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Inhalt

[Cover]

Titel

ERSTER TEIL 1932–1953

Woher? Wohin?

Früh übt sich

Wie es wirkt

Wenn’s kribbelt

Selber spielen

Paris, Paris

ZWEITER TEIL 1955–1959

Studenten machen Theater

Günter Grass

Schlacke

Das Modell Brecht

Wolfgang Hildesheimer I

Von Ubu zu Schau auf Deutschland

Vom Erlanger Sitz- und Hüpftheater

Das Jahr der glücklichen Zufälle I

Max Frisch, philologisch betrachtet

Das Jahr der glücklichen Zufälle II

DRITTER TEIL 1959–1969

Nachrichten aus dem Verlag I – Der Anfang

Dieter Waldmann

Nachrichten aus dem Verlag II – Die Lust auf Neues

Erwin Piscator und Hans Henny Jahnn

Nachrichten aus dem Verlag III – Gute Stimmung

Wolfgang Hildesheimer II

Max Frisch II

Der Brecht-Boykott

Nachrichten aus dem Verlag IV – Der Aufbruch

Blick aufs Drama 1962
oder Fünf Arten, der Wirklichkeit beizukommen

Peter Weiss I

Nachrichten aus dem Verlag V – Erste Schritte

Konrad Wünsche und Hans Günter Michelsen

Nachrichten aus dem Verlag VI – Mittendrin

Martin Walser

Heinar Kipphardt

Peter Weiss II

Buckwitz, Piscator und eine Theaterolympiade

Experimenta 1

Peter Handke I

Edward Bond

Experimenta 2

Mein TAT

Gerlind Reinshagen

Heiner Müller I

Marieluise Fleißer

Martin Sperr I

Bazon Brock

Hartmut Lange

Jochen Ziem

Achtundsechziger

Nachrichten aus dem Verlag VII – Eine Bilanz

Harald Mueller, Alf Poss und Thomas Bernhard

Walter Boehlich und Siegfried Unseld – Eine Gegenüberstellung

Nachrichten aus dem Verlag VIII – Der Aufstand der Lektoren

VIERTER TEIL 1969–1976

Wie der Verlag der Autoren entstanden ist

Nachrichten aus dem Verlag IX – Der Anfang

Die erste Premiere

Theater morgen und die Revolution der Mittel.
Ein utopischer Rückblick

Experimenta 3

Gerhard Rühm und Konrad Bayer

Peter Handke II

Botho Strauß I

Nachrichten aus dem Verlag X – Programme und Personen

Auch Hörspiele brauchen einen Verlag

Ohne Verlag geht bei Drehbüchern nichts

Experimenta 4

Wolfgang Wiens

Wer schreibt wie?

Polittheater: Renke Korn, Gerhard Kelling, Erasmus Schöfer, Erika Runge

Armand Gatti

Heinrich Henkel

Dieter Forte

Urs Widmer I

Hans Magnus Enzensberger

Martin Sperr II

Richard Hey

Rainer Werner Fassbinder I

Wolfgang Deichsel I

Heiner Müller II – Der Autor und seine Verlage

Botho Strauß II

Die Wirklichkeit und der Streit um den Realismus

Nachrichten aus dem Verlag XI – Fünf Jahre später

Harald Sommer und Helmut Eisendle

Yaak Karsunke

Karl Otto Mühl

Ursula Krechel

Gert Loschütz

Auch mal spielen: Peter Rühmkorf, Günter Herburger, Johannes Schenk, Peter Sattmann, Werner Simon Vogler

Altes revitalisieren

Kindertheater mit Grips

F.K. Waechter

Experimenta 5

MundArt

Rainer Werner Fassbinder II

Dario Fo

Fitzgerald Kusz

Jürgen Lodemann und Reinfried Keilich

Die Wüste lebt

Nachrichten aus dem Verlag XII – Veränderungen

Brief an die Autoren I

FÜNFTER TEIL 1976–1979

Jetzt im Theater

War da was?

Ein paar selbstverständliche Sätze zum Theater (1978)

Brief an die Autoren II

SECHSTER TEIL 1979–1989

Nachrichten aus dem Verlag XIII – Zurück

Botho Strauß III

Heiner Müller III – Varia

Wolfgang Deichsel II

Allerlei Vermischtes 1980

Friederike Roth

Gustav Ernst, Ludwig Fels und Klaus Pohl

Hansjörg Schneider

Bernd Schroeder und Elke Heidenreich

DIE AUTORENFILMER

Urs Widmer II

Horst Wolf Müller, Ernst-Jürgen Dreyer, Klaus Hoggenmüller, Stefan Dähnert

Versteller gesucht

Nachrichten aus dem Verlag XIV – Probleme und Personen

Rainer Werner Fassbinder IV

Theater-Autoren international

Kinder- und Jugendtheater-Autoren international

Botho Strauß IV

Experimenta 6

Blick zurück auf DDR-Autoren

SIEBTER TEIL 1989–2004

Kerstin Specht

Gert Jonke

Dea Loher

Wilfried Happel

Theresia Walser

Was ist aus dem Verlag geworden?

Nachrichten aus dem Verlag XV – Neue Personen, neue Projekte

Hirn- und Herzensbücher

Autoren am Ende des Jahrhunderts

Heiner Müller IV

Warum ich kein Stück von Botho Strauß inszeniere. Eine Fiktion

Experimenta 7

Brief an die Autoren III

Die Vertreibung des Autors aus dem Theater. Eine Brandrede

Simon Werle

Die Fünf, fünfzig Jahre später

Älter werden

Zukünftige Nachrichten aus dem Verlag XVI

Herzstück

NACHWORT

Quellen und Anmerkungen

REGISTER

Autorenporträt

Über das Buch

Impressum

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ERSTER TEIL 1932–1953

Woher? Wohin?

Der Vater Karl war ein evangelischer Kraftfahrzeugmechaniker aus Idstein im Hintertaunus, die Mutter Mathilde, geborene Schuhmacher, eine katholische Näherin aus dem nicht weit entfernten Camberg. Da eine Mischehe in beiden Kleinstädten heftig missbilligt wurde, zog das Paar nach Frankfurt, wo ich am 4. Juli 1932 in der Universitätsklinik geboren wurde. Zuerst wohnte die Familie in der Arbeitersiedlung Hellerhof, dann in der Niddastraße 68 im Bahnhofsviertel, wo der Vater in einer Hinterhofwerkstatt einen Gebrauchtwagenhandel aufzog. Karl Braun war ein tüchtiger und geselliger Geschäftsmann, die Firma wuchs und mit ihr auch die Familie. Im Laufe der Jahre bekam ich vier Brüder, die sich später alle dem Fahrzeughandel widmeten, Dieter, Norbert, Manfred und Erich. Heute betreiben sie mit der AVG Trucks GmbH einen der größten deutschen LKW-Fahrzeugmärkte.

Die Eltern waren eher unpolitisch, sie mochten die Nationalsozialisten nicht. Der Vater entging der Rekrutierung für die Wehrmacht, indem er sich mit seiner Firma zum Gütertransport nach La Rochelle am Atlantik absetzte. Die Mutter floh 1943 mit ihren fünf Söhnen vor der großen Bombardierung Frankfurts in das elterliche Geburtshaus nach Camberg. Von dort fuhr ich täglich mit der Bahn ins 21 km entfernte Limburger Gymnasium. Nach Kriegsende kam der Vater in einem russischen ZIS-Laster zurück, mit dem er sein Geschäft neu aufbaute. 1950 zog die Familie wieder nach Frankfurt, in eine wiederhergestellte Wohnung der Ruine Emserstraße 33, die sie in den folgenden Jahren gemeinsam wiederaufbaute. Für mich war das Goethe-Gymnasium nicht weit.

Früh übt sich

Mächtig stolz war ich, ein etwas schmächtiger gerade zehnjähriger Knirps, dass ich diese herrschaftliche Wohnung in der oberen Niddastraße entdeckt hatte: »Wohnung zu vermieten!« stand da auf einem Schild im Fenster. Wir wohnten damals in der unteren Niddastraße, wo sie auf die Hohenzollernstraße stieß (heute Düsseldorfer Straße), in einem düsteren Hinterhaus, unten hatte der Vater seine Werkstatt mit dem Gebrauchtwagenhandel: Auto-Braun. Die mit dem dritten Bruder hochschwangere Mutter suchte schon länger nach einer größeren Wohnung, – und ich fand sie, ein paar hundert Meter weiter am heute nicht mehr vorhandenen Niddaplätzchen, nahe der Gallusanlage. Eine klassizistische Stadtvilla, in der wir die erste Etage beziehen konnten: hohe, lichte Räume mit großen Flügeltüren. Der Vater schaffte für den Salon eine Garnitur ausladender Ledersessel an, die wir nach dem Krieg nirgendwo mehr unterbringen konnten. Auf der Rückseite des Hauses ein kleiner Park mit einer gewaltigen Rotbuche. Für die Braun-Söhne ein idealer Spielplatz. Aber interessanter war das Bahnhofsviertel, das wir mit seinen Flussnamen-Straßen in Besitz nahmen. Wir und unsere Freunde waren die Niddabande, die gegen die Weserbande kämpfte, oder die Elbebande unterstützten, die sich gegen die Moselbande wehrte – das Viertel war für uns ein Labyrinth von Hinterhöfen und Durchgängen, dunklen Lieferanteneingängen und verlockenden Eisdielen. Schon damals war das gründerzeitliche Viertel ein Ort vielerlei Vergnügungen, das riesige jungendstilige Schumann-Theater lockte allabendlich Tausende Besucher mit Zirkus und Revuen, auch Operetten, und auf der Kaiserstraße, dem damaligen Prachtboulevard, gab es ein halbes Dutzend schmaler Kinos mit Namen wie Lichtburg oder Excelsior, Rex oder Hansa oder auch den üppigen Gloria-Palast. Kino war das »Theater für alle«, und Marie, unser rotlockiges sommersprossiges Hausmädchen, war ganz wild darauf. Ich verdanke es Marie, die mich sonntagnachmittags in die Kinos auf der Kaiserstraße schmuggelte, dass ich Marika Rökk, Johannes Heesters, Zarah Leander, Heinz Rühmann und wie sie alle hießen, kennenlernte. Der Schulbub war ein früher Fan der großen UFA-Stars. Faszinierender waren nur noch die Revuen und Operetten im Schumann-Theater, die in dem 4500-Platz-Theater mit großem Aufwand en suite gegeben wurden und die mich und den Schulfreund Wolfgang begeisterten. Dabei war Wolfgang der musikalisch Versiertere, denn er sang mit schönstem Knabensopran im Frankfurter Motettenchor, ich dagegen mühte mich nur mit anfängerhaftem Klavierspiel. Unsere Talente (und Ansprüche) genügten jedoch, um Das Land des Lächelns vor eingeladenem Publikum nachzuspielen. Dafür montierten wir in den offenen Flügeltüren der Wohnung Bettlaken als Theatervorhang, dekorierten dahinter einiges Mobiliar und Topfpflanzen, verwandelten uns mit wenigen Kostümteilen in die Protagonisten der Operette, und schon spielten, tanzten und sangen wir zu zweit vor wohlgesonnenem Publikum eine Digest-Fassung der Operette – eine frühe Kinderversion von Michael Quasts späterer tolldreister Unternehmung, die Offenbach-Operetten allein mit einem Pianisten zu spielen, zu tanzen und zu singen. Das war ein herrliches selbstgemachtes Kindertheater, aber mitten im schönsten Spiel flippten wir plötzlich aus, und die Szene geriet zu einer selbstdarstellerischen Stripteasenummer. Peinlich, die nackten Knaben mit erregten Pimmeln, nein, so was geht doch nicht. Aber warum ist mir die Szene überhaupt noch in Erinnerung? Kinderspiele, die dann mit dem Heulen der Sirenen bald endeten. Im Keller verbrachten wir die Bombenangriffe, kletterten danach aufs Dach, um die brennende Stadt zu sehen, am nächsten Vormittag sammelten wir auf dem Schulweg Granatsplitter in Zigarrenkisten. Wir hatten keine Angst, es war alles sehr aufregend. Nach den ersten schweren Luftangriffen verzog sich die Familie in das elterliche Haus der Mutter nach Camberg im Hintertaunus, wo sich der evangelische Großstadtjunge in einer stockkatholischen Provinz wiederfand.

Siebzig Jahre später sprach mich nach einer Diskussion um das Frankfurter Volkstheater, bei der ich auf dem Podium saß, eine Frau an. Sie führte mich zu einem massigen alten Mann im Rollstuhl. Es war der Schulfreund Wolfgang, den ich seit unseren Kinderspielen nicht mehr gesehen hatte. Er hatte sie wohl auch nicht vergessen. Nicht lange nach diesem Wiedertreffen las ich seine Todesanzeige in der Zeitung.

Wie es wirkt

In Camberg, im Haus des Großvaters, überlebten wir den Krieg. Es waren inzwischen fünf Söhne, jeder sollte eigentlich ein Mädchen sein, aber mit dem fünften gaben es die Eltern auf. Als Ältester musste ich etwas Ersatz für den Vater sein, der mit seiner Firma in La Rochelle für die Wehrmacht fuhr. Wir waren nicht gut gelitten im erzkatholischen Camberg. Man verübelte der Mutter immer noch, dass sie den evangelischen Mann aus dem nur wenige Kilometer entfernten Idstein geheiratet hatte, und die Söhne waren natürlich alle Protestanten. So fühlten wir Buben uns nicht nur als Großstädter fremd in der kleinen Stadt, sondern vor allem auch wegen der falschen Konfession. Aber die Ablehnung stärkte unseren Willen zur Selbstbehauptung, vor allem bei mir, und so war es ganz natürlich, dass ich dort heimisch wurde, wo sich die Minderheit versammelte, in der evangelischen roten Backsteinkirche mit dem Pfarrhaus in einem großen Garten am Rande der Stadt. Der verständnisvolle Pfarrer hatte immer Zeit für den ständig fragenden Schüler, einer seiner Söhne war in meinem Alter, so wurde die Pfarrerfamilie zu einem zweiten Zuhause. Und ich stellte mir für die Zukunft ein ähnliches Leben vor, mit Kirche, Pfarrhaus und Garten, abgetrennt von der lärmenden Welt, ein ruhiges Leben mit Frau und Kindern. Das hatte weniger mit der Religion zu tun, obwohl die bei dem Jugendlichen auch eine gewisse Rolle spielte, es war eher dieses genügsame, pflichtbewusste Leben, wie ich es später bei Stifter wiederfinden sollte. Ich beteiligte mich selbstverständlich an bestimmten Arbeiten für die Kirche und die Gemeinde. Besonders angetan hatte es mir die Orgel, die ich zu bestimmten Zeiten spielen durfte; mein Klavierspiel war inzwischen ganz passabel, es reichte für Mozarts A-Dur Klavierkonzert KV 488, das ich mangels Orchester mit einer Schallplatte immer zusammen mit Lili Kraus spielte (die Kadenzen ließ ich sie alleine spielen). Es muss fürchterlich geklungen haben, zumal Schallplatte und Klavier nicht aufeinander abgestimmt waren, aber mit Orchester zu spielen, das war einfach das Größte. Mit den Klavierkenntnissen und gelegentlicher Unterstützung des Organisten konnte ich mir ein einfaches Orgelspiel selbst beibringen. Es reichte sogar zur Not, dass ich wenige Male, wenn der Organist unpässlich war, den Gottesdienst am Sonntagvormittag an der Orgel begleiten durfte. Das waren die bewegenden Höhepunkte in diesen ersten Nachkriegsjahren, in der selbst in der Kleinstadt mit noch vielen Bauern der Hunger und die Not groß waren. Viele Väter waren noch in Gefangenschaft, meiner schaffte es mit den Amerikanern vom Atlantik in den Hintertaunus zu kommen. Mit einem ZIS, den er dann in Camberg wegen des Benzinmangels zu einem holzvergasenden Lastwagen umbaute. Für die älteren Söhne hieß das, tagelang aus Scheiten kleine Klötzchen zu hacken, mit denen der Kessel des Holzvergasers gefüttert wurde. Und da es auch lange keine Autos zu kaufen und zu verkaufen gab, verlegte sich der Vater kurzfristig auf den Pferdehandel – was historisch gesehen ja die gleiche Branche war. Diese unmittelbare Nachkriegszeit war für mich befreiend, besonders von der Hitlerjugend, die ich verabscheute, aber nicht wegen ihres Nazitums, sondern weil die »Kameraden« alle viel größer und stärker und lauter waren als ich, der ich lieber in einem Versteck auf der Stadtmauer Werner Bergengruen las oder auf der Orgel improvisierte.

Irgendwann kam die Idee auf, in der Kirche ein Theaterstück aufzuführen. Wie nach dem Krieg in den Großstädten das Bedürfnis nach Theater besonders groß war, so muss es wohl auch in der Kleinstadt gewesen sein. Es gab eine ganze Reihe von Laienspiel-Vertrieben, die mit dünnen Heften Stücke anboten, die dem Bedürfnis nach Diskussion und Selbstbefragung, auch nach Trost, Rechnung trugen. Diese Vertriebe wandten sich auch direkt an die Kirchen, von denen sie annahmen, dass sie solche Laienspiele in ihrer Gemeinde befördern könnten. Ich suchte aus dem Angebot ein Stück aus. Ich weiß heute zwar weder den Autor noch den Titel, sehe aber noch das Titelblatt des Heftes vor mir, die schwarzweiße Zeichnung eines zusammenbrechenden Soldaten. Es war ein Heimkehrer-Drama für Laien (so wie später Borcherts Draußen vor der Tür eines für Profis wurde), das ich dann mit einer kleinen Gruppe einstudierte. Ich hätte das alles wahrscheinlich längst vergessen, hätte es da in der überfüllten Kirche nicht die eine Szene gegeben: ich ließ den heimkehrenden Soldaten in voller Montur von hinten aus dem Kirchenportal auftreten. Langsam, Schritt für Schritt, die schweren Stiefel knallten auf dem Steinboden, so schritt der Heimkehrer durch den Mittelgang der Kirche bis vorne zum Altar – und die Gemeinde atmete schwer, schluchzte und heulte, und das alles, ohne dass bisher ein einziges Wort gefallen war. Das hat mich doch schwer beeindruckt. Das war doch etwas anderes als Das Land des Lächelns. Ich staunte, dass und wie man mit Theater die Menschen zum Fühlen und vielleicht auch zum Denken verführen kann, wie es selbst ein Pfarrer und die Religion gewöhnlich nicht schaffen. Die Schritte des Soldaten habe ich nie vergessen.

Wenn’s kribbelt

Die Schule der Camberger Diaspora war in Limburg an der Lahn, das Gymnasium auf dem Schafsberg, 21 km von Camberg entfernt. Die Fahrschüler mussten einen sehr frühen Zug nehmen, den sie erst nach einem halbstündigen Fußmarsch bis zum Bahnhof erreichten – wenn er denn kam in den letzten Kriegsjahren. Manchmal blieb er auch stehen, wenn er von Tieffliegern beschossen wurde. Aber wir erlebten den Krieg nicht in Furcht und Schrecken, sondern eher als ein Abenteuer, das wir selbstverständlich bestehen würden. Das Gymnasium in der Bischofsstadt war natürlich auch katholisch, aber daran hatten wir uns inzwischen gewöhnt. Das Besondere am Unterricht waren die Stunden bei einem passionierten Musiklehrer. Er brachte uns die musikalischen Grundlagen bei, als wären sie für zukünftige Profis bestimmt. Wir lernten den Kontrapunkt, versuchten selbst zu komponieren, studierten die Sonatenform, den Aufbau von Sinfonien – und selbst große Opern. Unvergesslich ist mir, wie er uns Wagners Der fliegende Holländer nahebrachte. Den Stoff, die Handlung, die Figuren, die Komposition. Wir wurden Kenner von Wagners früher Oper. Auf die Theorie folgte dann die Praxis. Wir machten eine Klassenfahrt nach Wiesbaden, wo Der fliegende Holländer von der Staatsoper gegeben wurde. Es war meine erste Opernaufführung. Und sie hat mich überwältigt. Ich saß in der ersten Reihe des zweiten Rangs, bestaunte die wilhelminische Pracht, den verschwindenden Lüster, und schon die Ouvertüre ließ mich an den Rand des Sitzes rutschen. Während des zweiten Auszugs brach mir der Schweiß aus, und ich fing an zu zittern. Im dritten schließlich rieselte es mir dazu den Rücken herunter, immer wieder, und als sich der düstere Seemann als Fliegender Holländer zu erkennen gibt und Senta sich »treu dir bis zum Tod« ins Meer stürzt, war ich ebenso aufgewühlt wie Wagners Musik. Und wusste von da an: immer wenn es den Rücken herunterrieselt, ist es Kunst. Manche Erfahrung im Leben hat dies bestätigt. Aber nicht immer: beim nächsten Ausflug nach Wiesbaden, der der Zauberflöte galt, hat es nicht gerieselt. Sehr enttäuschend war das. Aber damals wusste ich noch nichts vom Dionysischen und vom Apollinischen in der Kunst. Bei Wagner hat es immer gerieselt.

Selber spielen

Ab 1950 wieder in Frankfurt. Endlich wieder im Bahnhofsviertel. Zwar liegt das Goethe-Gymnasium nur am Rande, aber ist auch zu Fuß gut von der Emserstraße zu erreichen, wo Tante Ochse dem Vater ein Haus hinterlassen hatte, von dessen vier Stockwerken nur noch eines stand, eine Ruine in der fast vollständig zerstörten Straße am Bahndamm. Die galt es mit eigenen Kräften wiederaufzubauen, und so reinigten wir Tag für Tag Backsteine aus den umliegenden Schuttbergen, um sie wieder verwenden zu können. Bald konstruierte der Vater einen Aufzug, der von einem Automotor getrieben wurde, und wir fuhren mit entsprechender Gangschaltung die Stockwerke rauf und runter. Es war harte Arbeit, es gab schrundige Hände, aber wir waren fröhlich, eine neue Zeit war angebrochen. Auch das Autogeschäft entwickelte sich: Auto-Braun hatte neben dem Goethe-Gymnasium auf einem geräumten Trümmergrundstück eine Ausstellungsfläche gefunden, unter einer mächtigen Blutbuche, die noch heute zu besichtigen ist.

Das Goethe-Gymnasium war die tägliche Pflicht, zur Kür wurde mir aber das Theater. Ich war ein leidenschaftlicher Theatergänger geworden: zum ersten und einzigen Mal in meinem Leben hatte ich ein Theaterabonnement, und zwar für Fritz Rémonds Zootheater, das damals neben kleinen Klassikern und bewährten Komödien auch die neuesten Hits aus Paris und New York spielte. Fritz Rémond war ein Striese und zugleich Becketts Krapp, seine Schauspieler ein exquisites Ensemble großer oder bald großer Namen: das Zootheater vom »Fisch« (wie er gerne genannt wurde) war für mich das betörende Schauspiel(er)theater überhaupt. Und es gab die Städtischen Bühnen. Zwar spielten Oper und Schauspiel noch im Notbehelf der Börse, aber im Dezember 1951 schon sollte das »Große Haus« eröffnet werden, das in den zerstörten Mauern des alten Schauspielhauses neu errichtet wurde. Ich musste da unbedingt dabei sein, meldete mich für die beiden Eröffnungsproduktionen als Statist, und so tanzte ich als Lehrbub mit den Mädeln von Fürth auf der Festwiese der Meistersinger von Nürnberg – und war der Erste, der bei der Schauspieleröffnung mit Goethes Egmont öffentlich die jungfräulichen Bretter des neuen Theaters betrat. Das ging so: in Lothar Müthels Inszenierung öffnete sich langsam der Vorhang vor einem leeren Palast-Saal (von Caspar Neher). Nach einer kurzen Stille wurde die linke Flügeltür aufgestoßen, ich trat als Lakai hervor und schmetterte: »Ihre Majestät, die Regentin!«. Und dann rauschte Anita May herein, gefolgt von Hofleuten, und das Spiel begann. Doch eine andere Szene hat mir mehr bedeutet: in jeder Aufführung schlich ich mich in die Kulissen, um zu beobachten, wie Bernhard Minetti als Herzog von Alba wortlos eine Treppe herabstieg. Mit durchgedrücktem Kreuz setzte er die schwarz bestrumpften Beine so auf die Stufen, dass er zu schweben schien. Ich war jedes Mal hingerissen und empfand den Gang als große Schauspielkunst.

Theater als körperlicher Ausdruck beeindruckte mich. So war es irgendwie folgerichtig, dass ich in Herbert Freunds Ballettkurs landete, in dem uns ein paar Grundlagen des klassischen Balletts beigebracht wurden, aber auch das pantomimische Handwerk. Pantomime war sehr angesagt in diesen Jahren, inspiriert von Jean-Louis Barraults Les Enfants du paradis und Marcel Marceaus »Bip«. Das Training war hart, aber da war nur wenig Ehrgeiz, es noch zu einem professionellen Danseur zu bringen. Dafür war ich schon zu alt. Immerhin habe ich es noch bis in den verstärkten Ballettchor gebracht, und – kurz nach dem Abitur 1953 – in Boris Blachers Ballett Hamlet und in der Nussknacker-Suite getanzt. Später, 1957, längst bei der neuen bühne, gab ich in Heinrich Kochs Hannibal-Inszenierung noch mit einer Pantomime ein mehr solistisches Gastspiel.

Aber noch bin ich auf dem Goethe-Gymnasium, wo es wieder einen Lehrer gab, der für mich wichtig wurde. Dr. Minssen unterrichtete Gemeinschaftskunde, und das war vor allem die Einführung in Gesellschaftstheorie und Politik, aber dies alles in einer undogmatischen und freizügigen Art, wie ich es aus dem katholischen Limburg nicht kannte. Sein Unterricht war ein Colloquium über Gott und die Welt, und die Welt war zudem noch französisch angehaucht, denn Minssen hatte eine Französin zur Frau: mein erster Kontakt zur französischen Kultur, der zu einem deutsch-französischen Schüleraustausch führte. Der französische Austauschschüler war zufällig ein Sohn des Präsidenten der Banque de France, ich residierte also in einem Palais in der Avenue de Paris, die in Versailles direkt zum Schloss führt, und, da wir Freunde wurden, im folgenden Sommer auch im familieneignen Schloss an der Loire – ich erlebte also die Grande Nation, wie sie sich am glanzvollsten präsentierte. Jean-Luc dagegen, der Austauschschüler, erlebte die Deutschen in der Familie eines Gebrauchtwagenhändlers in Frankfurt. Der schon damals oppositionelle Sohn eines Bankiers war natürlich gegen die in Frankreich besonders ausgeprägte Elite eingestellt, setzte sich später von seiner Familie ab, wurde Reporter bei Le Monde und kam im Vietnam-Krieg um.

Der so geschätzte Lehrer Minssen vergab an die Klasse eine besondere Aufgabe: Die Schüler sollten Referate über die Organisation und die Funktionen der Stadtverwaltung halten, jeder durfte sich sein Spezialgebiet aussuchen. Ich wählte: Kultur in Frankfurt. Und musste nun über die verschiedenen Sektionen des Kulturbetriebs recherchieren. Natürlich fing ich mit dem Theater an und bat wie ein gelernter Reporter die Pressestelle der Städtischen Bühnen um ein Gespräch. Ich erinnere mich, wie ich in dem halbzerstörten (oder im Wiederaufbau begriffenen?) alten Schauspielhaus ruinöse Treppen hochstieg bis in die oberste Etage, wo mich ein junger Dramaturg empfing, der mir ausführlich schilderte, was ein Dramaturg macht und wie denn so ein Theater funktioniert. Er hat mich gut instruiert. Er hieß Hans Peter Doll, war später Intendant in Heidelberg, Braunschweig und Stuttgart, in schwieriger Zeit als Interimsintendant auch wieder in Frankfurt: »Papa« Doll war zeitlebens ein guter Freund, und wir haben uns immer mal wieder an das Gespräch im alten Schauspielhaus erinnert. Offenbar hat es Früchte getragen.

Paris, Paris

Nach dem Abitur im März 1953 schrieb ich mich an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Germanistik, Romanistik und Philosophie ein. Der Vater war auf rührende Weise stolz auf den Sohn, der als Erster der Familie eine Universität besuchte. Nach ihm sollte es ein Studium sein, mit dem ich eine künftige Familie gut versorgen könnte. Aber das war für mich kein Kriterium. Die ersten drei Semester verliefen wie übliche Anfangssemester, daneben aber hatte ich immer noch viele »Auftritte« bei den Städtischen Bühnen. Aus Interesse an französischer Literatur und um mein Französisch zu verbessern, ging ich im Herbst 1954 an die Sorbonne, nicht zuletzt auch um einer Freundin aus dem Ballettensemble nahe zu sein, die im berühmten Studio der Markova den Sprung von der Gruppen- zur Solotänzerin machen wollte. Das Pariser Jahr, zuerst in einem Appartement »sous les toits du Montmartre« mit seinen Revuen, besonders die der Nouvelle Eve, später – um den bekannten »Follies« des Quartiers zu entkommen – in einer Bude in der Arbeitervorstadt Asnières, war gefüllt mit Entdeckungen der französischen Kultur, mit dem Lernen der Sprache, mit Corneille und Proust, vielen Theater- und Ballettbesuchen, einer kurzen Hospitanz bei Racine-Proben mit Madeleine Renaud und Edwige Feuillère in Jean-Louis Barraults Théâtre du Rond-Point, mit Ferien bei Jean-Luc im Familienschloss an der Loire, aber auch einer Reise nach Avignon und ins Rhone-Delta, in die Camargue, kurz: Frankreich und insbesondere Paris erfüllten alle (klischeehaften) Erwartungen, die ein junger Deutscher Anfang der fünfziger Jahre hatte.