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Inhalt

[Cover]

Titel

I

Ein namenloses, heftiges Sehnen …

In der Wohnung eilt Madeleine …

Gegen ihren Willen …

Der Lastwagen schluckt den roten …

Wie können die anderen nur schlafen …

Immer dicht an den Mauern …

Vor ihrer Abreise aus der Kaserne …

An den Sommertagen …

Sie bekommen Wasser …

Mach das Radio an, mein Sohn …

Sie haben Toulon befreit …

Kälte und Regen sind über sie …

Das kalte Licht der Morgenröte …

Mit den Augen folgt er einer …

Heute Nacht werden sie …

II

Während Jacob am 19. August …

Am 20. Januar 1945 …

Auf dem Rückweg von der …

Ende September, während des …

Drei Jahre nach Kriegsende …

Jacob verdankte sein Leben …

Im Herbst 1956 war Gabriel …

In der Stadt drangen die …

Das Wasser aber floss …

Autorenporträt

Übersetzerportrait

Über das Buch

Impressum

[Leseprobe – Petit-Louis]

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O ja, so war es, das Leben dieses Kindes war so gewesen, das Leben auf der armen Insel des Viertels war so gewesen, zusammengehalten durch die blanke Not in einer behinderten und unwissenden Familie, mit seinem brausenden jungen Blut, einem unersättlichen Lebenshunger, der ungestümen, gierigen Intelligenz, und während der ganzen Zeit ein Freudenrausch, der nur unterbrochen war von plötzlichen Schlägen, die eine unbekannte Welt ihm versetzte.

Albert Camus, Der erste Mensch

I

Ein namenloses, heftiges Sehnen hat ihn hierhergeführt, auf den Gipfel des schroffen Bergs, in den mit Vogelkot durchsetzten Staub, inmitten von Zedern und schwarzen Zypressen, an denen der Blick hängen bleibt, ein paar Sekunden festgehalten wird, bevor er frei ins sonnenbeschwerte Tal schweifen darf. Aus dieser Entfernung wirken die Wasserfälle reglos, Schaumschleier, die nur hingetupft wurden, um die Rinnen entlang der Schluchten zur Geltung zu bringen. Am Überhang der Felswände finden Kaktusfeigenhaine Platz, darüber ragt vollkommene Nacktheit: Dort wurde der Stein von einer geheimen Klinge eingeschnitten und stapelt sich in braunen Schichten. Noch eine Drehung des Kopfes, die Brücke rückt in den Blick. Als solider Bindestrich zwischen zwei Pylonen aus weißem Stein schwebend, lässt sie die Stadt wie eine Festung erscheinen, verbindet sie mit dem Krankenhaus und ein Stückchen weiter weg mit dem Bahnhof, Kriegerdenkmal und Friedhof.

Jacob sieht auf die Uhr, die er zu seinem dreizehnten Geburtstag bekommen hat. Eine Armbanduhr, die ihm mehr Lässigkeit verleiht als die Taschenuhren der Älteren, die sie zur Langsamkeit nötigen, sie müssen erst innehalten, um die Uhr hervorzuziehen, während ihm ein flüchtiger Blick genügt. Seit sechs Jahren verkünden die Zeiger ihm die Zeit, das Sekundenrad ärgert ihn und schlägt ihn in Bann, immerzu in Eile, beschleunigt es die Zeit, die Jacob so gern aufhalten würde, er träumt, oft, denkt an das erste Mal zurück, als er die Hängebrücke mit Abraham überquert hat, vielleicht war es gar nicht das erste Mal, aber es ist seine erste Erinnerung daran. Er war stehen geblieben, um hinunterzublicken, sein Bruder hatte ihn am Ärmel gezupft, los jetzt, das ist gefährlich, nicht rüberbeugen, aber er hatte die Anziehung des Abgrunds unter sich gespürt, winzig und erhaben beherrschte er die Stadt und die Schluchten, es war so berauschend, über allem zu stehen, für ihn, der sonst den Kopf heben musste, wenn er etwas anderes sehen wollte als Erwachsenenknie, Tischbeine und Schlammspritzer, die in den Straßen die Mauern besudelten; er hatte die Arme gereckt, um den Himmel zu berühren, die köstliche Angst entdeckt, die sich aller bemächtigte, sobald sie diese Brücke begingen, so außergewöhnlich war sie, dass ihre Bezeichnung gleich vier Namen erforderte: Hängebrücke, Sidi-M’Cid-Brücke, Rhumel-Brücke, Passerelle der Höhenangst.

Jacob erschauert, wendet sich vom Tal ab, das er nur zu betrachten brauchte, um es unter seinen Füßen zu spüren, überlegt, ob er den Abhang hinuntersausen oder gemächlich am Krankenhaus entlanggehen soll, bevor er zügig die Brücke beschreitet, dort eine Pause einlegt, die Zeit dehnt, jedes einzelne Stück Landschaft in sich aufnimmt, obwohl er weiß, dass er sie niemals ganz fassen kann. Er hat es bereits versucht, er mustert sie, schließt die Augen und versucht, sich an das zu erinnern, was er eingefangen hat, doch stets entgeht ihm ein Detail, außerdem ist die Landschaft nie die Gleiche, egal, wie man sie sieht, das Licht tönt die Steine mit immer neuen Farben, die von Silber bis Schwarz reichen, und an Tagen, an denen der wässrige Himmel sich gerade erst von einem Wolkenbruch erholt, benetzt Goldschimmer die Felsen.

Die Bilder, die sich vor seinem inneren Auge ballen, erfüllen ihn mit einer kaum auszuhaltenden Begeisterung, die weihevolle Schönheit des Ortes weitet ihm die Brust, er rennt über den metallenen Steg auf den östlichen Pylonen zu, ein Lastwagen rollt mit blechernem Geschepper vorbei und lässt Jacob ein zweites Mal erschauern, er geht hinab in die Stadt, mit regelmäßigen Schritten, die auf seine Atmung abgestimmt sind, die Wörter hämmern gegen seine Schläfen, wenn, die Ergebnisse, der Reifeprüfung, eintreffen, werde ich, schon, weg sein, die Ausbildung, so nennen sie das, Grundausbildung, mit achtzehn, wechselt man, von einer Ausbildung zur nächsten, aber sie haben nichts miteinander zu tun, nie wieder, werde ich dort, sitzen, und Monsieur Baumert lauschen, wenn er Hugo vorliest, Balzac, Flaubert, nie wieder, Latein, dominus, domine, dominum, domini, domino, domino, Latein, förmlich ein Spiel, eine Sprache, die sich Späße erlaubt, die meinen Vater verblüfft, meiner Mutter ein Lächeln entlockt, wozu ist Latein überhaupt gut, es bildet, es hilft, Französisch zu begreifen, anders gesagt, ist Latein die Lupe, mit der man, die Feinheiten der Sprache, erkennen kann, sagt Monsieur Baumert, es ist die Sonne, die Sprachsplitter, zum Funkeln bringt, damit drückt man die Welt, anders aus, als mit Arabisch, der Sprache meiner Mutter, der Sprache meines Vaters, als mit Französisch, der Sprache, die sich seit bald hundert Jahren, hier tummelt, die Sprache des Nordens, die beschlossen hat, sich mit der Sprache des Südens, zu mischen, diese vertrackten Konjugationen, Futur II, Subjonctif Imparfait, Zeiten, die kaum beherrscht werden von den Bewohnern der engen Gässchen im überbevölkerten jüdisch-arabischen Viertel, wo Jacob nun Frauen anrempelt, die zwischen zehn verschiedenen Stoffen schwanken, um einen Sessel neu zu beziehen, Verlobungskleider zu nähen, Vorhänge – Satin oder Baumwolle? einfarbig oder mit Goldstickerei? –, er rennt die ärmsten unter den Schustern um, deren Bude nur aus einem Koffer besteht, den sie auf einem Tisch aufgeklappt haben, das Werkzeug neben einem Berg von Absätzen aufgereiht, Schuhe reparieren sie schnell und für wenig Geld, ihre Rufe verhallen nach wenigen Metern, von Jutesäcken gedämpft, die kiloweise Gewürze enthalten, Paprika, Zimt, Kreuzkümmel, Piment, Kurkuma, Rosenpulver, Wiesenkümmel, Koriander, Nelken, Schwarzkümmel, getrocknete Minze, sie rufen den Hunger in Jacobs Magen wach, er schlängelt sich durch die Käufer hindurch, die langsam aus den Juwelierläden treten, einen Juwelier sucht man nicht einmal auf, sondern fünf- oder sechsmal, wägt ab, denkt nach, ist das Schmuckstück, das es zu verschenken gilt, zu schwer oder nicht schwer genug? zeugt es von übermäßigem, neiderweckendem Reichtum oder von Geiz? Unterwegs reißt Jacob Gesprächsfetzen mit, die ihn die Qual der angehenden Käufer erahnen lassen, im Laufschritt durchquert er die Rue de France, die Hauptstraße des Viertels, stolz auf ihren Monoprix und ihre Galeries Parisiennes, erreicht die abschüssige Rue du 26e de Ligne und geht bis zur Nr. 15, wo Lucette, die auf der Terrasse gegenüber Wäsche aufhängt, etwas wittert, eine Luftbewegung, einen Schatten, der von Mauer zu Mauer huscht wie Peter Pan, sie beugt sich gerade noch rechtzeitig über die Brüstung, um Jacob durch die Haustür schlüpfen zu sehen, am liebsten würde sie seine Gestalt in ihrer Pupille bannen, die graue Hose und das weiße Hemd, das dichte Haar, über das sie so gern streichen möchte, um es zu glätten und wieder zu verwuscheln, den Nacken, den sie küssen möchte, auch Lucette träumt, oft, während Jacob die Treppe hinaufstürzt, im zweiten Stock die Tür aufreißt und über seine Schwägerin Madeleine stolpert, die gleich daneben Geschirr in die Anrichte räumt, Teller krachen, der größte zerspringt am Boden in tausend Stücke, ein anderer kreiselt auf die Küche zu, kommt an einer Kachelrille fast zum Stehen, wackelt und kippt schließlich um, Madeleine betrachtet die Tonscherben, ihr Kinn zittert, sie legt beide Hände an ihren Bauch, wo zwei Herzen schlagen, in Panik geraten wegen dieser Spannung, die sich in ihrer wohnlichen Höhle ausbreitet, tut mir leid, sagt Jacob, verzeih, und er bückt sich, um die Scherben aufzulesen, nein, mein Sohn, das ist nicht deine Aufgabe, sagt Rachel, die herbeigeeilt ist, mit einem raschen Blick weist sie Madeleine an, den Schaden zu beheben, und zwar hopp, hopp, es ist halb acht, bald kommen die Männer nach Hause.

In einer Ecke spielen Madeleines kleine Töchter Fanny und Camille mit zwei Schnürsenkeln. Die Ältere legt Figuren, die Jüngere soll sie nachbilden. Kreis, Quadrat, Viereck, einen Kopf, ein Haus, eine Tanne, wie sie im Schulbuch dargestellt ist. Die Ältere ist ganz bei der Sache, die Jüngere lässt sich leichter ablenken, als der Teller zu Bruch ging, hat sie den Kopf gehoben, hat den allzu fiebrigen Glanz in den Augen ihrer Mutter gesehen, bevor sie den großen, schweren Körper beugte und sich die Handfläche an einem Tonsplitter aufschürfte, mit roten Bäckchen springt Camille auf, um ihr zu helfen, Madeleine sagt nein, du schneidest dich noch, lass mich nur machen, geh mit deiner Schwester spielen, aber Camille lässt nicht locker, mit den Großen ist es lustiger, spannender, als Fannys akkuraten Gesten zu folgen, mit ihren pummeligen Fingern greift sie nach den weißen ungleichen Scherben und stapelt sie auf die größte von allen, es sieht aus wie ein Gebilde mit Zuckerguss, sie widersteht der Versuchung, sich ein Stück in den Mund zu schieben und zu zerbeißen, der heiße, stockende Atem ihrer Mutter dringt ihr ins Ohr, sie traut sich nicht, in das angestrengte Gesicht zu blicken, wendet sich dem riesigen Bauch zu, wo zwei Babys wachsen, wie man ihr erklärt hat, Camille fragt sich, ob sie sich manchmal hauen, sich um den besten Platz prügeln. Wenn die Babys kommen, wird sie nicht mehr die Kleinste sein, man wird ihr nicht mehr sagen, schlag die Augen nieder, wenn du mit einem Erwachsenen sprichst, aber man wird es ihr doch sagen, denn sogar ihre Mutter schlägt die Augen nieder, wenn sie mit ihrem Mann oder Schwiegervater spricht, ihre Stimme bekommt dann raue Striemen, die Camille stutzen lassen und traurig machen. Komm, sagt Jacob, ich bringe dir das Fliegen bei, und er legt sich rücklings auf den Boden, winkelt die Beine an, um den Bauch der Kleinen aufzunehmen, die sacht auf seinen Knien einsinkt, packt sie an den Handgelenken und streckt jäh die Füße hoch, um Camille emporzuschleudern, er ruft, das Flugzeug hebt ab, und macht brumm-brumm, es fliegt, und gibt Pfeiftöne von sich, Achtung, jetzt kommt ein Sturm auf, und bewegt die Beine hin und her, um Camille zu schaukeln, die sich schier kaputtlacht. Rachel schürzt die Lippen, Jacob ist zu groß für diese Spiele, er ist gerade neunzehn geworden, aber so, wie er da im Wohnzimmer auf dem Kachelboden liegt, sieht er aus wie ein Bengel, gleich kriegt er einen Hexenschuss, dann kann er nicht zur Armee. Sie hält den Gedanken fest, der ihr soeben zugeflogen ist, löst ihn aus dem Strom aller anderen, nimmt ihn unter die Lupe. Ein Hexenschuss wäre im Grunde ideal. Jacob müsste nicht weggehen. Wer weiß, was sie drüben mit ihm anstellen, wohin sie ihn schicken, ein Hexenschuss, und er würde ausgemustert, wie Abraham damals, aus gesundheitlichen Gründen, die man ihnen nicht näher hatte erläutern wollen, Jacob würde hier bei ihr bleiben, ihr Jüngster, ihr Nesthäkchen, noch ein paar Jahre in ihrer wärmenden Obhut, bevor eine Frau sich ihn schnappt, die aber gut daran täte, ihn zu lieben, ihn zu verwöhnen, mehr, mehr, schreit Camille und merkt nicht, dass Fanny sie mit bitterem Blick mustert, die dichten Augenbrauen gerunzelt, auch sie möchte gern abheben, der Welt entfliehen und über Jacob schweben, der sich freut, wenn seine Nichte das Gesicht verzieht, um Angst vorzutäuschen oder wahres Glück auszustrahlen, der beschwingt ist, weil ihm unverhofft die Fähigkeit verliehen wird zu fliegen, mehr, mehr, schreit Camille aus voller Kehle, aber da bedeuten schwere Schritte im Treppenhaus den Frauen, dass sie sich beeilen sollten, und Jacob, dass er zu einer würdigeren Haltung zurückfinden muss, er führt eine Notlandung herbei und steht wieder auf, tut so, als suchte er etwas in seiner Hosentasche. Die Tür geht auf, Haïm und Abraham erscheinen. Beide mit dem gleichen kurzen braunen Haar, dem gleichen strengen Blick, dem gleichen stolz hochgezwirbelten Schnurrbart und trotzdem so verschieden: Der Vater ist beleibt, im Lauf der Jahre in die Breite gegangen wie ein Baumstamm, dreiundsechzig Fettschichten zeigen sein Alter an, der Raum wird kleiner, sobald er ihn betritt, und auch dunkler, während sein ältester Sohn schmächtig ist, die zarten Züge des rund Vierzigjährigen lassen eine mögliche, vorstellbare Schönheit erahnen, wären da nicht diese sorgenvolle Miene, die seine Züge verhärtet, und die tiefen Kerben in den Augenwinkeln. Die Männer kehren von der Schusterei in der Rue Richepanse zurück, es ist kein guter Tag gewesen, die Kunden, die infolge des Kriegs weniger Geld in der Tasche haben, suchen inzwischen lieber fliegende Schuster auf als zwei richtige Handwerker, die sich genug Zeit nehmen, um das Leder zu nähen, ohne es anzugreifen oder zu beschädigen, ein Glück, dass die Suppe fertig ist, der Duft von geschmortem Fleisch, Kreuzkümmel, Tomaten und Koriander sorgt dafür, dass sie sich ein wenig entspannen. Madeleine nimmt ihnen die Jacketts ab, beide bestehen darauf, selbst bei großer Hitze welche zu tragen, die Eleganz der kleinen Leute. Sie reicht ihnen eine Kanne und eine Schüssel, Haïm und Abraham waschen sich die Hände, setzen sich mit Jacob und Rachel zu Tisch, auf dicken Kissen sitzend warten die kleinen Mädchen auf ihre Schalen, gleich wird ihre Mutter neben ihnen Platz nehmen. Madeleine weiß, dass sie den Männern die erste Schicht servieren muss, am oberen Topfrand ist die Brühe fettiger, schmackhafter, sie gibt jedem noch ein Stück Fleisch dazu, das vierte ist für Rachel bestimmt, Madeleine und ihre Kinder werden sich mit klarer Brühe begnügen, mit etwas Glück findet sich am Topfboden ein winziges Fleischbröckchen, das könnte sie für Gabriel beiseitelegen, ihren großen Jungen, aber wo ist denn Gabriel, fragt Haïm mit seiner donnernden Stimme.

Sämtliche Blicke richten sich auf Madeleine. Sie schüttelt den Kopf und starrt den Topf an, als hoffte sie, darin zu ertrinken. Abraham schlägt mit der Faust auf den Tisch und stößt eine Verwünschung hervor, die Gabriel betrifft und zugleich die Scham und Mutterschaft seiner Frau beleidigt. Röte steigt Madeleine in die Wangen, in die Stirn, niemals hat ihr Vater so mit ihrer Mutter gesprochen, erst recht nicht vor Dritten, und der Gedanke an ihre Eltern, der Vater tot, die Mutter Hunderte von Kilometern entfernt, schnürt ihr die Kehle zu, seit zehn Jahren schon kennt sie dieses Gefühl von Anspannung, sie nennt es ouahch, denn sie weiß nicht, wie man die Traurigkeit ungestillter Sehnsucht auf Französisch bezeichnet.

Rachel jammert, ya rabbi sidi, wo steckt der Junge nur wieder? Kaum acht Jahre alt und schon ein Strolch, der sich sonst wo herumtreibt. Jacob sagt, er habe Gabriel zu seinem Schulkameraden Maurice gehen sehen, um Hausaufgaben zu machen. Er lügt. Das Schuljahr neigt sich dem Ende zu, die Lehrer vergeben keine Hausaufgaben mehr, die beiden Schuster stören sich aber nicht daran, für sie bleibt die Schule eine undurchschaubare Welt voller Rätsel, sie wissen lediglich, dass die Lehrer über Bildung verfügen und damit über eine Art von Überlegenheit, sie reden schnell, verwenden unverständliche Wörter und tragen die Maske selbstsicherer Menschen zur Schau, sie können sich erlauben zu lächeln, die Ruhe zu bewahren, die Macht ist auf ihrer Seite, Fannys Lehrerin hat beschlossen, dass die Kleine sitzenbleiben soll, und das wegen einiger Fettflecken in einem Buch aus der Schulbibliothek. Camille wollte unbedingt darin blättern, nachdem sie Kuchen gegessen hatte, vor lauter Eile, die Bilder zu betrachten, hatte sie sich nicht die Hände gewaschen. Als Madeleine davon Wind bekam, versuchte sie vergeblich, die Flecken abzuwischen, kippte Salz auf die verschmutzten Seiten, hielt das aufgeschlagene Buch über den Herd, half alles nichts, Fanny muss nun die Klasse wiederholen, obwohl sie so gute Noten hat, obwohl sie so pflichtbewusst und fügsam ist, im scharfen Gegensatz zu Gabriels Aufmüpfigkeit, Abraham und Haïm seufzen. Sie wollen in Ruhe essen, die Wärme der Suppe genießen, den Tabak, den sie gleich zu dicken braunen Zigaretten drehen werden, vielleicht auch den Pflaumenschnaps, den ihnen ein Kunde der Vorkriegszeit aus seiner französischen Heimat mitgebracht hat, in einer hohen Flasche, so schmal wie ein Schwanenhals, geheiligt, weil sie aus fernen Gefilden stammt. Haïm holt sie zweimal im Jahr aus der Anrichte, zum jüdischen Neujahrsfest und wenn sich eine besondere Gelegenheit ergibt, so wie heute Abend Jacobs Einzug in die Armee, aber diese perfekte Abfolge – Suppe, Tabak, Alkohol – wird jetzt durch Gabriels Fehlen unterbrochen, einer von ihnen muss den Bengel wohl oder übel holen gehen. Jacob steht auf, Rachel protestiert, morgen reist du ab, gönn dir eine letzte warme Mahlzeit, wer weiß, was man dir dort zu essen gibt, außerdem habe ich für den Nachtisch Pfirsiche gekauft, schöne teure saftige Pfirsiche, die Verdauung darf man nicht einfach mittendrin unterbrechen, du wirst schlecht schlafen, aber Jacob weist sie liebevoll ab und macht sich auf die Suche nach Gabriel, seinem Neffen, der dem Alter nach sein Bruder sein könnte. Zu Frühlingsbeginn hat Jacob ihm am Badeteich von Sidi M’Cid beigebracht, wie man Kieselsteine übers Wasser hüpfen lässt. Wozu soll das gut sein?, wollte Gabriel wissen. Zu nichts, antwortete Jacob, aber wenn du den Stein lange genug in der Hand hältst, wenn du ihn fest umschließt und die beiden glatten Flächen in dein Fleisch dringen spürst, dann wird er fast zu einem Teil von dir, und wenn er dann übers Wasser hüpft, ist es so, als hättest du diese besondere Fähigkeit, du weißt doch, was die Katholiken sagen, dass Jesus übers Wasser wandelte, komisch, nicht wahr, und dann suchte Gabriel unverzüglich die schönsten Kiesel zusammen. Die ersten gingen kläglich unter. Macht nichts, beim nächsten Mal schaffst du’s, sagte Jacob, niemandem gelingt es auf Anhieb, aber Gabriel warf weiterhin seine Kiesel, weigerte sich aufzugeben, konzentrierte die ganze Willenskraft eines Achtjährigen in seinem Blick und in seinen Armen. Er wollte erleben, was Jacob ihm erzählt hatte, er wollte übers Wasser wandeln, und beim dreißigsten, vielleicht fünfzigsten Versuch gelang es ihm, der Stein wurde zum springenden Frosch, durchlöcherte viermal die glatte Wasseroberfläche, bravo, rief Jacob, eine Meisterleistung, und ein stolzes Lächeln ließ Gabriels Gesicht erstrahlen.