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Inhalt

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Titel

Zitat

Herfst

Fietsen

Dagboek

Theesalon

Thijs I

Relatieverslaving

Beschuit met muisjes

Apatheia

Hond I

Bob Dylan

Mijn vlakke land

Thijs II

Winter

Zwarte Piet

Kerstmis

Thijs III

Politiek

Lente

Rokjesdag

Koningsdag

Dodenherdenking

Hond II

Ruzie

Geest

Zomer

Ongeval

Moeder

Herstel

Hond III

Eindstation

Autorenporträt

Über das Buch

Impressum

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Davon zuversichtlich später.
Robert Walser

Herfst

Fietsen

Als ich in Utrecht endlich aus dem großen und unübersichtlichen Bahnhofsgebäude gefunden hatte, das in ein großes Einkaufsareal eingebettet ist, sah ich zuerst die vielen Fahrräder in der Radstation am Hauptbahnhof. Hier gab es nicht nur eine unterirdische Tiefgarage, sondern auch zwei weitere riesige Stellplätze mit speziellen zweistöckigen Fahrradständern, deren Konstruktion und Handhabung mir zwar unverständlich waren, die jedoch augenscheinlich Platz sparten. So was hatten wir in Deutschland nicht, also natürlich gab es Fahrräder und solche, die auf den Fahrrädern fuhren, aber beileibe nicht in diesen Ausmaßen. Fahrräder hießen hier fietsen, und nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ bestand zwischen Fahrradfahrern und Fietsfahrern ein Unterschied wie Tag und Nacht. Fietsfahrer fuhren generell ohne Helm, und Licht hatte kaum jemand an, auch nicht im Winter oder bei Dunkelheit. Fahren war sowieso der falsche Ausdruck, sie jagten vielmehr in dichten Pulks durch die Stadt, am liebsten zu zweit oder dritt nebeneinander her und völlig ins Gespräch vertieft. Es schien mir gar, als schaue niemand auf die Straße dabei. Ganz so, als sei das Fietsfahren den Niederländern etwas wie Atmen, etwas Angeborenes, das man so ganz nebenbei machte. Fietsiture automatique. Ich hingegen kam mir ziemlich schwerfällig vor auf meinem pinken Rad, das an mir nichts Elegantes hatte, und ich nichts auf ihm.

Mir fielen die wenigen Reitstunden aus meiner Mädchenzeit ein. Auf dem Pferderücken hatte ich in etwa genauso gehangen, wie ich jetzt auf dem Fahrradsattel saß, zu gebückt, zu schlaff, als hätte ich nicht einen Muskel im Leib. Spaß gemacht hatte es auch nicht. Besonders das Voltigieren. Es hatte schon damit angefangen, dass ich nicht auf den Sattel kam, immer dieses Aufspringen aufs Pferd aus dem Lauf, ich weiß bis heute nicht, wie das gehen soll. Hier sah ich manchmal, dass Menschen aus dem Lauf auf ihr Fahrrad sprangen, irgendwie von hinten, so schnell und elegant ging das, dass ich einfach nicht dahinterkam, wie sie das machten. Am Morgen meiner Abreise war ich auch auf ein Pferd gestiegen, oder besser gesagt in ein Pferd, ein eisernes nämlich, wobei der alte indianische Vergleich bei den modernen Zügen kaum noch berechtigt schien. Die waren doch eher aus Plastik, außerdem verlief meine Strecke nicht durch die Black Hills wie in diesem Stummfilm über die transkontinentale Eisenbahn in Amerika, sondern von Berlin nach Amersfoort. Von da aus war ich dann noch einmal umgestiegen, in einen IC Richtung Utrecht, relativ spontan, denn eigentlich wusste ich noch gar nicht genau, wohin eigentlich, wohin mit mir. Mein anvisiertes Reiseziel hieß weg, weg aus Berlin, weg aus Deutschland, und weil ich nicht gerne flog und zudem, außer dem Englischen und Lateinischen, keine nennenswerten Sprachkenntnisse besaß, war mir Holland in den Sinn gekommen, oder besser gesagt die Niederlande. Die waren mit dem Zug zu erreichen und, so dachte ich, für mein Verständnis von Fremde abenteuerlich genug. Wohin genau ich nun aber eigentlich wollte, war mir noch nicht klar. Ich kannte mich nicht sonderlich gut aus mit diesem direkten Nachbarland, wusste aufgrund der Enge meines ländlichen, westfälischen Geburtsorts, dem ich nach dem Abitur gerne den Rücken gekehrt hatte, eigentlich nur, dass ich nicht ganz in die Pampa wollte, aber eben auch nicht nach Amsterdam, das mir von der Szene her nicht weit genug weg von Berlin zu sein schien; Den Haag hingegen klang viel zu seriös, und so waren Rotterdam und Utrecht zur Auswahl geblieben. Über Utrecht hatte mal jemand ein Buch geschrieben, so hatte ich im Internet gelesen, in dem es um die Rückführung von beschlagnahmten Fahrrädern nach dem Zweiten Weltkrieg geht. Diese Idee und der Name der Stadt waren mir sympathisch – und so fiel meine Wahl eben auf Utrecht. Erst im Zug hatte ich beschämt bemerkt, dass dieses Utrecht eigentlich Ütrecht gesprochen wurde, und mir war erneut klar geworden, wie wenig Ahnung ich eigentlich hatte: vom Land, von der Stadt, von den Fahrrädern hier.

Gefährlich war es aber eigentlich nicht. Also das Fietsfahren. Wenn ich auf dem morgendlichen Weg zur Arbeit einmal absteigen wollte, um in einem der vielen kleinen Läden, den winkels, ein belegtes Brötchen, das wahrscheinlich wegen der hellrosa Tomatenscheibe, das es zierte, unter der Bezeichnung broodje gezond verkauft wurde, zu erstehen, musste ich mir vorher gut überlegen, wie ich das anstellen sollte, ohne eine Massenkarambolage zu verursachen. Am sichersten schien es mir, mich an einer roten Ampel aus dem Verkehr zu ziehen. Also ganz schnell abzusteigen und mein fiets den Rest des Wegs zum winkel zu schieben. Es gab nur ein Problem an dieser Technik: Wenn nämlich keine rote Ampel kommen sollte, dann, ja dann musste ich entweder den Vormittag über hungern oder irgendwann in voller Fahrt abspringen und das Rad mit einem gewagten Ruck aus dem Verkehrsstrom reißen.

Ich werde geschickter darin werden, wenn ich mich erst eingelebt habe oder endlich wieder krankenversichert bin, dachte ich dann, und wer ist schon gleich eine Meisterin in allen Dingen in einer fremden Stadt.

Der November in Utrecht war vom Wetter her wie ein kalter April in Berlin, mit der Ausnahme, dass das Laub nicht spross, sondern von den Bäumen fiel, und es keine Gewitter gab. Ansonsten hatte man es wie in anderen Ländern auch mit den wechselhaften und launischen Kapriolen eines unbeugsam herannahenden Winters zu tun. Über den Grachten stand morgens häufig der Nebel, Boote lagen traurig und halb ersoffen im Wasser, alles war feucht und klamm. Als ich vorhin über die kleine Brücke in der Nähe meiner Wohnung gefahren war, hatte ich einen Bootsbesitzer in seinem beinahe gekenterten Boot stehen und Wasser herausschöpfen sehen. Er war vielleicht gar nicht traurig dabei, aber von außen betrachtet war dies eine höchst melancholische Szene, die mir noch tagelang nachging. Der Bootsfahrer im Herbst, dachte ich. Und wenn ich dazu in der Lage gewesen wäre, hätte ich ein Bild davon gemalt. Aber weil ich nicht malen konnte, höchstens mit Buchstaben und auch nur an guten Tagen, deshalb nahm ich mir vor, es wenigstens kurz zu notieren, also wie poetisch das war. Das mit dem Bootsfahrer auf der Gracht im November. Und ich fragte mich, was das wohl dauerhaft mit mir anstellen würde, wenn ich von nun an jeden Tag durch eine solche im wahrsten Sinne des Wortes beschauliche Landschaft fahren würde. Überall Schönheit, nur Schönheit, so dachte ich jeden Morgen, besonders natürlich, wenn die Sonne schien. Schöne kleine Häuser mit großen Fenstern gab es hier, sodass man die Einrichtungen gut sehen konnte. Überall kleine Grachten und Brücken und Einzelhandel. Jede Menge Einzelhandel. Es gab zum Beispiel einen poelier, einen Metzger extra für Vögel. Während auf jemanden, der Vögel zerlegte, das Wort Metzger nun wirklich nicht passte, gefiel mir die Bezeichnung poelier außerordentlich gut.

Auch das Wort winkel für die vielen kleinen Geschäfte an den verwinkelten Sträßchen fand ich trefflich gewählt, wobei es leider auch für den Media Markt am Hauptbahnhof benutzt wurde. Dieser war ein sogenannter electronicawinkel – ebenso riesig und grauenhaft hässlich wie seine Pendants überall sonst auf der Welt. Durch die Assoziationskette, die ungewollt bei Media Markt geendet war, hatte das poetische Gefühl leider Konkurrenz von einem sehr unpoetischen bekommen. Ich seufzte. Wie sollte ich da heute noch etwas einigermaßen Anschauliches notieren? Mit Media Markt im Kopf? Dat is dom, hätte ich sagen können, wenn ich mich denn schon getraut hätte, ein bisschen zu sprechen. Doch ich haderte noch viel zu sehr mit den Tücken zweier verwandter Sprachen, die in meinem Kopf rangelten wie Zwillinge. Die sich zankten, obwohl sie sich doch liebten. Vermutlich kamen sie sich wegen der Ähnlichkeiten ins Gehege, denn es gab da in mir eine Verwirrung angesichts des Verwandten, Vertrauten in der niederländischen Sprache, die insgesamt wahrscheinlich sehr menschlich, aber dadurch nicht minder anstrengend war.

Hier in Utrecht stand jedenfalls ein Dom, weshalb es nahelag, dass ich mich fragte, ob der Satz dat is dom, außer dass er die Dummheit der Welt anprangerte, wohl auch zur Bezeichnung dieses Bauwerks verwendet werden konnte. Heute Morgen, als er wie zu jeder vollen Stunde sein immer neues Liedchen bimmelte, war seine Spitze samt Glockenturm ganz und gar im Nebel verschwunden gewesen. Es war unheimlich, wie es da aus den Wolken scholl, ohne dass ich sehen konnte, wo die Klänge herkamen. Als spiele Gott persönlich auf einem riesigen Xylofon, so hatte das geklungen, ja, das Szenario hatte etwas von diesem Tag an sich gehabt, über den die Zeugen Jehovas immer mit einem sprechen wollen. Armageddon. Das stündliche Glockenspiel war mir ansonsten lieb, war es doch ein Gruß an alle, die ganze Stadt. Da kam es nicht darauf an, wo man herkam, ob man auf der Straße lebte oder im besten Kiez, ach pardon: kwartier. Die Klänge waren einfach für jedes Ohr gedacht, flogen gratis in der Luft herum, manches Mal vom Wind nah herangetragen, manches Mal ganz von ihm zerzaust und zerrupft. Jedes Jahr wurde diese Musik neu programmiert, das hatte mir ein »Mein Herr«, ja, nicht einfach ein Mann, sondern ein echter meneer, bei der Kuppelbesteigung erzählt. Von ihm wusste ich auch, dass es eine echte mevrouw war, die die Musik programmierte und sich Jahr für Jahr die Zusammenstellung der Kompositionen ausdachte.

Und ich wollte zu gerne wissen, wer diese Frau war. Wie schwer das sein musste, aus der unendlichen Vielfalt möglicher Musikstücke eine Auswahl zu treffen, dachte ich. Und dann dachte ich, o Gott, und dass ich dann jetzt wohl auch so eine war. Also eine, die Kuppeln bestieg und in Museen ging und am Sonntag klassische Konzerte hörte. So ein ganz und gar analoger Mensch also, unzeitgemäß, um nicht zu sagen völlig veraltet.

Das würde alles elektronisch geregelt mit der Musik im Glockenturm, hatte der meneer oben in der Kuppel erzählt, und da solle man sich nicht vormachen, dass da noch jemand an irgendwelchen Strippen zöge.

Trotzdem. In Berlin hatte ich so was nie gemacht. Ich war noch in keiner Berliner Kirche gewesen, und Museen hatte ich auch nicht besucht. Es gab ja schließlich die Stadt, die Kieze, die Kneipen. Wer brauchte da Museen? Natürlich, stad, kwartieren, kroegen gab es hier auch, sogar recht schöne, außerdem war überall viel los auf den Straßen. Viel mehr als im Wedding, wo ich gewohnt hatte, bevor ich hierher kam. Also bis kürzlich. Im Wedding war ja manchmal tagelang kein Mensch auf der Straße zu sehen gewesen – und hier alle naselang irgendwer! Wenn im Wedding einmal die Stunde ein Glockenturm Musik gemacht hätte, dann hätten sich dort zu manchen Zeiten nur die Spatzen gefreut, die aufgeplustert, klein und frech wie Oskar die Parkbänke besetzten. Ja, der Wedding, dachte ich, der rote oder tote. Und nun also Utrecht.

Dagboek

Heute war ich also zunächst noch in einer sehr poetischen Stimmung gewesen, was gut war, denn mein anvisiertes Ziel des Vormittags war ein Café am Wilhelminapark, in dem ich zu sitzen und mich in weltanschaulichen Dingen zu ergehen pflegte. Meine Vormittage waren, genau wie meine Nachmittage, wohlstrukturiert. Ein nachlässiger Beobachter hätte ihre Taktung mit Monotonie verwechseln können, wer jedoch genau hinschaute, würde die kleinen Unregelmäßigkeiten bemerken, die sie unterschieden; es war ja beileibe nicht jeder Tag wie der andere. Es gab Variationen. So hatte ich nicht nur verschiedene Cafés zur Auswahl, sondern changierte auch zwischen diversen Kaffeesorten und Speisen. Entscheidend für die Auswahl meiner Lieblingscafés waren drei Dinge: Die Qualität von Kaffee und Süßigkeiten, den snoepjes, die Auswahl an Zeitungen, die man hier kranten nannte, und die Internetverbindung. Gab es mehr als eine überregionale Zeitung, von denen mindestens eine De Telegraaf oder De Volkskrant waren? Und funktionierte das WLAN in einer einigermaßen flotten Geschwindigkeit? Weitere wichtige Fragen, die ich mir stellte, waren in etwa solche: War der Kaffee italienisch-aromatisch? Wurde er mit einer möglichst laut zischenden, möglichst silbrig blitzenden Maschine zubereitet? Troffen die Honigwaffeln vor honing und die Sirupwaffeln vor stroop? Wenn all das zutraf, dann konnte ich mich häuslich niederlassen. Wenn ich recht darüber nachdachte, gehörten natürlich auch eine freundliche Bedienung und ein freier Tisch zu den Grundbedingungen.

Wegen der täuschenden Ähnlichkeiten, die mein Leben seit meinem Umzug bestimmt hatten, hatte ich begonnen, ein Tagebuch darüber zu führen, mein dagboek over de gelijkenissen. Das war ein Buch, in dem ich all die verwirrenden minimalen Abweichungen zwischen meiner neuen und meiner alten Welt notierte, was stets zu allem Möglichen führen konnte. Manchmal blieben es die Notate kleinster Unschärfen, dann wieder wuchsen sie sich zu maximalen, seitenfüllenden Irritationen aus. Die Vormittage teilte ich dabei in drei Einheiten auf: Einatmen, Stoffwechsel betreiben, Ausatmen. Einatmen bedeutete, mir die Eindrücke der letzten Tage oder Stunden zu vergegenwärtigen, Stoffwechsel betreiben hieß, das Erlebte mit meiner soziallinguistischen Erfahrungswelt zu vergleichen und in mein inneres Wertesystem zu integrieren, und Ausatmen schließlich meinte, das Konglomerat oder das Gefilterte, manchmal auch nur die Überschüsse in meinem dagboek in eine literarische Form zu gießen. Wobei ich den Begriff literarische Form ziemlich weit fasste. Ich dachte dabei, zugegebener Weise nicht ganz ohne Eitelkeit, gerne an Joseph Roths Genre des Stadtfeuilletons, wobei ich den Begriff recht großzügig gebrauchte. Manchmal klebte ich auch einfach nur Fundstücke und Fetzen aus der neuen Welt in meine Kladde ein, mal einzelne Sätze oder Artikel, die ich aus der Zeitung ausschnitt, mal ein getrocknetes Herbstblatt, dann wieder eine alte Lakritzverpackung, auf der zakkenrollers stand, was lustigerweise Taschendiebe hieß und mir als ein ungewöhnlich leibliches Wort erschien, weil es mir, wann immer ich es aussprach, wie der Inhalt der Verpackung von der Zungenspitze in die Kehle rutschte.

Warum mich das mit dem Aufspüren der Ähnlichkeiten so interessierte, hatte gute Gründe. Handfeste, philosophische Gründe; war doch das genaue Unterscheiden von Begriffen die vielleicht größte und wichtigste Tugend einer Immigrantin, die sich in der neuen Welt zurechtfinden wollte. Das Problem war nun aber, dass hier oftmals Dinge als gleich erschienen, die es gar nicht waren. Und für mich, die ich deutschsprachig aufgewachsen und erzogen worden war, nun aber in den Niederlanden lebte, kam erschwerend hinzu, dass gar vieles hier nicht nur so ähnlich war wie in Deutschland, sondern oft auch so ähnlich hieß, manchmal aber ähnlich oder gleich hieß, ohne das Ähnliche zu meinen, sondern etwas ganz anderes. Diese falschen Freunde waren die größten Herausforderungen. Und manchmal gab es auch etwas, das so ähnlich hieß und das Gleiche sein sollte, es aber einfach nicht war. Zum Beispiel die Wörter brood oder broodje. Zwei simple Ausdrücke, könnte man meinen, die auch für Kartoffeln, Krauts und Fritze leicht zu identifizieren wären. Zumal sie fast jeden Tag in Gebrauch waren und somit nicht nur alsbald in Fleisch und Blut, sondern auch auf Bauch und Hüfte übergingen. Doch es fing gleich an mit den Schwierigkeiten. So wurden brood und broodje klein geschrieben, Brot und Brötchen groß. Dabei waren ja alle vier Wörter Substantive, und es war doch eigentlich praktisch, dass es im Deutschen möglich war, ein großgeschriebenes Wort als Substantiv zu identifizieren.

Nun, da war also schon ein erster Unterschied zu bemerken, über den es sich lohnte, viele Stunden nachzudenken, was jedoch besser nicht vor Ort, also in der bakkerij, vonstattengehen sollte. Jedenfalls hatte ich persönlich damit keine so guten Erfahrungen gemacht. Gut, mochten nun manche sagen, dann werden diese Wörter eben im Niederländischen kleingeschrieben und ein bisschen anders buchstabiert, aber man weiß ja, was gemeint ist, und darum geht’s doch: funktionale Pragmatik, sprachliches Handeln im gesellschaftlichen Zusammenhang und so weiter. Wo sollte da bitte das Problem sein? Wenn ich ein Brot wollte und ein brood bestellte und dann ein brood bekam, dann war das doch genau das, was ich gewollt hatte. So sollte man meinen. Meiner Erfahrung nach war es aber eben das gerade nicht. Und zwar deshalb, weil beide, brood und broodje, mit ihren nachbarländischen Äquivalenten Brot und Brötchen nicht viel zu tun hatten. Ein broodje sah vielleicht einem Brötchen von außen vage ähnlich, doch fehlte ihm die knusprige Schale. Es verfügte vielmehr insgesamt über eine weiche, auf Daumennagelgröße zusammendrückbare Masse von gummiartiger Konsistenz, vergleichbar mit diesem Naschwerk, das in Deutschland irreführenderweise als Schweinespeck bezeichnet wurde. Und mit brood war’s dasselbe in Braun. Ich wusste nicht, woraus es hier hergestellt, ob aus Mehl oder vielleicht etwas wie Kleie, und ob es gebacken wurde, oder einfach irgendwie aufgeblasen – jedenfalls war es etwas anderes, als ich darunter zu verstehen gewohnt war. Und ja, vielleicht lag es auch einfach nur daran, dass ich zu Hause keine Toastbrot-Mutter gehabt hatte, sondern eine Ich-back-mein-Brot-selber-aus-Sauerteig-und-verwende-nur-Vollkormehl-Mutter, unter der ja viele 80er-Jahre-Kinder in Westdeutschland zu leiden gehabt hatten, aber egal. Im Gegensatz zu brood oder broodje fand ich jedenfalls zum Beispiel das Wörtchen bitterballen, das braun frittierte, mit leicht bitterem Bratensoßenimitat gefüllte Kugeln bezeichnete, die man zum Bier bestellen konnte, wesentlich einleuchtender, da niemand, auch kein Niederländer, so genau wissen wollte, woraus bitterballen bestanden. Hier nun sagte der Name zumindest etwas über die sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften des kugelig bitteren Bezeichneten aus, ohne in die Irre führen zu wollen, wie es der Name brood versuchte.

Die Unterschiede, die an allen Ecken spürbar waren, beschäftigten mich so sehr, dass ich darüber schreiben musste. Und zwar, weil ich wie zum Trotz gegen die Unfreiwilligkeit, die meiner Situation anhaftete, eine Art anthropologischen Selbstversuch durchführte. Ich war ja keine simple Touristin oder romantisierende Auswanderin, sondern aus Berlin hierher geflohen, weil es dort für mich nicht mehr weitergegangen war; weil ich und Hauke, der Mann meines bisherigen Lebens, wenn man so wollte, es voll in den Sand gesetzt hatten. Aber nein, dachte ich, jetzt nicht an Hauke denken. Oder, um es ganz geschmeidig mit Robert Walser zu sagen, davon zuversichtlich später.

Weil ich es also einfach nicht einsah, nur aus niederen, persönlichen Gründen hergekommen zu sein, sollte mein Auslandsaufenthalt wenigstens etwas für die Menschheit tun; für Aufklärung sorgen, wo Dunkelheit herrschte, oder aber Zweifel säen, wo die Dinge allzu klar und einfach erschienen. Mein kurzes Studium der Germanistik hatte mich darin noch bestärkt: anstatt weiterhin nur das zu lesen, was andere sich ausdachten, wollte ich von nun an auch selber etwas zur Kulturgeschichte, oder besser gesagt zur Interkulturgeschichte, beitragen, und wenn es auch nur ein kleiner Teil von ihr würde, in etwa vergleichbar mit dem Handbuch des nutzlosen Wissens des von mir hochgeschätzten Hanswilhelm Haefs. Denn was, so fragte ich mich, wenn nicht die vielen kleinen Unterschiede, machte den grundsätzlichen Unterschied zwischen den Bürgern des einen europäischen Landes und den Bürgern eines seiner Nachbarländer aus? Und da ich weder an Gene noch an Rassen noch an eine irgendwie materielle Seelensubstanz zu glauben geneigt war, suchte ich nach anderen Gründen für all die kulturellen Abweichungen zwischen den Menschen verschiedener Länder. Das für mich Interessante hierbei war: Je unbedeutender der wahrgenommene Unterschied zwischen den Völkern von außen erschien, desto größer waren häufig die Unvereinbarkeiten.

Nur weil meine Situation für einen externen Beobachter nicht so dramatisch und aufgebläht existenzialistisch erscheinen musste, wie sie in diesem Film Lost in Translation daherkam, wo ein depressiver Bill Murray tagelang im wilden Tokio durch die Spielcasinos irrt, war doch meine Lage hier nicht minder kompliziert. In Japan war nämlich wenigstens klar, dass man als Europäer im Grunde nichts kapierte, und die Japaner sahen es dem Bill ja auch schon von Weitem an. Also, dass der von nix eine Ahnung hatte, weder von Sushi noch von Karaoke. Japan war eben für die Amerikaner nicht das, was die Niederlande für die Deutschen waren. Weil Bill nun ganz augenscheinlich keinen einzigen Fetzen Japanisch konnte, wusste er ja gar nicht, was er nicht verstand, während ich hier im Lande im Grunde das Meiste zu verstehen glaubte, aber dennoch an allen Ecken und Enden an Grenzen stieß und die wildesten Fragezeichen in die Luft malte. Die unendlich vielen feinen Risse, die meine neue Realität durchzogen, ließen das Fundament, auf dem ich mich aufrecht zu halten versuchte, ganz schön wackeln. Und deshalb hätte ich den Filmtitel Lost in Translation nur zu gern für mich und mein Werk beansprucht. Ich fand auch wirklich, dass ich ihn verdient gehabt hätte. Doch was weg ist, ist weg, wie man so schön oder vielmehr unschön sagt. Von brood, broodje und ähnlichen Dingen handelte jedenfalls mein dagboek, an dem ich an den Vormittagen in wechselnden Cafés arbeitete, und es war wirklich überhaupt kein Wunder, dass schon beinahe alle seine Seiten vollgeschrieben waren.

Mein heutiger Vormittag war etwas durchwachsen gewesen, was bedeutete, dass ich einen Kampf mit mir geführt und nur mit Mühe gewonnen hatte. Ich hatte dann zwar doch noch eine ganze Menge in meinem dagboek festgehalten, mich dazu jedoch vorher erst mühsam überreden und überrumpeln müssen. Schließlich aber hatte ich zumindest versucht, das poetische Bild von dem Boot irgendwie in Sprache zu gießen, bis ich einigermaßen zufrieden war. Nach so einem Vormittag im Café ging es mir gewöhnlich ganz gut. Ich war dann, was den Inhalt meines Kopfes anging, in einem relativen Gleichgewicht und bereit, mich wieder der chaotischen Welt zuzuwenden. Ich stand auf und ging bezahlen, was hier pinnen hieß. Meist funktionierte es mit einer Plastikkarte, die man einfach nur auf ein Lesegerät legte, ohne irgendwelche lästigen Nummern eingeben zu müssen, weshalb die Bezeichnung pinnen, die sich ja von PIN herleitete, obwohl ein Neologismus, eigentlich bereits wieder veraltet und irreführend war, aber lassen wir das jetzt. Pinnen tat ich jedenfalls gerne, da ich für diesen Vorgang, dank meines ständigen Aufenthalts in Cafés und Restaurants, mittlerweile fast alle Regeln der Konversation beherrschte.

Es war bereits früher Nachmittag, ich hatte heute länger gesessen und geschrieben als üblich. Mich reckend und streckend sperrte ich das Schloss meines Rads auf, stieg mühsam aufs fiets und fuhr dann gedankenverloren einmal quer durch die Stadt. Ich wollte zu meiner Arbeitsstelle, einem theesalon an der Oudegracht. Es war wirklich großes Glück, auf Anhieb diesen Job gefunden zu haben, denn normalerweise stellte niemand freiwillig eine Deutsche in der Gastronomie ein, zumindest keine, die noch nicht mal den Anfängersprachkurs Nederlands voor Duitstaligen abgeschlossen hatte. Auch wenn ich mich als Deutschsprachige natürlich leichter tat als die Spanier oder Koreaner in den anderen Kursen, fiel mir das Lernen durchaus schwer. Die Besitzerin des theesalons jedoch, die Griet hieß, hatte selbst deutsche Vorfahren und übte Nachsicht mit mir. Vielleicht hatte sie mich auch deshalb eingestellt, weil ich so verzweifelt ausgesehen hatte oder weil das Publikum im theesalon ohnehin recht touristisch und bunt gemischt war. Ich hatte jedenfalls, wie gesagt, Glück gehabt mit meinem Job, denn mit einer Deutschen hinter der Theke verschreckte man sich normalerweise die Stammgäste. Verstand ich auch. Ich hätte damals, als ich noch den Laden im Wedding gehabt hatte, auch keinen Schwaben oder so hinter die Theke gestellt. Das ging einfach nicht, das wäre das Aus für unsere Kneipe gewesen.

Andererseits hatten wir es ja auch so geschafft, alles zu ruinieren, dachte ich, und da hätten wir vorher auch ruhig irgendeinen Provinzflüchtigen glücklich machen können. Und ach, wer weiß, vielleicht wäre ich heute schon Mutter von drei niedlichen Kindern mit schwäbischen Apfelbäckchen, wenn ich mich nicht darauf versteift hätte, so etwas wie eine echte Berliner Schnauze zu finden, am besten eine in uralten Bowlingschuhen und immer ein bisschen zu schlecht gelaunt, um noch als höflich durchgehen zu können. Einen Typen wie Hauke halt.

Ach nein, dachte ich, jetzt zuversichtlich nicht! Vielleicht, so dachte ich stattdessen, interessieren solche sprachlichen Beobachtungen zwischen den verwandten Welten am Ende ja wirklich nur mich selbst. Und so war es vielleicht gut, dass ich nur ein simples dagboek schrieb und nicht etwa einen Roman.

Das Schreiben des dagboeks war mir in den ersten Wochen in der neuen Umgebung zu einem Grundbedürfnis geworden. Weil ich fast mit niemandem sprach, fand ich darin bald einen engen Vertrauten, einen, der zwar nicht antwortete, dafür aber auch nicht urteilte, und dem ich mich mitteilen durfte, wann immer mir danach war. Es ging in meinem dagboek nicht nur um die Sprache als solche, sondern auch um Dinge, die nur indirekt sprachlicher Natur waren, nämlich meine sonstigen Beobachtungen von Besonderheiten auf den Plätzen, den Winkeln – und winkels – dieser Stadt. Zum Beispiel sah ich hier manchmal Kinder, einfach nur Kinder, im Park oder auf der Straße spielen. Gleich dort drüben beim Janskerkhof sprangen wieder welche herum. Das gab’s doch in Deutschland gar nicht, dass Kinder, also richtige Kinder, jünger als zehn Jahre, in städtischer Umgebung ohne Begleitung irgendwo sein durften! Dort waren sie immer entweder in der Schule oder im Hort oder an sonst einem von Erwachsenen überwachten und behüteten Ort. Doch wenn ich hier, an den frühdunklen Novemberabenden, wenn das Laub mit Ausnahme des Mondes, der, sich in den Grachten spiegelnd, die einzige Lichtquelle auf den Straßen war und mir die Kälte feucht in die Jackenärmel fuhr, auf meinem fiets durch die vielen kleinen Gassen, über Brücken und Plätze nach Hause radelte, sah ich oft noch Kinder draußen spielen. Mit bunten Bällen oder Rollern, nicht allein, sondern in Gruppen oder zu zweit, aber eben doch unter sich. Kinder unter sich. Mir kam das dann immer ganz fremd vor, fremd und beruhigend und schön. Vielleicht, dachte ich dann, wird aus diesen Wesen ja einmal etwas Vernünftiges, Eigenständiges, werden sie zu Menschen mit geistiger Freiheit, die ihre Entscheidungen selber treffen. Vielleicht ist ja noch nicht überall auf dieser Welt alles verloren. Wenn es das hier wirklich geben sollte, so eine Freiheit, so eine höchstselbstständige Ausbildung des kategorischen Imperativs beim holländischen Kinde, dann wäre das wirklich ein Grund, dachte ich, während schon die Oudegracht an meiner Linken vorbeiflog. Und in meinem Kopf ließ ich offen, was das für ein Grund war und wofür, ob fürs Kinderkriegen oder für ein Leben hier, oder sogar für das Leben ganz allgemein, denn ich wurde schon wieder von den Ähnlichkeiten abgelenkt. Wenn das so weiterging, musste ich mir einen Psychologen suchen. Und dann würde ich versuchen zu erklären, was los war mit mir und der Welt, und der Psychologe würde wahrscheinlich immer nur treinstation verstehen, so wie unsereins Bahnhof. Und bei der Diagnose würde letztlich herauskommen, dass ich verloren war, verloren in den Ähnlichkeiten. Diagnose: Störung aus dem schizophrenen Formenkreis, irgendwas mit F20, wusste ja doch niemand Genaueres, wenn man auf die Seele zu sprechen kam. Aber was war noch mal die Frage? Ach ja, der Imperativ.

Es gab nämlich nicht nur ein Wort für kategorisch im Niederländischen, nämlich das naheliegende categorisch, sondern eine regelrechte Auswahl an möglichen Übersetzungen wie rechtstreeks, kortweg oder bot. Tja, und welche war da nun wohl die richtige? Orientierte ich mich an der bloßen Ähnlichkeit der Worte, das hieß an der Aufeinanderfolge möglichst vieler gleicher Buchstaben innerhalb zweier Wörter, war die Sache entschieden, aber sollte ich nicht vielleicht besser auf eine möglichst hohe Ähnlichkeit des Sinns achten? Doch welches dieser Worte passte sinngemäß am besten? Woher sollte ich das wissen, wenn ich diese Wörter noch niemals selbst gebraucht und auch noch nie jemanden gebrauchen gehört hatte? Während des Germanistikstudiums hatten solche Fragen kaum eine Rolle gespielt, da wurde die Sprache meist unkommentiert als ein Mittel betrachtet, das einzig und allein dazu diente, sich die sogenannte kanonische Literatur in Massen einzuverleiben; hier nun aber wurde mir die Unmittelbarkeit eines solchen Zugangs gründlich erschwert. Überall auf meinen Wegen lauerten die Stolpersteine des neuen Mediums, und mir war, als müsse ich die Welt sprachlich so erfahren, als würde ich Gegenstände durch das krisselige Bild eines alten Schwarz-Weiß-Fernsehers betrachten. Ich hielt kurz an, hob schwerfällig mein Bein über die Stange – kein Mensch fuhr hier mit Stange, selbst Männer ritten damenhaft auf ihren schwarzen Gazellen, ich fiel hier also ganz buchstäblich aus dem Rahmen – und schaute im Telefon nach. So analog lebte ich dann nämlich doch nicht. Und dann sah ich, dass all die anderen Begriffe, die es neben der Übersetzung categorisch sonst noch gab, stets innerhalb von Verneinungen oder Verweigerungen gebraucht wurden. Etwas war somit zwar kortweg verboten, aber, so leitete ich daraus ab, nicht kortweg geboten. Und der kantische Satz Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde war ja ganz klar ein Gebot und kein Verbot, dachte ich weiter, und irgendwie erleichterte mich das. Also, dass es hier ganz eindeutig der categorische imperatief und nicht etwa der kortweg imperatief oder so ähnlich heißen musste. Die unverhoffte Eindeutigkeit erleichterte mich sogar so sehr, dass ich mich nun wieder beinahe elegant auf den Sattel schwang und in den Verkehrsfluss einordnete. Natürlich ohne jemanden zu gefährden oder in Verlegenheit zu bringen. Der categorische imperatief ließ grüßen.