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Inhalt

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Titel

Zitat

Oktober

Das bunte Café

Wann soll denn die Änderung eintreten?

Aber gestern, wie war das gestern?

In Berlin

Zirkus! Kapelle, und von beiden Seiten laufen die Pferde ein, schwarz, weiß und braun.

Im Spiegel

Irina Liebmann – Die Gegenwart als Erzählzeit

Autorenporträt

Über das Buch

Impressum

[Leseprobe – Kollwitz 66]

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Für meine Eltern

OKTOBER

Tritt ein. Wiener Walzer trudelt aus Lautsprechern. Die erste Stewardeß riecht nach Kaffee und sagt Grüß Gott. Zu zweit zerren sie an der Tür, bis die fest genug zu ist, und jemand schaltet den Walzer aus. Die Greisin neben dir greift wiederholt ans Fenster, wo Rasen vorbeifliegt, klopft mit den Fingern ans Glas, winken, wird sie sagen, mein Wien, und dann den Mund schließen, weil du die Augen zugeklappt hast. Im Dunkeln denkst du, daß ihr jetzt im weißen Rauschen seid und bald im Eisernen Vorhang, man sieht nichts mehr hinter den Fenstern, die Stadt Wien hat es nie gegeben, keine Sonne drauf, keinen Zug, der dort ankam, pünktlich um zwölf, und um zwölf wieder abfuhr, mit einem Mann, der dir fehlen wird, in drei Sekunden war der ganze Zug zu einem Punkt verkleinert und ausgelöscht aus dem Bild, danach hattest du zwei Hände frei, für die sind Taschen eingenäht in deine lange Hose, zwei Taschen braucht der Mensch oder zwei Lehnen an so einem Flugzeugsessel, Push steht dann unter jeder Hand, wenn du sie so brav rauflegst, es gibt was zu essen, die Frau am Fenster hat sich Kaffee bestellt und nickt dir zu, wenn du die Augen aufmachst, will wissen, ob du auch weiterfährst von Schönefeld nach Westberlin, nein, das wird dir leid tun, tut mir leid, das findet sie schade. Schade. Zu weiteren Gesprächen wird es nicht kommen, denn schon habt ihr ein Fahrstuhlgefühl nach unten, dunkel wirds, in Wolken werdet ihr fallen, die Schachteln, die ihr gleich sehen werdet, kennst du gut, den schwarzen Fluß, den schwarzen Wald, jetzt sinkt ihr ohne Aufenthalt in einen dunklen Himmel, tritt ein. Schon kippen sie euch auf Beton, eure Beutel müßt ihr selber tragen, die Beute, zu den Durchgängen, in die eine Person sich geradezu reinzwängen muß, es hängen Spiegel darüber, auf Knopfdruck wird ein Türchen aufspringen, so ein kleines, massives Stahltürchen sitzt dann locker, aufklappen mußt du es selber, das ist die Grenze. Eintreten.

Da geht die Liebmann mit Koffer und Plastikbeutel zur S-Bahn, unten im Tunnel ist eine Schiefertafel aufgebockt, Kreideschrift. Soll tot sein, der Abschnitt, dafür fährt ein Bus, eiskalt, junge Männer in Lederjacken drin, alle mit Gehörschaden, so laut, wie die reden, einer rülpst für alle zusammen, die lachen, lachen beim Rausklettern, Hochhopsen, die Stufen vom Bahnhof Grünau, wo die S-Bahn wieder fahren soll, hoch zum Perron, ein einsamer Leutnant steht da, ist gleich darauf nicht mehr zu sehen in einer Wolke von Menschen, die aus der Bahn steigen, die gerade herangefahren war. War so leise, die Bahn, so laut ist es jetzt, Brüllen, Pfeifen, einer singt, zwei: Gehnse weiter, gehnse weiter, Sie sind ja nur Gefreiter, allgemeine Heiterkeit hier oben, der Gefreite grinst, paar Minuten lang hört man es vor dem Bahnhof noch weitersingen, dann ist Ruhe.

Ruhiger Sonnabendnachmittag. Die Liebmann steht auf dem Bahnsteig, der Gefreite auch, die nächste S-Bahn fährt ein und fährt weiter, die beiden sind eingestiegen, es sitzt noch ein Ehepaar im Waggon, zeigt sich die vorbeifahrenden Bäume, haben alle noch Laub drauf, so ein schöner Herbst isses gewesen, kann man nicht mekkern.

Bahnhof Ostkreuz drängeln viele herein, bringen kalte Luft mit und Blumengeruch, Winterastern, frisch aus den Gärten, ein Berliner muß einen Garten haben, sonst kommt er nicht über die Runden, historisch, das war ein Fehler, daß sie die Gärten abgeräumt haben, denkt die Liebmann, Tausende müssen es gewesen sein, ewig ist sie als Kind an Gärten vorbeigefahren mit der Bahn, endlos Lauben im Schnee und Gartenzäune bis zum Horizont.

Schönhauser Allee wieder alle raus, nur der Gefreite sitzt immer noch drin, zwei Bankreihen weg von der Liebmann, säubert sich die Fingernägel. Am Bahnhof Pankow sind die Laternen schon angezündet, sparsame Bühnenbeleuchtung, rötlich, rötlich zwei Männer an der Currywurstbude da drüben, eine Straßenbahn quietscht, Stehenbleiben, ruft eine Männerstimme hinter ihr – Bleibste stehen, du! – und jetzt hat die Liebmann noch einen halben Kilometer zu laufen und drei Stockwerke hochzusteigen.

Das Kind, das ihr öffnen wird, wird ihr blasser, strenger, greller geschminkt und lackiert vorkommen als vor vier Wochen, es wird sagen: So spät, und: Koch dir deinen Kaffee selber, den Pullover nicht schön finden, den die Liebmann mitgebracht hat, irgendwann wird es zu weinen anfangen und schlafen gehen.

Wer in diesem Haus schläft, schläft im rechten Winkel einer Hausecke nahe der Straßenbahn über einem Hof voller Katzen. Bei geöffnetem Fenster hört er Tiergeschrei und das Quietschen von Metall auf Metall, in Abständen füllen die Krachlawinen der Flugzeuge im Anflug auf Tegel das Zimmer. Andere Geräusche der Nacht kommen von Sirenen, Lastwagen, aneinanderknallenden Waggons auf dem Rangierbahnhof, Gesang.

Traum von zwei Tieren, die rennen oder fliegen.

Nur zwei Schultern erkannt, pelzig.

Im Geruch der eigenen Höhle die Kaffeemaschine aufs Gas setzen, duschen, Zähne putzen, Geschirr auf den Tisch stellen, runder Tisch mit Blümchendecke, hat nur eine Mark gekostet im Altwarenhandel, und keine Musik, Musik wolln wir nicht, nur frische Brötchen, die vorher im Froster lagen, die Mutter hat die gebacken, die gestern wieder abgefahren ist, mittags, weil abends die Züge zu voll sind, seit Oktober wird wieder geheizt, alles ist angewärmt in der Wohnung, man könnte auch nackt frühstücken, und draußen ist es immer noch nicht hell.

Die Liebmann sucht was zum Anziehen, wundert sich über ihr eigenes Zimmer, so ein riesiger Raum voll stiller Luft und paar braunen Möbeln, zwei Asternsträuße, einer gelb, einer rot, dunkelblau der Himmel vor den Fenstern. Hat also Blumen gekauft, das Kind. Sitzt zwei Straßen weiter in der Schule im Neonlicht, nur seine Katze hebt hier den Kopf, schlägt den Schwanz um das Hinterteil, wartet. Die Liebmann hat wieder was mit zwei Taschen angezogen, Hände reingesteckt, so guckt sie sich ihre Wohnung an. Süden ist da, wo die Straßenbahn quietscht, markiert durch den Kirchturm, die Richtung Wien, Marienbad. Das Streckennetz der Reichsbahn im Kursbuch hat sie schon nachgeschlagen und dann im Nachthemd am Fenster gestanden und zum Kirchturm geguckt.

Wunderbar langsam wird es heller, größer das Zimmer, die Wände weißer, jemand spielt Klavier.

Die Liebmann sucht in den Taschen ihres Kindes nach Zigaretten, findet welche, nimmt sich eine, setzt sich an den Tisch, raucht und sieht zu, wie die letzte Dunkelheit vergeht. Den hatte sie auch vergessen, den Tisch. Sind ein paar Katzenhaare drauf und von den Sträußen der gelbe, in einem Glas, in dem die Stengel den Boden nicht ganz erreichen. Luftblasen dran, kleines Aquarium, wakkelt, wenn die nächste PANAM über Pankow fliegt. Je blasser das Blau vor den Fenstern wird, um so deutlicher kann man Windstöße erkennen, es regnet.

An diesem Tag bleibt die Liebmann zu Hause. Sie hantiert mit Lappen und Geräten in der Wohnung herum und denkt sich bei allen Gegenständen, die sie berührt, daß sie sie hierlassen wird, liegen lassen, dem Schicksal überlassen, das Gegenstände eben haben. Zehn Jahre ist sie Stammgast im Altwarenhandel, wie es den Sachen ergeht, das weiß sie, und dem Papier noch viel schlimmer, noch liegts im Regal, unterm Tisch auch ein Haufen, es sind ganze Häuser im Grunde, auf Papier übertragen, die Einwohner von hundert Jahren, aus alten Adreßbüchern rausgesucht, die Namen, Berufe, die Jahreszahlen, Haus für Haus einer Straße – Karteikarten, Aktenauszüge, Papier, Krakel drauf, aus denen man auch noch entziffern könnte, was Leute der Liebmann erzählt haben, sind gestorben, inzwischen, die Leute, haben sich aus dem Staub gemacht, und jetzt will die Liebmann das auch, sich davonmachen, das ist ihr zu schwer, weiterschleppen, das Ganze, vielleicht geht es der Seele im Körper auch so, wenn der zusammenkracht. Bloß weg hier, denkt so eine Seele, raus hier, denkt die Liebmann und steht schließlich in der allerschönsten Ordnung in ihrer Wohnung herum, setzt sich ein bißchen an den Küchentisch, Sonne scheint in den Schrank mit dem Porzellan. Hat sie sich schon mal in einer Wohnung so wohl gefühlt wie in dieser hier, nein, hat sie nicht, nur hier ist es schön, hier will sie bleiben, also doch sterben, wenn sterben nicht das von vorhin ist, daß die Seele den Körper verläßt, irgendwie bin ich durcheinander, denkt die Liebmann, ich koch’ mir noch einen Kaffee, und dann geh ich raus an die Luft.

Schminkt sich also, klemmt sich Ohrringe an mit geschliffenen Glassteinen und setzt die Füße aufs Pflaster, einen vor den anderen, ist alles ruhig draußen, alles wie immer, weitergehn, wohin eigentlich, einen Freund besuchen wir nach vier Wochen, einen, der immer alleine ist bei seiner Arbeit, im Keller, in Mitte, Berlin, einen Freund.

Alle Bleche und Scheiben der Straßenbahn scheppern am Ohr, wenn sie so Platz nimmt, am Fenster lehnt. Kann sein, daß das schön ist, gefällt, dieser Krach in der dröhnenden Karre, draußen Schleiflinien überall, Staub, Lastwagen ohne Farben, Reklamen, die uns begleiten, auch mal niedrige Autos dazwischen, Frauen am Steuer, langer Halt an der Wand Bahnhof Dimitroffstraße, Sandsteinquader verdunkeln die Straßenbahnfenster links, rechts die Kreuzung, Menschen gehn rüber, Kuttengrün, Lodengrün, Polizeigrün, Polizeiblau, Anorakblau, Wattejackenblau, Jeansblau bis Grau bis Schmutzfarbe Blau, wenn sie Fahrt kriegt, die Bahn, in der schleifenden Kurve, erhöht sich das Klappern zum Heulen manchmal, quietscht rechts rum, rein die Kastanienallee, wo es enger wird, dunkler, Putz platzt wie Rinde an den Fassaden, blüht, und an diesen Borken ebenso wie an den Einschußlöchern halten sich Dreckbatzen von vierzig Jahren, von fünfzig, von sechzig, das Trottoir wellt sich, Pflaster wechselt mit Pfützen und Erde, dicht an den Kellerfenstern wächst manchmal auch Gras, krachend und quietschend, die Klapperkiste fährt weiter, rechts, immer rechts, Invalidenberg runter. Irgendwann, wenn in den Querstraßen schon ab und zu ziemlich weit oben ein Kirchturm zu sehn ist, vergoldet, mit einer Kugel ganz oben, vergoldet, erscheint und verschwindet, steigt sie aus, in den Häuserreihen der Innenstadt, grau verputzt, nachgedunkelt, aber richtig schwarz nicht, schwarz wird es erst in der Erinnerung, soweit war sie gestern, soweit ist sie heute noch nicht, heute, jetzt, ist sie erst am Rosenthaler Platz, am Eichentor, an der Löwenklinke, im Hausflur und dann auf dem Hof, wo Licht brennt hinter einem Kellerfenster. Daran klopft sie und rennt in den Hausflur zurück, es klappern die Absätze auf den Fliesen, die Kellertür öffnet sich, kommt ein Mensch heraus, warm und die Haut am Hals weich, sie umarmen sich auf der Kellertreppe, und noch solange sie die Steintreppe runtersteigt, scheint der Männerrücken im Arbeitshemd der Liebmann warm zu sein, wärmend.

Höhle da unten, Lichtkegel von zwei Arbeitslampen. Im Schatten dahinter steht der Freund, steht krumm, zieht sich bessere Hosen an, ziemlich im Dunkeln, trotzdem kann sie die Tätowierungen auf seinen Beinen sehen – ein Frauengesicht und zwei Namen. Auf diese Weise trägt er auch ein Schwert unterm Hemd, umsonst hat er den blauen Punkt nicht im Gesicht, der Freund, der sich umzieht und dabei redet, denn es war wieder einer im Westen von seinen Bekannten, und danach ist es immer dasselbe, der Mann will weg, dabei will er gar nicht. Wie im Märchen. Das soll die Liebmann erklären. Ja, sagt die, wie im Märchen, und trinkt an dem Kaffee, den er ihr aufgebrüht hat, wärmt sich die Hände an dieser Tasse, kein Henkel, guckt in der Werkstatt herum. Es ist alles wie immer, die Schränke noch da, die der Freund repariert, das Kofferradio, Musik, sendet irgendein Echo am Mittag, die Drehbank, die Töpfe mit Leim, die Gasmaske an der Decke, die Ölbilder an der Wand, auf dem größten wächst eine Frau aus einem Blumentopf und verwelkt, hat das Gesicht seiner Freundin, hängt schon lange hier, ein Bild in der Verbannung, denkt sie, Verbannung, jetzt gehn sie was essen, die Liebmann und dieser Freund, der Möbelpolierer, nun in besseren Hosen, im Mantel, an dem sie sich festhält, draußen, weil es windig ist oder naß oder was.

Demnächst in diesem Theater wird es weiterregnen, denkt die Liebmann, ob wir nun dabei sind oder nicht, was gibts da noch zu besprechen, für diese Fälle verkaufen sie Bier und Hackepeterbrötchen am Rosenthaler Platz, von jedem zwei, dann ists vorbei mit den trüben Gedanken, jedenfalls will man das hoffen, denn auch Schweinefleisch ist nicht in unbegrenzter Menge vorhanden und muß reichen für alle.

Schöne Ohrringe hast du.

Gleich zieht die Liebmann einen runter und legt ihn dem Freund in eine Hand, und der tippt mit schwärzlichem Zeigefinger auf den größten der geschliffenen Steine, viereckig, blau, will wissen, ob sie jetzt wieder öfter kommt, ja, sagt sie, sieht dabei raus auf die Straße, wo eine Metallstange steht, eine gelbe Stange mit dem Schild HALTESTELLE, daneben ein Stuhl und noch andere Möbel. Es hat sich wohl jemand Küchenmöbel gekauft an der Ecke, im Altwarenhandel, steht alles im Regen, vergessen womöglich, jetzt stellt sich ein Mann vor das Fenster, streckt seine Zunge raus und beleckt den Rand eines Briefumschlages, klebt ihn zu, starrt dann rein in die Stube, will wissen, was hier gegessen wurde, während die beiden am Tisch sich gerade die Wörter »ausgeschlagene Augen« wiederholen. Ausgeschlagene Augen.

Die Skins haben Augen ausgeschlagen und sind auf Köpfen rumgetrampelt, marschieren ganz offen in Viererreihen, Polizei guckt zu, guckt zu, die Liebmann guckt weg, dann sieht sie den Freund plötzlich an – was will er ihr eigentlich sagen?

Aber der kneift die Augen zusammen, klimpert an den Glitzersteinen rum, sagt nichts mehr, der Freund, der pfeift vor sich hin, reißt sich los von dem Zeug, klemmt ihr mit beiden Händen den Clip an das Ohr, und dann gehen sie und trennen sich Kreuzung Ackerstraße bei Grün.

Laufen, sagt die Liebmann, sie will weiterlaufen, schwenkt links über die Wilhelm-Pieck-Straße, dann geradeaus bis zum Krankenhaus, Backsteinbau, rot. Gegenüber das Eckhaus steht da wie ein Schiff, spitze Ecke, die Scheiben geputzt, und jetzt ist die Kirche mit der Goldkugel schon sehr nahe, das schwarze Gitter, das hohe, sie läuft, läuft, freier Wille ist das nicht, nur Gewohnheit, so wohnlich ist es ihr hier mal gewesen, daß sie viel zu oft hier langgegangen ist, viel zu vielen versprochen hat, daß sie das schreibt, ein Buch über diese Straße, wie alt die ist, und was hier so nebeneinander steht, Kirche, Friedhof und Krankenhaus, jüdisch, preußisch, katholisch, gar nicht hochgucken, dann trifft man auch keinen, das klappt soweit, nur am bunten Café hebt sie schnell mal den Kopf, kann reinsehn, weil Licht drinnen brennt, sieht den Tischlerkopf, struppig, am Stammtisch, kann Eva erkennen, wie die ein Tablett durch die Zimmer trägt, ist also noch im Osten, die Eva, muß immer noch auf ihre Ausreise warten, sieht, wie dicht Leute vorne im Gang stehn, sind mal wieder alle zusammengeströmt aus Kirche und Krankenhaus, Turnhalle, nur vom Friedhof gegenüber dürfte keiner dabeisein, außer ich, denkt die Liebmann und fühlt sich wie ein Geist, der um die Ecken düst, gleich rechts rein die Oranienburger, aber da wechselt einer auf die andere Straßenseite, der sie nicht sehen will, dieser junge Mann, ist das Georg, kann der das sein, aber dem ist vielleicht bloß kalt am Kopf, wenn der Wind ihm die Haare so von der Rübe wegweht, da hält er sie eben schief, sehr schief, sehr komisch, denkt die Liebmann, denkt immer noch dran, wenn sie schon in der Straßenbahn sitzt und über die Weidendammer Brücke fährt, Blick auf den Bahnhof Friedrichstraße, ein Anblick, den sie vorige Woche in Wien diesem Mann geschenkt hat, als Foto. Gerade bei diesem Foto hat es Gong gemacht, Sehnsuchtsgong, vorige Woche, und jetzt kommt gar nichts.

Schwarz und verglast steht der Bahnhof da, über das Wasser gebaut, das schwarz ist, grau dagegen die Ufer aus Stein, das wars, kein Gefühl, nur, daß hier irgendwo marschiert wird, dieses Gefühl kommt ziemlich stark und geht nicht mehr weg, dabei sind die Straßen leer, nur ein Junge mit Kopfhörern sitzt ihr gegenüber, jetzt marschieren sie schon in meinem Kopf, denkt die Liebmann und dreht sich nach allen Seiten um, rechts und links leere Straßen im Regen, es marschiert, gleich müssen sie vorkommen, kommt keiner, und doch marschiert es, bum, bum, bum, ganz hier in der Nähe, aus dem Kopfhörer kommt das. Die Liebmann zieht Papier aus der Tasche und schreibt das auf, der Junge mit den Kopfhörern sieht ihr dabei zu, und das schreibt sie auch auf: Wir fahren mit Marschmusik in die Invalidenstraße ein.

Was kommt, sind ganze Tage, halbe Tage, November. Es ist wieder üblich, auf die Straße zu spucken, was zwei Beine hat, latscht durch, die Tauben langsamer als die Menschen, Krähen auch und Möwen selten, diese beiden Arten treffen sich an der Grenze, wo es schön ruhig ist, Erde bemoost, vermutlich auch bespuckt, und starren vor sich hin. Und das tun die Uniformträger in ihrem Blickfeld auch. Sie wechseln das Standbein und starren vor sich hin. Raus hier.

Mama. Eine Schattenfigur beugt sich über das Bett, der helle Fleck ist das Gesicht, beugt sich nah herunter über den Haufen Decken, was Lebendiges suchen, liegt beinah drauf auf dem weichen Huckel, aber kaum schiebt ein Arm sich darunter hervor, sitzt die kleine Figur schon wieder gerade, nur die Haare schwingen noch um den Hals. Mama. Du mußt doch unterschreiben.

Wenn ein zweiter Arm sich unter der Decke hervorschiebt und der Körper sich erhebt und geradezuhalten versucht, ist er wieder allein im Zimmer, nur die Glasscheibe in der Tür sieht gelb aus, also ist Licht im Flur. In der Küche sitzt die Tochter am Tisch, Verkleinerung einer Frau, Tasse in der Hand, Fingernägel rot wie die Lippen am Porzellan, die Augen darüber ungeschminkt, Augen, fast bis zu den Schläfen, so lang sind die Schlitze, reicht vollkommen aus, ein Blick, um die Richtung zu zeigen, in der ein Schulheft liegt, zwischen Brot und Radio, drei Seiten mit Zahlen bedeckt, was ist das, keine Antwort, doch: Scheiße, sagt das Kind im Vorbeigehn und beginnt, sich im Flur die Haare zu bürsten, Kopf nach unten, schlägt sie mit Schwung wieder hoch, der Körper im Nachthemd lehnt an der Wand und glaubt, seiner eigenen Mutter zuzusehn, ihrem geheimen Muster, Spangen im Haar zu versenken, denkt dabei, daß der Pullover aus Wien gut auf den kleinen Schultern liegt, paßt an den Handgelenken und, weil er grün ist, wiederum auch zu den roten Fingernägeln, mit denen jetzt noch Strähnen aus der Frisur gezogen werden und vor dem Gesicht verteilt, eine nach der anderen, mit der größten Anspannung, Mama.

Wie findest du das, sagt der verschlafene Körper, gestern ist Georg vor mir über die Straße gegangen und hat sich weggedreht, kann das sein? – Na klar, sagt der Mund vor dem Spiegel, aber ohne die Lippen dabei zu bewegen, Zombie. In dem Kopf überm Nachthemd faltet sich ein Bild auf, zwei Personen über Teller gebeugt, Georg und dieses Kind, essend, blond und schwarz die Haare, die jeweils über die Teller hängen und in Abständen zur Seite geschüttelt werden, jedesmal mit Blick auf den anderen. Der Blonde will danach gehen, spricht beim Überziehen seines Anoraks von Magenschmerzen oder so ähnlich. Warum Zombie? – Keine Antwort, bis die letzte Strähne fertig ist, die hängen bis zu den Lippen runter, mit Gelee versteift, zuletzt Metallringe in die Ohren, Gürtel um die Hüfte, Stiefel an, steht grade, der Mensch, gerader gehts nicht, tanzt los und singt dabei. Haa – haa, haa – haa, ein Gespenst, ein Gespenst, haa – ha, schaa – ba, haa – ha, schaa – ba! Jacke rüber, Tasche hoch, die Hand an der Türklinke, fällt ihr noch was ein: Sackratte!

Lachen im Treppenhaus, Trittgeräusche abwärts, aus. Eine Spur von Brotkrümeln zeigt die Plätze, an denen sie sich aufgehalten hat. Alles, was sie morgens benutzt, räumt sie weg, die Krümel nie.

Warum Zombie, denkt die Liebmann und kramt dabei in dem Froster nach der Plastiktüte mit den Brötchen.

Es ist wahr, einmal, vor langer Zeit, sieht sie Georg die Friedrichstraße langgehen wie einen von der Straßenbahn. Nur die vertreten sich so unpassend die Beine auf dem Pflaster, gleichgültig und in fremden Kleidern, grau, schlecht geschnitten, Dienstkleidung, Dienerkleidung. Wie er näher kommt und sie erkennt, geht er noch schlenkriger, sie faßt ihn am Anorak, fragt, ob er wirklich seine eigenen Kleider am Leibe trägt, und er wird böse. Du spinnst, sagt er.

Zombie. Die Liebmann kennt ihn seit 1984, aus der Friedrichstraße, aus dem Café Praha. Draußen fällt Schnee in Pfützen, drinnen vertrinken Rentner ihr Gnadenbrot, Regisseur Schröder, der arbeitslose, winkt und rückt ihr einen Stuhl zurecht – Neunzehnhundertvierundachtzig – wird hier im Vormittagslicht des Januar übers Kognakglas gesprochen, die bewußte Jahreszahl, Irina, flüstert der alte, Irina! bekippt sich die Finger mit Schnaps, wischt sie an der Hose ab, der besonders blasse Junge neben ihm kramt in der Hosentasche nach Kleingeld und sieht die Liebmann dabei an. Prost, sagt die, und er schlägt die Haare vor den Augen zurück. Damit ich dich besser sehen kann. O wie grau. Regenwolken. Und wenn er jetzt aus der anderen Tasche eine Zigarette zieht, in den Mund steckt und anzündet, ziehen wiederum Wolken daran vorbei. Ist aber schon aufgestanden, der Typ, hats eilig, läßt eine Handvoll Geldstücke auf der Tischdecke liegen, muß ins Theater. Zu diesem Zeitpunkt hat die Liebmann drei Theaterstücke geschrieben und niemandem gezeigt. Auch heute, November 1987, beim Kauen der aufgewärmten Brötchen, kann sie das Gefühl wieder herstellen, das Georg an dem Tag bei ihr hinterläßt, aber kein Wort dafür finden. Weiß und leicht irgendwie, dabei ist er doch rot geworden, als sie miteinander sprachen, rot, nicht weiß.

Zombie, oh, Zombie, sagt die Liebmann in ihrer Küche laut, ein Gespenst geht um in Europa, und denkt, Georg wäre durchaus zu vernachlässigen, wenn man wüßte, wie die Sache weitergeht.

Jetzt, wo sie rauswill, seit zwei Tagen. Raus hier.

Raus hier, denkt die Liebmann, wenn du rauswillst, mach dir einen Plan, wenn du weg willst, sind die Wege bekannt, und steht wieder vor diesem Regal voller Zettel und dem Haufen Papier unterm Tisch.

Kann sein, daß ihr einmal, als sie so davorstand, eingefallen ist, ein Theater zu gründen, mit Georg zusammen?

Auch da schon ans Abhauen gedacht, denkt die Liebmann und würde sich gerne verabschieden von der Mulage, der Straße im Schrank hier, so gerne begraben, wegschmeißen das Zeug, vom ersten Zettel an, den sie beschrieben hat, in einem Sommer, wo alle Türen offenstehen, Leute lächeln an Fenstern, Mauern strahlen Wärme ab, jeder Müllhaufen bietet noch Fotos an, und wenn sie eins aufhebt, ist ein Offizier drauf zu sehen, mit einer Frau im Arm oder bei einer Familienfeier mit mehreren Leuten oder alleine, meistens so was, und wenn sie den Hauseingang nicht gleich erkennen kann, vor dem die sich fotografieren ließen, dann nur, weil sie direkt davorsteht, Wiedersehn macht Freude. Die kann sie gleich wieder haben, liegt alles hier auf dem Haufen. Anzünden. Arbeiten. Abwaschen ist auch Arbeit, denkt die Liebmann und tut das.

Geht einkaufen, das erste Mal wieder im Osten, in der Halle riecht es nach faulen Kartoffeln, wie eingeschläfert stehen Menschen in Reihen hinter den Kassen, warten und schweigen im Kartoffelgestank.

An der Hauptstraße schrauben Männer Blechstreifen mit aufgeschweißten Glühlampenfassungen an jede zweite Laterne, Weihnachtsschmuck, einer muß immer die Leiter festhalten, schräger Regen fällt wie Nebel, es wird schon wieder dunkel. Raus hier.

Raus hier, denkt sie beim Pflastertreten, beim Treppensteigen, beim Kartoffelschälen, was machen wir bloß, was machen wir bloß, und nur mit der Tochter, die, den Kopf auf den Arm gestützt, ißt, und die Lehrer dabei Säue und Dreckschweine nennt, kann sie reden, kommt aber nicht weit. Wozu werden die Lehrer, sagt das Kind, wir wollen die Lehrer nicht verstehen, und wo es so etwas überhaupt gäbe. Sie lächelt und sagt: Klassenkampf, wie der Erfinder persönlich, hört nicht auf zu grinsen, wenn die Liebmann erklärt, wie das Wort zu verstehen ist, ja, genauso hätten sie es ihnen beigebracht, und genauso meint sie es auch. Immerhin ist die Morgenschminke runter von der Haut, sieben Stunden Neonlicht mit Gebrüll sind drübergegangen, übermüdet, denkt die Liebmann, übermüdet, und sagt: Meine Liebe. Wollen wir irgendwas Schönes machen?

Was denn, sagt das Kind.

Und statt nun mit einem Einfall rauszurücken, öffnet die Mutter den Mund eine Zeitlang nicht mehr und zuckt dann auch noch mit den Schultern. Zwei Stunden später geht die eine tanzen, die andere in das Café, an dem sie gestern so schnell vorbeilief.