie trinken, was sie brauchte, um sich für die Nacht umzuhauen.

Robin hätte ebenso gut in Denver oder San Francisco oder Atlanta oder Austin wohnen können, es spielte keine Rolle. Wo sie auch wohnte, sie würde dasselbe tun. Nie wieder würde sie in einem Durchgang Möbel anzünden.

Sie dachte an das Gefühl ganz am Ende ihres morgendlichen Laufs. Sie legte dann jedes Mal einen Sprint ein, und wenn sie zu Hause ankam, war sie außer Atem, krümmte sich, stützte die Hände auf die Knie, und ihre Haut glühte. Das mochte sie am liebsten an ihrem Tag. Diese Minute, in der sie den Sprint einlegte.

Nun saß sie auf ihrem Barhocker und beugte sich vornüber. Die Haare hingen ihr ums Gesicht. Sie wartete darauf, dass ihr das Blut in den Kopf strömte. Daniel legte ihr eine Hand in den Nacken. Er fragte nicht, ob alles in Ordnung war. Sie mochte Daniel. Er wusste, wann man still sein musste.

Schließlich hob sie den Kopf. Es war nicht dasselbe Gefühl wie beim Sprint. Dieses Gefühl ließ sich anders nicht herstellen.

Daniel und Robin tranken einander noch einmal zu, diesmal auf die Ehen ihrer Eltern.

»Eine wahre Inspiration für uns alle«, sagte Daniel.

»Das ist gemein«, sagte sie.

»Ach, blöde Bemerkungen über die Operationen sind okay, aber die Scheidung ist tabu? Jetzt erkenne ich, was du wirklich bist, Robin. Eine sentimentale alte Suse.«

Sie war nicht sentimental. Aber sie hatte inzwischen überschüssige Liebe im Herzen; sie wusste, dass es so war. Liebe, die sie ihrem Vater entzogen hatte. Die war nicht einfach verschwunden. Aber sie brauchte eine neue Richtung. Robin sah Daniel an und kam auf den gemeinsten Gedanken ihres Lebens. Er tut’s.

Sie beugte sich über die Ecke der Bar, sodass die Kante in ihren Bauch drückte, und gab Daniel einen unbeholfenen, aber nicht gänzlich misslungenen Kuss. Dann setzte sie sich wieder hin.

Daniel sagte eine Weile nichts. Er hatte glasige Augen und rieb die Lippen aneinander. »Wir sollten erst mal darüber reden«, sagte Daniel.

»Das ist etwas, worüber wir auf gar keinen Fall reden sollten«, sagte Robin. »Nicht reden und nicht nachdenken. Einfach tun.«

Und schweigend gingen sie.

Edie, 92 Kilo

Bei Edie Herzen zu Hause waren alle besessen von Golda Meir. Ihr Vater und seine zahlreichen Freunde, die er aus der Synagoge oder dem Studium kannte oder die gerade aus Russland gekommen und von Edies Vater in dessen Leben aufgenommen worden waren, weil er ständig Leute aufnahm, verbrachten ganze Wochenenden über den Küchentisch gebeugt mit Gesprächen über sie, rauchten dabei Zigaretten, tranken Kaffee und stocherten in dem Essen, das vor ihnen stand – Platten mit Weißfisch und Hering, Bagels, Räucherlachs, verschiedene Aufstriche aus manchmal undefinierbarem Fleisch. Leuchtend grünes eingelegtes Gemüse, strotzend von Essig und Salz. Kirschgebäck mit halb geschmolzenen Zuckergussschnörkeln.

Ihre Mutter schnitt derweil meist Tomaten und Zwiebeln an der Küchenspüle, auch mit einer Zigarette im Mund. Sie trug ihr schwarz gefärbtes Haar bauschig hochgesteckt, und immer baumelte ein neues Goldarmband an ihrem Handgelenk. Ihr war das alles längst nicht so wichtig wie Edies Vater, und sie selbst ging fast nie in die Synagoge, außer an hohen Feiertagen. Nach dem Umzug der Familie zehn Jahre zuvor von Hyde Park nach Skokie stand die Synagoge, in der Edies Mutter groß geworden war, nicht mehr zur Verfügung, und ohne persönlichen Bezug zu einer damit verbundenen Geschichte hatte die Ausübung des Glaubens plötzlich keine Bedeutung mehr für sie. Doch Edies Mutter versorgte ihren Mann und dessen Freunde – also konnten sie das Beten für sie gleich mit erledigen. Sie sorgte dafür, dass alle etwas zu essen bekamen. Niemand würde ihr Haus hungrig verlassen. Keiner dieser armen, unbeweibten, kinderlosen, einsamen Männer.

Die Männer begaben sich vom Tisch zur Synagoge und wieder zurück, und manche streckten sich nachts auf dem Sofa im Wohnzimmer aus. Man würde Israel demnächst von allen Seiten bombardieren, und alle waren überzeugt, wenn Golda am Ruder wäre statt dieses schwachen, stotternden Männleins Eshkol, dann wäre die ganze Sache schon seit Monaten erledigt. Edie dachte an ein Gedicht von T.S. Eliot, das sie im Englischunterricht durchgenommen hatte: Frauen kommen und gehen und schwätzen so / Daher von Michelangelo. Bei ihr zu Hause waren es Männer, die kamen und gingen, und immer schwätzten sie von Golda Meir.

Manchmal stritten ihre Eltern darüber, wie viel Geld sie für Israel spenden sollten.

Edie aß alles, was die Männer aßen, und noch mehr als sie. Rauchten die, aß Edie. Tranken die Kaffee, trank Edie Coca-Cola. Nachts aß sie die Reste. Das machte nichts, denn es kam ständig neues Essen ins Haus. Sie aß im Namen von Golda, die gerade vom Krebs genas. Sie aß zu Ehren von Israel. Sie aß, weil sie das liebend gern tat. Sie wusste, dass sie liebend gern aß, dass ihr Herz und ihre Seele satt waren, wenn sie satt war, nicht zuletzt, weil sie gehört hatte, wie Abraham, einer der älteren Freunde ihres Vaters, mit Naumann über sie sprach, dem blauäugigen, bleichen Trinker, der nur ein paar Jahre älter war als sie, ein junger Mann im Haus, den sie ansehen und mit dem sie sich aus der Nähe und ganz persönlich unterhalten konnte, falls sie sich dafür entschied, was bislang nicht der Fall gewesen war.

»Kräftige Knochen, meine Fresse. Das Mädchen isst einfach liebend gern«, das hatte Abraham gesagt.

Na und? Mehr hatte sie dazu nicht zu sagen. Auch wenn es ein bisschen wehgetan hatte, ihn so etwas sagen zu hören, hieß es doch, dass die beiden sie immerhin ansahen.

Als wesentlich jüngerer Mann hatte sich Abraham dem Dienst in der russischen Armee während des Krieges mit Japan entzogen, indem er sich beide Trommelfelle durchstach. Seitdem trug er Hörgeräte. Alle Freunde ihres Vaters achteten ihn für sein subversives Verhalten, denn sie alle hassten Russland (und manchmal Amerika) (liebten aber Israel), während Edie einfach nur fand, dass es die Tat eines Wahnsinnigen gewesen war. Taub zu sein für das restliche Leben? Sie konnte aufhören zu essen (vielleicht), aber er würde sein Gehör niemals zurückbekommen.

Naumanns Vater kannte Edies Vater seit ihrer gemeinsamen Kindheit in Kiew. Sehr eng waren sie nicht befreundet gewesen, aber ihr Vater konnte immer schwer Nein sagen, wenn er wieder einmal einen Bittbrief erhielt. Also übernachtete Naumann seit ein paar Monaten ab und zu auf dem Sofa im Wohnzimmer. Es hatte einen Überzug aus Plastik, und Edie begriff nicht, wie er darauf schlafen konnte, ohne herunterzurutschen. Abraham entschlummerte gewöhnlich senkrecht auf dem Ruhesessel im Keller sitzend. Dann hüllte Edies Mutter die beiden in Decken, die immer ordentlich zusammengefaltet dalagen, wenn Edie morgens auf dem Weg zur Schule nach unten gestolpert kam und die Männer bereits zu irgendeiner von Edies Vater aufgetanen Arbeit gegangen waren.

In der Highschool schnitt Edie erheblich besser ab als die meisten ihrer Klassenkameraden. Später sollte sie ihren Abschluss um ein Jahr vorziehen und dann innerhalb von drei Jahren die Northwestern University abschließen, die sie kostenlos besuchen würde, weil ihr Vater dort angestellt war, und zwar mit Auszeichnung, und dann sollte sie dort Jura studieren, und dort würde sie auch ihren ersten akademischen Rückschlag erleben, denn Edies Abschluss war am Ende nur durchschnittlich, vielleicht, weil ihre Klasse aus überdurchschnittlich intelligenten Menschen bestand, vielleicht, weil ihre Mutter im ersten Jahr des Jurastudiums erkrankte, vielleicht, weil ihr Vater im zweiten Jahr ihres Jurastudiums erkrankte, vielleicht, weil sie irgendwann mittendrin ihren zukünftigen Ehemann kennenlernen und sich verlieben sollte, und vielleicht auch, weil eine Frau nur ein gewisses Maß bewältigen kann, bis sie einfach zusammenbricht.

Doch seinerzeit war sie in Hochform, karamellfarbener Teint, funkelnde dunkle Augen, weiches, dunkles, lockiges Haar, das lang genug war, um es im Nacken zu einem losen Knoten zu binden, sodass sich winzige Strähnchen um Wangen und Kiefer kräuselten. Sie kam sich schlau und bemerkenswert vor und ging davon aus, dass sie auf der Welt alles erreichen konnte, dass zu diesem Zeitpunkt eigentlich niemand die Macht hatte, sie zu knechten, außer ihr selbst.

Die kräftige Edie Herzen.

»Stimmt schon, so ein kräftiges Mädchen hat was. Sogar ein richtig kräftiges«, sagte Abraham.

»Das wollte ich damit sagen«, sagte Naumann. Edie kannte nicht mal seinen Vornamen.

Naumann auf dem Sofa. Abraham im Keller. Ihre Eltern oben im Bett.

Edie hatte gerade erst angefangen, sich auf einen Flirt mit nächtlichem Essen einzulassen. Den ganzen Tag war es hin und her gegangen, von wegen Golda Meir und Israel. Ihr Vater hatte eine ganze Packung Pall Mall geraucht und nicht ans Essen gedacht. Wo er doch so dünn war. Es gab Reste. Es gab einen halben Laib Roggenbrot und so viele köstliche Sachen, die man zwischen zwei Scheiben Roggenbrot legen konnte. Und zwar im Kühlschrank, in der Küche, hinter dem Wohnzimmer.

Edie schlich auf Zehenspitzen nach unten, über Teppichboden, Fliesen, Linoleum. Kein Zigarettengestank konnte sie ablenken von ihrem Ziel. Sie sollte später immer an Zigaretten denken, wenn sie sich ans Essen machte. Die lebenslange Hassliebe zu einem Geruch.

Sie musste sich nicht einmal umdrehen und wusste doch, dass es Naumann war, der sich hinter ihr gerade eine angesteckt hatte und nun am Küchentisch saß. Edie durchschaute ihn schon, bevor er auch nur den Mund aufmachte. Sie hätte ihn seit Monaten berühren können. Sie hätte mit dem Finger über seine geschwollenen Lippen streichen können. Andere Mädchen taten so etwas ständig, das war gar nichts Besonderes. Ihre halbe Klasse hatte sich über Nacht in Hippies verwandelt. Ihre Eltern liebten einander noch, hielten beim Abendessen Händchen und gaben einander Gutenmorgen-, Gutenabend- und Gutenachtküsschen. Es war in Ordnung, einen anderen Menschen zu begehren, wenn es der richtige Mensch war. Doch sie hatte ihn begutachtet und durchfallen lassen.

Aber konnte Naumann das wissen? Er interessierte sich viel zu sehr dafür, sie zu begutachten, wie sich ihr Hintern anfühlen würde, wenn er die Backen mit den Händen zusammenquetschte, wie es wäre, sein Gesicht zwischen ihren Brüsten zu vergraben und sie gegen seine Wangen zu drücken. Wie es wäre, mit einem Mädchen zusammen zu sein, das er nicht bezahlen musste. Und er interessierte sich für Wodka. Für seine Arbeit interessierte er sich kaum.

Im Frühjahr zuvor hatte Edies Mutter jemanden damit beauftragt, die Büsche auf dem vorderen Rasen in ungewöhnliche Formen zu schneiden, und nun konnte Edie durch das seitliche Fenster eine dunkelgrüne Spirale im Mondlicht sehen. Krautsalat und Roastbeef zwischen zwei Scheiben Roggenbrot. Sie setzte sich zu Naumann an den Tisch und fing an zu essen. Er steckte sich noch eine Zigarette an. Sie kam sich unerschrocken vor.

So ein kräftiges Mädchen hatte schließlich was.

»Du bist immer so hungrig«, sagte Naumann und klang dabei bitter, aber hoffnungsvoll, so verloren, wie er in Amerika war, wo er auf einem Sofa mit Plastiküberzug schlief, ausnahmslos jede Nacht auf dem Boden im Wohnzimmer erwachte und froh sein konnte, dass zumindest ein Teppich seine Stürze dämpfte. »Immer steckst du dir was zu essen in den Mund.«

Sag es nicht, dachte Edie.

Edies Vater hatte Naumann eine Arbeit als Kloputzer an einer Highschool in Winnetka verschafft. So war er immerhin Hausmeister einer Highschool.

Edie biss noch einmal ab. Der Krautsalat war sahnig und sauer.

Naumann nahm einen tiefen, betrunkenen Zug und blies den Rauch dann durch die Nase hinaus.

Sie sah, dass er keine Selbstbeherrschung besaß. So wie sie in vielerlei Hinsicht auch. Sie hatte Mitgefühl. Aber trotzdem. Sag es nicht.

»Vielleicht brauchst du mal was anderes im Mund«, sagte er.

»Als ob ich jemanden vögeln würde, der für seinen Lebensunterhalt Toiletten putzt«, sagte sie.

»Du hättest deinen Spaß«, sagte er. »Hure.«

Edie aß ihr Sandwich auf – sie nahm sich Zeit, weil sie Hunger hatte und weil es sie satt machte und weil sie bei sich zu Hause war, in ihrer Küche, und weil sie eine Königin war und Frauen diese Welt mit eiserner Faust regieren konnten. Und als sie mit dem Sandwich fertig war, stieß sie einen gellenden Schrei aus, der sie in seiner Mädchenhaftigkeit selbst überraschte und ihre Mutter weckte und ihren Vater und den halben Block, worauf in lauter Schlafzimmern und Wohnzimmern das Licht anging, alle sich rührten, alle sich sorgten, alle außer Abraham, der den ganzen Krawall verschlief, weil er seine Hörgeräte für die Nacht abgelegt hatte. Edie empfand keinen Funken Reue. Was sie anging, war gar nichts Tragisches passiert.