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Inhalt

[Cover]

Titel

Widmung

Am Himmel

Bellevue

Rohrerwiese

Gspöttgraben

Agnesbründl

Am Himmel

Dank

Quellen

Autorenporträt

Über das Buch

Impressum

[Leseprobe – Kein Platz mehr]

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für Lucia

Am Himmel

Was will denn der Hüttler da!«, rief Sothen durch das offene Fenster, »Was will der Hüttler da!« Eduard am Vorplatz. Sothen wandte sich wieder der Prüfung von Rechnungen zu. »Wie krieg ich den nur los«, versuchte er nicht aufzublicken. Eduard verharrte, starrte. »Sitzt da, als wär nichts«, dachte er, die eine Hand am Riemen. »Alles ist besprochen!«, reichte es Sothen. »Als wär nichts«, dachte Eduard. Sothen sprang auf, schritt Richtung Vorzimmer. Es zuckte in Eduards Gesicht. Sothen riss die Tür auf. Eduard nahm das Gewehr von der Schulter. »Aber Hüttler, du wirst doch nicht!« Sothen stolperte in die Kanzlei zurück. Eduard folgte mit dem Gewehr. Sothen stürzte durch das Vorzimmer, sein Herz schlug wie wild. »Ins Büro, ins Büro«, er warf die Tür zu, es schepperte. Durch die Milchglasscheibe Sothens Umriss. Eduard drückte ab. Dann ging er in den Hof, lehnte sich an die Mauer beim Türeingang, sein Herz wie wild.

Sothen krümmte sich, es fröstelte ihn, »Hilfe!«, er versuchte sich aufzurichten, er fiel ins Vorzimmer, schleppte sich zur nächsten Tür, Schweißperlen waren auf der Stirn, »Hilfe!«, er schaffte es, sich ein weiteres Mal aufzurichten, »Wasser!«, trat hinaus in den Hof, schwankte einige Schritte auf die Wirtschaftsküche schräg gegenüber zu. Eduard lehnte noch immer an der Wand, der Lederriemen hing in den Staub. Er sah Sothen zu, sah Blutstropfen in den Staub fallen, »als wär nichts«. Er atmete ein und aus, nach Hause hatte er gehen wollen. Sothen brach in den Armen einer Kuhmagd, die unter der Tür herausgekommen war, zusammen. Eduard sah Marie den schweren Körper kaum halten können, er atmete ein und aus – und schoss Sothen in den Rücken. Sothen sackte zusammen, sank der Kuhmagd aus den Armen auf den Boden. Sie hob fassungslos den Kopf, erkannte Eduard an der Wand, die Augen kreuzten sich, er ging.

Aus der Küche und den übrigen Meiereigebäuden kamen Dienstleute gelaufen. »Einen Arzt!«, schrie Marie, »einen Arzt für den Sothen!« Radda, der Ziegeldecker, stieg schon auf ein Pferd. Man bückte sich nach Sothen. »Der Hüttler«, schüttelte Marie ungläubig den Kopf, »Vielleicht zwölf Schritte von hier hat er auf ihn gefeuert!« »Sie völlig unverletzt«, die Wäscherin zur Scheuermagd. Bald hatte sich das gesamte Gesinde um Sothen und Marie versammelt, nur Berta bewegte sich nicht vom Fleck, starrte im Taubenschlag mit einer Handvoll Körner in den Hof. »Die Frau Sothen müsst auf dem Weg zurück sein von der Stadt –«, hörte sie, und Zeisel, der Tischler, saß bereits im Sattel und drückte die Sporen in den Pferdeleib. Die Nachricht, die er überbringen musste, konnte er selbst noch nicht fassen.

Jetzt rannte Eduard. Er rannte Richtung Wald, seinen Wald, stolperte, rappelte sich wieder auf, rannte weiter, stolperte über die nächste Wurzel, riss sich die Hose auf, er kam erneut auf die Beine, er lief schneller, bei einer Quelle sank er Atem ringend ins Moos. Er hob das klare Wasser in überkreuzten Händen an den Mund. Er starrte auf die Hand, die abgedrückt hatte. Eduard trank schnell, sprang auf, lief weiter durch das Unterholz, den Ästen ausweichend. Zwei eingedrückte Moosstellen blieben zurück. An einem Dornengestrüpp schürfte sich Eduard den Handrücken auf. Ein Tier da hinten. Weiter, weiter. Eduard war im eigenen Revier der Gejagte. Im Wald hing die Dämmerung. Die Baumwipfel ragten über ihn in den Himmel. Eduard lief und lief. Vor ihm tauchte die Lichtung auf. Ein Hase hob im Zwielicht den Kopf, um ihn herum das junigrüne Gras, fast bläulich. Ein weiterer in der Nähe der Baumstämme, die Eduard noch letzte Woche gefällt hatte. Auch seine Löffel aufgestellt, die Nase in den Wind gehalten. Eduard am Rand der Lichtung. Die Hasen suchten schon mit schnellen Sprüngen Deckung, ihre Blumen verschwanden. Eduard lief an seinem alten Leben vorbei, verschwand wie es im Dickicht. Die Hasen drückten sich in ihre Sasse, legten die Ohren an. »Was will denn der Hüttler da!«, hörte Eduard. Es wurde immer dunkler. Eduard schlug einen Haken. Ein Ast traf ihn im Gesicht, Blutstropfen traten aus dem Striemen, leuchteten wie die Tieraugen im Unterholz auf der Wange. Er rannte weiter. Er musste, musste ans Licht.

Fanni hatte sich den Nachmittag über in der Vorstadt aufgehalten und war schon in der Kutsche auf dem Weg zurück von der Holzstätte, als sie den Tischler Zeisel vom Gut auf sich zureiten sah. Fanni schaute am Kutschbock vorbei, runzelte die Stirn. Die Hufen wirbelten Staub auf, die Haltung des Tischlers – jetzt erkannte sie den Ausdruck auf seinem Gesicht, es durchfuhr sie: Furchtbares war geschehen. Sie spürte ein Zittern. »Auf Herrn Sothen ist gefeuert worden«, hörte Fanni schon Zeisel rufen, und da änderte das Zittern seine Art, es blockierte ihre Atemwege. »Der Hüttler«, hörte sie. Der Kutscher schnalzte mit seiner Zunge, die Peitschenhiebe gingen auf den Pferderücken nieder, der Tischler ritt vor, Fanni nach Atem ringend, das Zittern selbst war stumm.

Schneller, schneller – sie fuhren die Himmelstraße hinauf, das satte Grün des Juniwaldes, das sie noch am Nachmittag bei ihrer Fahrt hinunter zur Holzstätte als kühlend genossen hatte, hatte plötzlich etwas Ausschließendes. Obwohl es ihr Grund war. Als würde sie jetzt, im Dämmerlicht, genau sehen, was sie schon immer verfolgt hatte: wie sehr sich Hüttler breitgemacht hatte. Fanni hielt ein Taschentuch in der zitternden Hand. Sie war mittendrin, und gleichzeitig ausgesperrt. Der Meierhof kam in Sichtweite. Der Kutscher zog an den Zügeln, der Hals des Pferdes wurde leicht zurückgebogen. Fanni, die schon aufgestanden war, hätte fast das Gleichgewicht verloren. Sie stieg dabei auf ihr Taschentuch, das vom Schoß gerutscht war. »Brr!« – Dort lag er, mit seinem Gesicht zur Seite. Als Fanni vom Trittbrett des Ausstieges seinen Körper hilflos auf dem Boden liegen sah, kam auch in ihr etwas zum Stürzen. Für einen Moment Mann und Frau im Staub. Schnell eilte die Wirtschafterin Elisabeth zu Fanni, tätschelte ihre Wangen, brachte Wasser, nach dem gerade noch Sothen gerufen hatte. Der Kutscher kühlte unterdessen den Pferdekörper ab. Die Wirtschafterin Elisabeth befeuchtete Fannis Stirn, redete auf sie ein. Tropfen hingen in der schwarzen Mähne, landeten auf den Nüstern. Das Pferd war erfrischt. Fanni öffnete ihre Augen, blickte in die der Wirtschafterin, raffte sich auf, wankte einen Schritt – und bemerkte die Blutlache. Im erneuten Wegsinken sah sie den Schweif des Pferdes zucken. Die Fliegen saßen auf Sothen. Sie war mittendrin, und gleichzeitig ausgesperrt.

»Ich melde, dass ich soeben den Baron Sothen erschossen habe.« Der Polizeibeamte hob den Kopf. »Ich melde, dass ich soeben den Baron Sothen erschossen habe«, sagte Eduard, sagte es ins Licht. Der Polizist sah auf die aufgeschürfte Hand, die gestikulierte, auf die andere, die zu einer Faust geschlossen war, blickte in das gerötete Gesicht mit dem Striemen und dann auf die Jägerhose, die am Knie eingerissen war. »Ich mache ergebenst die Anzeige«, sagte Eduard, nannte seinen vollen Namen, seinen Beruf. Doch der Polizist glaubte ein Schwanken zu bemerken: »Herr Hüttler, setzen Sie sich«, erwiderte er also ruhig. Eduard sah ihn mit glasigen Augen an. »Haben Sie getrunken?«, fragte der Polizist die Stirn runzelnd. »Ich melde, dass ich soeben den Baron Sothen erschossen habe«, wiederholte Eduard. Der Polizist blickte wieder auf die Faust, die eingerissene Hose, den Striemen. Er konnte daraus schnell eine Geschichte knüpfen, die kein Mord war. Aber es war das erhitzte Gesicht – gefroren war etwas darin. Der Mann, der vor ihm stand, hatte Blut gesehen, wusste der Polizist plötzlich. Blut, das er als Jäger normalerweise nicht sah. Und als hätte Eduard im Blick seines Gegenübers bemerkt, dass er ihm jetzt das Schreckliche zutraute, öffnete sich sein Mund und er sagte: »Ich hab mir nicht anders zu helfen gewusst.« Und nach einer kurzen Pause wieder: »Ich hab mir nicht anders zu helfen gewusst«, als ob das das Schreckliche wäre. »Ist der Baron tot?«, fragte der Polizist. Eduard sah den Polizisten an, ohne zu antworten. Der Polizist wiederholte seine Frage. Eduard sagte nur: »Beim Greißler, dort ist mein Gewehr, der Greißler, gehen Sie dorthin«, und es wirkte wie ein Zuschaufeln der Frage des Polizisten. Der Polizist stand auf. »Meine Kinder«, sagte da Eduard und das Gefrorene schmolz jetzt, »meine Kinder, in der Jagdtasche, die beim Greißler, hab ich was für sie gesammelt –« »Herr Hüttler«, unterbrach ihn der Polizist, »wir müssen Sie auf das Kommissariat nach Döbling bringen.« »Das wollt ich den Kindern am Abend hinlegen, einen besonders schönen –«, sagte Eduard, dann brach er ab, starrte auf den Bauch des fülligen Polizisten, der aufgestanden war, als könnte er dort sehen, wie er jetzt in die Hütte kam, einen besonders schönen Tannenzapfen in der Hand. Der Polizist war um den Tisch herumgekommen. Willenlos streckte Eduard die Arme entgegen, öffnete auch die Faust. Dabei hörte er einen Zapfen auf den Boden fallen. Den Zapfen, der in der Jagdtasche beim Greißler lag.

Während Fanni wieder zu sich kam, wurde der bewusstlose Sothen auf die Kutsche gehoben. Unter ihm Fannis Taschentuch, das niemand beachtet hatte. Fanni wurde in die Kutsche geholfen, sie kniete sich neben Sothen hin. Vorsichtig brachte man ihn ins Schloss. Obwohl es nicht mehr als hundert Schritte von der Meierei entfernt war, schien es Fanni unerreichbar, sie hielt sich an seiner Hand fest, als ob sie es wäre, die auf dem Weg verloren gehen könnte. »Schaffen das«, flüsterte sie, blickte auf die blutdurchtränkte Kleidung, drückte die Hand ihres Mannes fester. »Wir haben alles geschafft.« Berta raus aus dem Taubenschlag, der Kutsche nach.

Im Schloss angekommen hievte man Sothen von der Kutsche, trug seinen Körper behutsam die Stufen empor. »Hinauf ins Zimmer!«, rief Fanni von hinten. Sie blieb den letzten Moment der Hoffnung stehen – nahm dann zwei Stufen, als könne sie sich verspäten, als hätte die Hoffnung sie aufgehalten: Fanni sah, wie sie Sothen auf den Boden beim Eingang legten. Sie fiel neben den massigen Körper auf die Knie. Er verlor noch Blut. Sie näherte sich seinem Gesicht, griff nach seiner Hand. Die Blutlache berührte jetzt die Schuhspitzen einer Witwe.

Berta rannte zur Hütte auf der Rohrerwiese. Juliane blickte aus dem Fenster, den Löffel wollte sie gerade auf den Tisch legen, als sie sah, völlig erstaunt, dass Berta, die sich näherte, unverhüllt war. Juliane schlüpfte sogleich aus der Hütte, den Holzlöffel noch in der Hand. »Die Kinder sind am Einschlafen«, sagte sie zu Berta, die ganz außer Atem war; dass sie schleierlos war, schien ihr gar nicht bewusst zu sein. »Ist was passiert?«, fragte Juliane, ihre Stimme bereits alarmiert. Da sagte Berta: »Sothen ist erschossen worden«, und Juliane fiel der Holzlöffel aus der Hand. »Der Eduard kommt gleich«, sagte Juliane, bückte sich, »hat noch einmal in den Wald geschaut«, ihre Stimme zitterte dabei. »Der Eduard«, antwortete Berta. »Im Wald«, bestand Juliane darauf, als ob sie mit dem Löffel zurück in ihrer Hand weiter im alten Leben aufdecken könnte. »Weggelaufen ist er danach«, sagte Berta. Juliane starrte auf den Löffel. »Der Eduard«, sagte Juliane, »kommt –«, dann versagte die Stimme, so wie die Wirklichkeit.

Sothen wurde die goldumrandete Brille vorsichtig abgesetzt, die Bügel wurden zusammengelegt – so, wie es Sothen jeden Abend vor dem Schlafengehen selbst machte. Man gab Fanni Sothens Brille und sie umfasste sie, als hätte ihr gerade Sothen diese gegeben, um sie auf das Nachtkästchen zu legen. Tränen fielen auf die Gläser der Brille in ihrer Hand.

Tränen fielen auf das Holz des Löffels in Julianes Hand. Berta lief bereits zurück, wurde dabei von einer Kutsche überholt. Sie erkannte darin den Arzt von Grinzing, er strahlte etwas Gemütliches aus, selbst jetzt, als die Ahnung eines Todesfalles in seinem Gesicht lag. Die Kutsche bog von der Himmelstraße in die Schlosseinfahrt ein.

Trotz der Ahnung war der Arzt betroffen, als er nur mehr Sothens Tod bestätigten konnte; und das Gemütliche, nun gepaart mit Betroffenheit, hatte etwas Entstelltes, als ob der Tod auch auf die Lebenden zugriffe.

Eine zweite Kutsche fuhr an Berta vorbei. Am Schloss wurde unterdessen ein Tuch über den Toten ausgebreitet. Ein Bauschen vor dem langsam In-sich-Zusammenfallen. Fanni glitt dabei aus dem einen Schuh, stellte ihren bestrumpften Fuß auf den Marmorboden und glitt aus dem zweiten Schuh. So stand sie, nur in Strümpfen, vor dem Eingang. Ihre zwei Schuhe benetzt vom Blut.

Fannis Bruder stieg aus der inzwischen eingetroffenen Droschke. Der Arzt kam ihm schon entgegen, teilte mit, was offensichtlich war, der Bruder nickte, als wäre die Nachricht eines Todes selbstverständlich. Er ging sodann auf die Schwester zu, bemerkte dabei das Unpassende ihrer Strümpfe, umarmte sie, die kaum auf ihn reagierte, und machte dann über dem abgedeckten Körper rasch ein Kreuzzeichen. Darauf ordnete er an, die Schwester möge hinauf in ihre Gemächer geführt werden. Er wollte schon die nächsten notwendigen Verfügungen treffen, aber Fanni schüttelte heftig den Kopf, als der Arzt auf sie zutrat. Er wollte sie behutsam am Arm nehmen, seine Hand wurde von Fanni abgewehrt. Der Arzt redete nun leise Fanni zu, doch sie weigerte sich, den Leichnam Sothens zu verlassen. Der Bruder griff ein, er nahm die Schwester barsch an der Hand, sagte: »Du kommst jetzt mit!«, in seiner Stimme die Entschiedenheit des Kreuzzeichens. Er führte sie ins Haus, die Brille hielt Fanni dabei in ihrer Hand umklammert, schritt in ihren Strümpfen. Der Arzt kam ihnen nach. Etwas am Bruder, dem Herrn Gemeinderat, missfiel ihm. Auch wenn sich die Schwester ihm zu fügen schien, lag eine Demütigung darin. »Das Herrische scheint in der Familie zu liegen«, dachte der Arzt bei sich und ging die Treppe hinter ihnen hinauf.

Berta kam zum Schloss. Als sie Fannis Schuhe neben dem zugedeckten Körper stehen sah, hätte sie am liebsten ihre Schuhe dazugestellt. Damit eine Ordnung, irgendeine, wiederhergestellt war. Sie starrte in Richtung des zugedeckten Körpers auf dem oberen Treppenabsatz. Da erst fiel ihr auf, dass sie den Schleier vergessen hatte. Sie musste ihn im Taubenschlag gelassen haben, als sie ihn wegen der Hitze abgenommen hatte und gleich darauf von den Schüssen aufgeschreckt worden war. Sie drehte sich um und rannte zur Meierei, strich sich im Laufen die Tränen aus dem Gesicht, die sich nicht mehr zurückhalten ließen. Während der Ziegeldecker Radda, der den Arzt geholt hatte, sein Pferd versorgte und der ebenfalls losgerittene Tischler Zeisel das Taschentuch mit der blutbefleckten Spitzenborte vom Kutschenboden aufhob und einsteckte.

Juliane ging erst in die Hütte zurück, als sie sicher war, dass auch die älteren Kinder schon eingeschlafen waren. Sie sank auf die Bettkante, starrte vom Löffel in der Hand zur Schüssel auf dem Tisch, und dann zum Haken, an den Eduard immer sein Gewehr hängte.

Fanni war auf ihr Zimmer gebracht worden. »Versuche dich zu beruhigen«, sagte der Bruder. »Ich kümmere mich um alles.« Fanni saß kerzengerade auf ihrem Bett: »Beruhigen«, sagte sie, hielt die Brille in der Hand. Der Arzt, der nachgekommen war, legte sie sanft zurück, bettete den Kopf auf große Kissen, nahm auf einem Polstersessel in einer Ecke Platz. »Wer hat das angerichtet?«, wandte sich der Bruder leise an ihn. »Ein Hüttler«, erwiderte der Arzt. »Hüttler?«, fragte der Bruder. Da kam es vom Bett: »Der Jäger«, und es klang wie erbrochen. Und als könnte sie im Liegen daran ersticken, richtete sich Fanni abrupt auf.

In diesem Moment klopfte es leise an der Tür. Die Gerichtskommission sei eingetroffen, wurde mit gedämpfter Stimme mitgeteilt. Während der Bruder hinunter ging, um diese zu empfangen, wischte sich Fanni über den Mund, blieb aufrecht sitzen und starrte auf die Standuhr gegenüber: »Einen Mörder zu sich geholt«, sagte Fanni, als wäre das eine Zeit.

Kurz darauf klopfte es wieder, der Bruder trat im Gefolge der Gerichtskommission ein. Es stellten sich ein Oberkommissar, ein Revierinspektor, ein Offizial und ein Polizeibezirksarzt vor, sie alle stellten sich mit Namen vor, Fanni merkte sich keinen einzigen. Sie sah stattdessen, wie sich das Rot ausbreitete, sich das Tuch an den Körper legte. Zu Mittag waren sie noch so erleichtert gewesen, endlich hatte er sich durchgerungen gehabt, sie hatten Wein vom Winzer Hengl getrunken, Fleisch mit Genuss verzehrt. Jetzt wünschte ihr die fleischige Hand des Inspektors Beileid. Die Herren stellten vorsichtig ein paar Fragen. Fanni antwortete nicht. Der Arzt schlug vor, die Befragung auf die nächsten Tage zu verschieben. Unterdessen hörte Fanni den Polizeibezirksarzt zu ihrem Bruder sagen: »Verletzte Arterien, Schulterblatt und Lunge – Man wird noch heute Abend eine Obduktion der Leiche veranlassen, die Ergebnisse werden dann Genaueres sagen.« Fannis Mund öffnete sich darauf, doch es kam nur ein jämmerlicher Laut heraus. »Polizeibezirksärzte!«, dachte der Arzt. Fanni öffnete wieder ihren Mund, jetzt ertönte ein Schrei. Die Anwesenden sahen sich betroffen an. Der Arzt bemühte sich, Fanni zu beruhigen. »Keiner greift meinen Mann an!«, hatte sie zu den Worten zurückgefunden: »Raus!« Ihr Gesicht bekam rote Flecken. Der Arzt sprach in sanftem Ton von erforderlichen Maßnahmen. »Nein!«, schrie Fanni. »Raus!« »Wenn du diesen Hüttler am Strang sehen willst«, sagte da der Bruder unwirsch, »sei augenblicklich still!« Fanni verstummte darauf tatsächlich. »Verletzte Arterien«, dachte sie. Der Bruder wischte sich mit einem Tuch über die Stirn. Das Gefühl der Peinlichkeit löste bei ihm Ärger aus, er herrschte den Hausarzt an, er solle seiner Schwester endlich etwas zur Beruhigung verabreichen. Dieser öffnete schon seine Tasche, versicherte, er werde auch die Nacht über im Schloss bleiben. »Schon neun«, sagte darauf der Revierinspektor, Befragungen am Gut zum Tatbestand seien noch notwendig, man wolle nicht die Zeit des Gesindes strapazieren. »Hier muss niemand geschont werden«, erwiderte der Bruder, »außer meiner Schwester.« Die Gerichtskommission empfahl sich. Der Bruder bedeutete den Herren, er werde gleich nachkommen. Der Arzt hielt Fanni noch immer den Löffel hin, sie wehrte weiter ab. »Schone dich!«, sagte der Bruder, als wäre sie nur krank und niemand gestorben, und verließ den Raum. Statt die Medizin einzunehmen, setzte sie sich die Brille auf.

Berta betrat den Taubenschlag. Sie hob den Schleier auf, der auf den Boden gefallen war und beutelte ihn aus. Sie musste an das Tuch denken, das über Sothen gelegt worden war. Als kleines Kind hatte es Berta geliebt, wenn ein Leinen über sie ausgebreitet wurde, als ob sie damals schon geahnt hatte, dass das Verbergen ihre Bestimmung sei. Heute war sie schleierlos gewesen, und heute war er zugedeckt worden. Sie zog sich rasch wieder den Schleier über, griff in den Eimer nach dem Taubenfutter, konnte durch das Rieseln der Körner Sothens Stimme hören: »Die Orientierung ist gestört«; sah durch den Vorhang der herunterfallenden Körner ein Kind im Taubenschlag auf eine gesund gepflegte Taube vergeblich warten. »Die Orientierung ist gestört«, hörte Berta erneut Sothens Stimme durch das rieselnde Geräusch der Körner, und als würden keine Jahrzehnte dazwischen liegen, sah sie jetzt Sothen vor sich – blutüberströmt. Die Hand war regungslos ausgestreckt, als wäre das die Orientierung.

In der Küche der Meierei das Gesinde. »In meine Arme ist er gestürzt!«, die Kuhmagd Marie noch immer unter dem Eindruck der Ereignisse. Der Tischler Zeisel sagte: »So eine Nachricht überbringen müssen«, dachte: »Was macht da schon ein Spitzentaschentuch aus.« »Die armen Kinder und die arme Paschinger!«, schüttelte Josepha, die Wäscherin, den Kopf. »Der Spieß hat mir erzählt«, kam die Wirtschafterin Elisabeth wichtigtuerisch herein, »dass er den Hüttler noch kurz davor im Hof getroffen hat, aus der Gutskanzlei ist er mit seinen Aufträgen gekommen, ganz freundlich gegrüßt hätt der Hüttler ihn. Das hat sich der Verwalter nicht gedacht, dass er da an einem Mörder vorbeigeht. Und der Winzer Hengl erzählt herum«, auch das wusste die Wirtschafterin, »dass der Hüttler durch die Weingärten gelaufen sei, ›Wo rennst denn hin?‹, hätt der Hengl ihm zugerufen, der Hüttler hätt zurückgerufen, entsetzt und zugleich fröhlich – ja, so hat der Hengl es gesagt – ›Du, Hengl, wenn mich Leut verfolgen sollten, ich hab den Baron Sothen erschossen.‹ Und weiter gelaufen sei er, querfeldein, runter zum alten Greißler. Von dem hört man, Hüttler sei ins Geschäft, das Gewehr und die Jagdtasche hätt er hinter den Tresen geworfen und weitergelaufen auf die Wachstube sei er«, die Wirtschafterin Elisabeth schöpfte kurz Atem, bevor sie fortfuhr: »Und der Wirt von der Wildgrube erzählt, dass der Hüttler heut schon beim Betreten ausgeschaut hat, als wollt er raufen, er hätt dann aber ruhig ein Glas bestellt, es geleert und dann noch eins bestellt, mit niemanden hätt er reden wollen, die Stirn in Falten gelegt, hätt er mit düsterem Blick das zweite ausgetrunken, dann sei er gegangen. Na, und wenig später ist er in die Meierei«, und sie schauderte: »Der Hüttler dort an der Mauer des Kanzleigebäudes!« »Die arme Paschinger und ihre Kinder!«, schüttelte Josepha darauf bloß abermals den Kopf. Der Ziegeldecker Radda wandte sich an sie: »Ich hab die Berta runter zur Hütte laufen gesehen.« »Ganz allein steht nun die Paschinger da, eine Katastrophe ist das«, Josepha voller Sorge. »Als hätt es nicht gereicht – !« Die Wirtschafterin Elisabeth laut zu Marie: »Seine Brille hat sie aufgesetzt.« »Wie ich den Hüttler dort weggehen sehen hab«, sagte die Scheuermagd Else, »ich sag euch: Das war, als ob seine Augäpfel schwitzen täten.«

Fanni hörte das Knirschen der Pferdehufen auf dem Kies. Über die Himmelstraße wurde er jetzt auf dem Wagen weggebracht, um dann am nächsten Tag in sein Schloss zurückgebracht zu werden. Das Dazwischen war ihr unerträglich: verletzte Arterien weiter zu verletzen. Der Arzt, der auf dem Sessel in der Ecke des Raumes wachte, hörte auch die Kutsche losfahren und bemerkte die Bewegung in Fannis Gesicht. Er war froh, dass der Bruder nicht im Zimmer war, so hatte die Erschütterung Platz. Abschirmen solle er Fanni, hatte der Auftrag des Bruders gelautet, als er noch einmal kurz im Zimmer aufgetaucht war. »Das mit der Brille«, hatte der Bruder gezischt, »hat sich schon herumgesprochen«, und dabei Fanni die Brille abgenommen, um zu unterstreichen, was er mit dem Abschirmen meinte. »Willst du unsere Familie zum Gespött machen?«, hatte er Fanni angeherrscht, die daraufhin sofort aufgehört hatte, sich dagegen zu wehren; dann hatte er den Raum verlassen. »Der Bruder selbst im Unglück ein Gemeinderat«, hatte der Arzt gedacht und für einen Moment Fannis brillenloses Gesicht als Wunde empfunden.

Je weiter sich die Kutsche entfernte, desto hilfloser war Fannis Gesichtsausdruck. Der Arzt kannte genau die Schritte, die man bald an Sothens Körper ausführen würde. Als hätte Fanni seine Gedanken gelesen, fragte sie ihn jetzt vom Bett aus, was man mit ihrem Mann machen werde. Der Arzt antwortete, man bringe ihn morgen zurück. Doch was davor mit ihrem Mann geschehe, wollte Fanni wissen. Man werde die exakte Todesursache herausfinden, sagte der Arzt, fügte hastig hinzu, wie wichtig das sei. Man solle sie hinbringen, sagte sie da, sie wolle dabei sein. Der Arzt sagte, das wolle sie bestimmt nicht und dachte: »Aber ich wäre gern dabei.«

I

Sie befand sich wieder im Gang, nahm dieses Mal die Treppe hinunter. Einen Moment stand sie im Eingangsbereich, bog aber in den Salon. Sie ging mit ihrer Öllampe weiter ins Esszimmer, wo sie über die elfenbeinernen Serviettenringe auf der Kredenz strich. Ein Geschenk zur Hochzeit waren sie gewesen und noch immer so wie vor Jahrzehnten. Und dort das Salzgefäß, nach all den Jahren intakt – plötzlich war ihr der Anblick unerträglich. Sie lief zurück in den Eingangsbereich und weil sie Sothen im Unbeschädigten nicht finden konnte, öffnete sie die Haustür. Dort fiel sie auf die Knie.

Berta glaubte ein Geräusch vom Gang zu hören, sah vor sich Fannis Schuhe, auf und ab, auf und ab.

»Verwahren«, dachte Juliane, die schlafenden Kinder neben sich, das hatten die Polizisten gesagt: Eduard würde diese Nacht in Döbling verwahrt sein, morgen zum Landesgericht überstellt werden.

Der Arzt schreckte hoch: Fanni lag nicht mehr in ihrem Bett. Nur kurz konnte er eingenickt sein, sie hatte es abgewartet, dachte er und er dachte es mit Unmut, als ob der Bruder auf ihn abgefärbt hätte. Er fand sie dann schnell und schämte sich sogleich dafür. Sie kniete noch immer. Als er sie ansprach, hob sie ganz langsam den Kopf, ihre Augen beschädigt.

Wieder sah Berta Fannis Schuhe, auf und ab, auf und ab.

Der Gerichtsarzt rieb sich die Augen und begann zu diktieren: »An der rechten und linken Achsel, in der linken Rücken- und Lendengegend sind zusammen über achtzig Wundstellen festzustellen, durch welche die Schrotkörner (eine Patrone bis zu sechzig Schrotkörner) durchgedrungen sind. Von den an diesen Stellen eingedrungenen Schrotkörnern durchbohrten mehrere die rechte Lunge, andere die linke Lunge, den Herzbeutel, das Zwerchfell und die Milz. Fast alle inneren Brustorgane sind somit verletzt. In die Brusthöhle sind aus den zahlreichen Wunden viereinhalb Liter frisches Blut eingetreten. Obgleich Sothen kein gesunder Mensch war, vielmehr an verschiedenen Krankheiten litt, ist sein Tod einzig und allein die notwendige Folge der ihm zugefügten Verletzungen. Keine ärztliche Hilfe hätte den Tod abwenden können. Der Tod musste unabwendbar in Folge innerer Verblutung eintreten.«

»Wann hat er den Entschluss gefasst?«, dachte Juliane und drehte den Kopf zu den Kindern. »Dass wir was finden, hat er mich noch in der Früh beruhigt!« Am Abend war sie dann zwar überrascht gewesen, dass er noch einmal weg müsse. Aber er hatte es ganz unaufgeregt gesagt. Die Jagdflinte hatte sie ihn erneut umhängen gesehen, so wie immer, wenn er aus dem Haus ging. »Hat er da schon den Entschluss gefasst und gesagt: ›Wärm mir das Essen auf‹ – ?«

Keine Geräusche kamen mehr von draußen; trotzdem konnte Berta nicht schlafen. Sothen war tot, Eduard ein Mörder. Könnte man alles wie Schuhe ausziehen.

Nun im Gesindehaus die müden und dennoch schlaflosen Gutsarbeiter. Josepha murmelte: »Der Sothen raubt uns jetzt sogar den Schlaf.«

Berta griff an ihren Hals: Das Silberkettchen von ihm. Eine Halskette könnte man ausziehen.

Fanni, zurück im Bett, auf Sothens Seite. Mit offenen Augen auf seiner Seite.

»Wärm mir das Essen auf.« Die Schüssel mit dem wieder kalt gewordenen Essen auf dem Tisch. Immer wieder würde Juliane Eduard das Essen aufwärmen. Mit offenen Augen auf seiner Seite.

Eduard bekam kein Auge mehr zu.

Nur Sothen ruhte.