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Inhalt

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Titel

Das Metropol

Meine Ursprünge

Die Wegers

Die Jakowlews

Der Krieg

Kuibyschew

Kuibyschew. Überlebensstrategien

Wie ich gerettet wurde

Zirkus Durow

Auf der Suche nach Essbarem

Die Puppen

Der Sieg

Das Haus der Offiziere

Die Geheimsprache

Das Bolschoi-Theater

Die Leiter hinunter

Literaturstunden im Bett

Theatervorstellungen. Der grüne Pullover

Das Porträt

Die Geschichte vom kleinen Matrosen

Mein neues Leben

Rückkehr ins Hotel Metropol

Mamascha

Das Pionierlager

Die Tschechow-Straße. Großvater Kolja

Der Versuch, einen Platz zu finden

Das Kinderheim

Ich will leben

Das Schneeglöckchen

Unreife Stachelbeeren

Gorilla

Der Sterbende Schwan

Sanytsch

Nachodka. Das Fundstück

Göttliche Musik der Hölle

Editorische Notiz

Bildnachweis

Glossar

Stammbaum

Autorenporträt

Übersetzerporträt

Über das Buch

Impressum

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Das Metropol

Das Metropol ist heute eines der renommiertesten Hotels der Stadt Moskau. Es liegt nur drei Schritte vom Kreml entfernt. Hier logieren steinreiche und prominente Gäste. Aber kurz nach der Revolution und in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts hatte dieses Haus eine besondere Bestimmung: Hier wohnten und arbeiteten hohe Beamte der bolschewistischen Regierung – des Rates der Volkskommissare. Das Hotel war von den Bolschewiki nationalisiert und in das »Zweite Haus der Sowjets« umfunktioniert worden. Außerdem waren dort die Mitglieder der Kommunistischen Internationale untergebracht.

Das Metropol war ein berühmtes Haus. Hier lebten Menschen, die eine Idee, eine Utopie hatten.

Fast alle Bewohner wurden in meinem Geburtsjahr 1938 verhaftet und kamen entweder ins Gefängnis oder wurden gleich erschossen.

Und in diesem vornehmen Hotel hatte mein Urgroßvater Ilja Weger, Dedja, ein alter Bolschewik, 1921 ein Zimmer zugewiesen bekommen. Er wohnte und arbeitete hier, bis auch er dem stalinschen Terror zum Opfer fiel. Dedja wurde von einem Lastkraftwagen überfahren, eine häufige Methode der Hinrichtung.

Ich wurde praktisch im Metropol geboren, man hat mich als Neugeborenes aus der Entbindungsklinik direkt in Dedjas Zimmer gebracht, hier habe ich die ersten Monate gelebt.

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Das Hotel Metropol heute.

Ich kann mich noch gut an das Metropol erinnern, weil mich meine Mutter nach dem Krieg noch einmal zu Dedja brachte und wir eine Zeit lang bei ihm lebten.

Aber es zeigte sich sehr schnell, dass meine Anwesenheit dort niemandem gefiel. Ich war ein stürmisches Mädchen von neun Jahren und dazu im Krieg völlig verwildert. Eines Tages brachte ich das Fass zum Überlaufen. Ich hatte nämlich Dedjas hölzernes Schaukelpferd auf den Korridor geschoben und mir seine riesige Budjonny-Mütze aufgesetzt – ein Filzhelm mit langen kratzigen Ohrklappen und einer Spitze, wie ihn die Soldaten der Roten Reiterarmee im Bürgerkrieg trugen. Diese Budjonowka reichte mir fast bis zum Kinn, und ich musste den Kopf in den Nacken legen, um den Boden sehen zu können. Außerdem schnappte ich mir den schweren Säbel, schrammte auf dem Pferd durch die langen Korridore und rief laut: »Hurra, Genossen! Auf zum Kampf!«

Man stelle sich dieses Bild vor – im vornehmen Korridor des Metropol bewegt sich hüpfend und rumpelnd, den gewachsten Parkettboden zerkratzend und mit den Füßen stampfend, eine riesige Budjonowka auf einem Schaukelpferd vorwärts, und hinter ihr her schleift rasselnd ein Säbel.

Die Geschichte ist wie über alle Familien auch über unsere hinweggerollt: Erst die Revolution, dann die Jahre der großen Verhaftungswellen 1937, 1938, dann der Zweite Weltkrieg und die letzten Jahre von Stalins Herrschaft. Ich trage die Ideen meiner Verwandten, die alle Opfer des Terrors wurden, in mir. Mir sind reiche, machtbesessene Menschen suspekt, Reichtum und Macht generell. Bis auf den heutigen Tag akzeptiere ich die humanistischen Prinzipien meiner revolutionären Vorfahren. Ich habe das alles mit der Muttermilch eingesogen. Aber ich hasse jede Art von Ideologie, jede Form von Gewalt.

In meinen Erzählungen, Romanen und Theaterstücken verleihe ich jenen Menschen eine Stimme, die im Abseits stehen und sonst nicht gehört werden.

Meine Ursprünge

Denke ich über das Menschengeschlecht nach, dann stelle ich es mir nicht als Stammbaum mit Ästen vor. Für mich sieht es aus wie ein Wald, der sich weit hinstreckt – wie eine Kette von Menschen-Bäumen, die sich an den Händen halten. Aus irgendeinem Grunde stelle ich es mir so vor. Dort, im Nebel der Zeiten und Jahrhunderte, stehen sie, die vorangegangenen Generationen, Bäume mit vielen Ästen, ihren Armen, und jeder Vorfahr hält auf der einen Seite die Eltern fest und auf der anderen seine Kinder. Und jeder Mann ist sowohl Vater als auch Sohn und zugleich als Mensch einzigartig auf der Welt. Und jede Frau ist Kind ihrer Mutter und auch Mutter ihrer Tochter oder ihres Sohnes und gleichzeitig ein einmaliges Geschöpf, das keinem ähnelt. Jeder vereint in sich drei Wesen – Kind, Elternteil und die eigene Person.

Solange der Mensch, der im Zentrum steht, stark ist, stützt er die beiden Seiten, das heißt jene, die vor ihm sind, und jene, die nach ihm kommen. Dieses Zentrum verändert mit den Jahren seinen Platz in der Kette. Der Mensch wird schwach, seine Kraft geht über auf die nächste Generation. Sein Verstand, sein Wissen verschwinden mit ihm, das kann er nicht weitergeben, aber seine Eigenschaften kann er an die Nachkommen vererben – im Fall meiner Vorfahren Hartnäckigkeit, fürchterlichen, beinahe selbstzerstörerischen Starrsinn; die Kraft des Geistes; die Ansicht, dass die Mahlzeit spartanisch sein muss und das Wasser zum Waschen kalt; die Völlerei an Feiertagen; die Ablehnung jeglicher Staatsmacht; die Treue zur eigenen Überzeugung, auch wenn sie einem selbst und den Verwandten schadet; sentimentale Liebe zu Musik und Dichtung und starrköpfiges Beharren auf läppischen Dingen; grausame Aufrichtigkeit und die Unfähigkeit, pünktlich zu sein; die Reinheit der Absichten, der Wunsch, allen zu helfen, und der Hass auf die Nachbarn; Liebe zur Stille und gleichzeitig zum Lärm des Familiengeschreis; die Fähigkeit, ohne Geld auszukommen und irrsinnige Ausgaben für Geschenke zu machen; das völlige Drunter und Drüber im Haushalt und die unerbittliche Forderung an die Familie, die eigenen Sachen wegzuräumen. Und die grenzenlose Liebe zu kleinen Kindern, vor allem wenn sie schlafen in all ihrer Schönheit.

Meine Urgroßmutter Asja starb mit 37 Jahren an einer Sepsis, sie hinterließ sechs Kinder. Ihr Mann, mein Urgroßvater Ilja Weger, ein Arzt, ging zum Fluss, um sich zu ertränken. Er glaubte, er sei schuld am Tod seiner Frau. Fünf Kinder rannten ihm hinterher und holten ihn am Ufer ein. Das Kleinste, das sechste, wurde von der Ältesten getragen, von Wera. Sie alle hängten sich ihm an den Hals, hielten ihn zurück. Bei Asjas Beerdigung folgte die achtjährige Tochter Walentina ihrem Vater wie ein Schatten und flüsterte vor sich hin: »Mein ganzes Leben werde ich dir nachlaufen.« Fast alle wurden sie Revolutionäre in der Illegalität, mein Urgroßvater war Bolschewik, Kämpfer für die Rechte der Unterdrückten. Er arbeitete als Arzt für die Fabrikdirektion, aber zu ihm kamen in Strömen alle kranken armen Leute aus der Werksiedlung und den Dörfern. Er nahm aus Prinzip kein Geld für die Behandlung. Er hatte nur sein Gehalt. Weil er aber alle Unterdrückten behandelte und eigentlich nur für das höhere Fabrikpersonal zuständig war, wurde er entlassen. Neue Arbeit fand er lediglich, wenn eine Epidemie ausbrach – die Cholera oder die Pest, dann wurden alle Ärzte angestellt, sogar solche, die in der Verbannung lebten.

Sobald ich sprechen konnte, sagte ich »Dedja« zu ihm.

Die Wegers

Ich bin im Hotel Metropol geboren. Kurz nach der Revolution wurde es das »zweite Haus der Sowjets« genannt, denn die Hotelzimmer bewohnten nun die alten Bolschewiki. Zu ihnen gehörte mein Urgroßvater Ilja Sergejewitsch Weger, Mitglied der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei seit 1898. Dort lebte nach ihrer Scheidung auch seine Tochter, meine Großmutter Walentina Iljinitschna Jakowlewa, Mitglied der Partei seit 1912, mit ihren beiden Töchtern Wera und Walentina, meiner zukünftigen Mutter.

Alle drei waren wunderschön, wie im Märchen. Meine Baba Walentina wurde von dem Dichter Wladimir Majakowski verehrt, als er jung war, aber sie zog ihm den Studenten Nikolai Jakowlew vor. Ihre erste gemeinsame Tochter Wera war, als sie heranwuchs, das schönste Mädchen in der Militärakademie (die Haut so weiß wie Schnee, lange Zöpfe, tiefblaue Augen), und der zweiten Tochter, die wie meine Großmutter Walentina, Walja, hieß, liefen auf der Straße ständig irgendwelche Kavaliere hinterher, vor allem Soldaten. Dabei war sie erst vierzehn. Alle Fragen, wie sie heiße und wo sie wohne, beantwortete sie einfältig, verriet aber nie, wie jung sie war, und das ärgerte ihre Mutter und ihre Schwester. Sie war die Jüngste in der Familie, und alle hielten sie für ein unerfahrenes, naives Kindchen, obwohl sie fleißig lernte, bergeweise Bücher verschlang und später an der Fakultät für Literatur studierte. Auf ihrem Schreibtisch stapelten sich die Bände (allein über das Mittelalter drei riesige Chrestomathien). Sie befasste sich so tiefgründig und ernsthaft mit Literatur, dass profanes Lesen ihr wie eine Entweihung vorkam. Über die Nichte der dritten Frau ihres Großvaters, meines Dedja, die in der Hungerzeit oft ins Metropol zu ihm kam, um sich Bücher zu holen, sagte sie ironisch: »Klarer Fall, ein turgenewsches Mädchen, sitzt auf einer Bank am See und hält einen Roman in der Hand.« In Wirklichkeit aber war die Nichte wegen des Abendbrots gekommen.

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Die Familie Weger auf einem Spaziergang 1912.
Meine Großmutter Walentina trägt eine weiße Bluse. Hinter ihr mein Urgroßvater Ilja Weger (Dedja) und mein Großvater Nikolai Jakowlew. Dedja war nicht glücklich, als seine Töchter heirateten. Das erklärt wahrscheinlich seinen grimmigen Gesichtsausdruck.

Literatur war für die junge Walja ein Objekt des Studiums! Heimlich liebte sie den frühen Gorki.

Doch dann geschah es, dass dieses naive, ernsthafte und völlig unschuldige Mädchen an ihrem 21. Geburtstag, es war der 23. August 1937, auf der Datscha im Silberwald schwanger wurde.

Als Kind hörte ich mit eigenen Ohren, was sie unserer dickbäuchigen Hausmeisterin sagte, die im achten Monat war und darüber klagte, dass sie ewig nicht hatte schwanger werden können. Wir standen am Tor, und Mama zeigte lachend auf mich: »Bei mir hat’s gleich beim ersten Mal geklappt …«

In jenem Sommer 1937 wohnte die Familie im Silberwald. Dort stand die staatseigene Datscha von Wladimir Weger, dem ältesten Bruder meiner Baba, ebenfalls ein alter Bolschewik. Er war Leiter der Parteizelle der Russischen Revolutionären Arbeiterpartei im Moskauer Stadtbezirk Krasnaja Presnja und einer der Organisatoren des berühmten Barrikadenaufstandes von Krasnaja Presnja im Jahr 1905. Sein Parteiname war »der Wolgaer«.

Ich wohne und schreibe zwischen den Moskauer Metrostationen Barrikadnaja (»Barrikade«) und Straße des Jahres 1905. Und niemand weiß, dass diese Bezeichnungen von meinem Großonkel Wladimir Weger stammen, diese herausgerissenen Pflastersteine und die Barrikaden, die Skulptur Der Pflasterstein – die Waffe des Proletariats. Bis zum heutigen Tag holpern die Moskauer Busse zwischen dem Platz des Aufstands und der Metrostation Barrikadnaja über einen historischen Pflasterstein.

Der Wolgaer hat übrigens den 15-jährigen Jüngling Wladimir Majakowski in die Partei aufgenommen, woraufhin dieser für kurze Zeit ins Butyrka-Gefängnis kam und anschließend wieder aus der Partei austrat.

Majakowski ging in Wladimir Wegers Haus ein und aus und lernte dort dessen jüngere Schwestern Wera und Walja kennen. Und in meine Baba Walja hat er sich auf der Stelle verliebt.

In unserer Familie kursiert eine Legende, die besagt, dass Majakowski und sein Freund, der Avantgardekünstler Dawid Burljuk, aus diesem Haus in Mädchenblusen auf die Straße traten – Majakowski in der berühmt gewordenen gelben, Burljuk in einer lilafarbenen. Meine Mutter hat mir erzählt, dass die beiden jungen Männer diese Blusen von den beiden Schwestern bekommen hatten – aber die Mädchen waren klein von Wuchs, und Majakowski war riesengroß. Deshalb zweifle ich an der Aussage meiner Mutter. Vielleicht haben die Jungen die Mädchenblusen nur zum Spaß angezogen.

Außerdem hat mir meine Mutter erzählt, dass sie im Jahr 1930 mit ihrer Mutter in der Straßenbahn saß, als Majakowski einstieg. Baba soll zu ihm gesagt haben: »Das ist meine Tochter.« Der Dichter habe erschöpft und müde ausgesehen, erzählte sie. Es war sein letztes Lebensjahr. Im April 1930 hat er sich erschossen.

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Meine Mutter Walentina und meine Tante Wera 1930.
In diesem Jahr trafen meine Mutter und meine Großmutter im Trolleybus den Dichter Wladimir Majakowski.
Er machte einen erschöpften und betrübten Eindruck.
Ein paar Monate später beging er Selbstmord.

Im Jahr 1937 baute sich Wladimir Weger am 42. Kilometerstein der Kasaner Eisenbahnstrecke in einer Wissenschaftler-Kooperative ein Sommerhaus, die besagte staatliche Datscha im Silberwald aber schenkte er seiner Schwester Walja (meiner zukünftigen Großmutter) und ihren Töchtern Wera und Walja (meine zukünftige Mutter).

Im Frühling dieses verdammten Jahres 37 geschahen schreckliche Dinge in unserer Familie. Im Mai wurde Großmutters Bruder Jewgeni Weger, genannt Shenja, verhaftet und verhört, er war Mitglied des Politbüros der Ukraine und Sekretär des Odessaer Gebietskomitees der Partei. Ebenfalls verhaftet und erschossen wurde die jüngste Schwester Jelena, genannt Lena. (Sie hatte viele Jahre das Sekretariat von Michail Kalinin, dem damaligen Staatsoberhaupt der Sowjetunion, geleitet. Sie war das Baby, das von der Ältesten getragen wurde, als der Vater sich im Fluss ertränken wollte.) Verhaftet und hingerichtet wurde der Mann von Asja, einer weiteren Schwester meiner Großmutter. Die Hinrichtung durch Erschießen wurde damals euphemistisch mit den Worten »zehn Jahre ohne Recht auf Briefkontakt« umschrieben. Asja selbst wurde ein Jahr später abgeholt, sie hat viele Jahre im Gulag gesessen.

Die übrigen, die noch nicht verhaftet waren, warteten wie erstarrt auf ungebetene Gäste. Das war reine Folter.

Jede Nacht schreckte meine Großmutter von Geräuschen hoch: Ein Auto hält vor dem Haus, die Gartenpforte wird geöffnet, und es sind deutlich Schritte auf dem Kies zu hören …

In dieser Zeit kamen sie immer nachts, um die Menschen zu holen, die Wohnungen wurden versiegelt und ihre Bewohner nie mehr gesehen.

In der Vorstellung meiner Großmutter kam jede Nacht jemand von der Pforte über den knirschenden Kies. Aber keiner drang ins Haus ein. Also hieß es warten. An Schlaf war nicht zu denken. Und hinauszugehen und nachzusehen hatte Baba nicht den Mut.

Sie suchte einen Psychiater auf. Er sagte: »Bleiben Sie bei uns in der Klinik, hier sind Sie außer Gefahr.« Und sie blieb. Offenbar war das ihre Rettung, sie wurde nicht verhaftet.

Meine Großmutter, meine liebste Baba, war eine selten kluge und umsichtige Frau. Sie wusste, dass alle geholt werden – außer nachweislich psychisch Kranke.

Die wunderschöne junge Frau ihres Bruders Shenja, Solange Korpatschewskaja, eine Pianistin, zur Hälfte Französin, wurde nach der Verhaftung ihres Mannes ebenfalls abgeholt – sie verlor im Gefängnis von den nächtlichen Verhören den Verstand und wurde freigelassen.

Als Dedja sie besuchte, schluchzte sie ununterbrochen, ganz grau geworden in jungen Jahren, saß sie erschöpft und ausgemergelt auf dem Bett. Sie schrie unzusammenhängendes Zeug. Mein Urgroßvater war Arzt. Aber er setzte sich nicht zu ihr, sondern wandte sich ab und ging wortlos weg. Ich weiß nicht warum. Mag sein, dass er selbst die ganze Zeit in seinem Innern schreien wollte, sich aber mit letzter Kraft beherrschte. Sie, die Irre, hatte die Freiheit zu weinen. Shenja war Dedjas Hoffnung gewesen, sein ganzer Stolz; mit Lena hatte er seine Jüngste, sein geliebtes Töchterchen, verloren. Vielleicht fehlte ihm die Kraft zu einem Schmerzensschrei.

Das weitere Schicksal seiner Schwiegertochter war schrecklich – Solanges Mutter nahm sie und den kleinen Sohn zu sich und brachte beide in die Ukraine. Da begann der Krieg, und die Deutschen kamen. Solange, ihr Sohn und ihre Mutter wurden mit vielen anderen Juden bei lebendigem Leib begraben.

Aber das war später.

In der Zeit, die ich hier beschreibe – Sommer 1937 –, saß Solange noch in Haft, von Lena, Shenja und Asjas Mann kam keinerlei Nachricht. (Wir erinnern uns an die Umschreibung »ohne Recht auf Briefkontakt«.) Shenja und Lena waren am 23. und 24. Mai 1937 verhaftet worden. Am 3. September wurde Lena erschossen. Shenja am 21. November.

Vor Kurzem hat mir jemand erzählt, dass die Beschuldigten, die sich weigerten zuzugeben, Spione zu sein, und die kein Geständnis unterschrieben, mehr gequält und später hingerichtet wurden als die anderen.

In diesem schrecklichen Sommer also hielt sich meine Familie auf der Datscha im Silberwald versteckt.

Meine Mutter hat mir erzählt, dass Stefan, mein zukünftiger Vater, der wie sie Student des IFLI war, des Instituts für Philosophie, Literatur und Geschichte, in jenem Sommer zu ihr auf die Datscha kam.

Später erfuhr ich, dass mein Vater aus dem Nikolajewer Gouvernement stammte, aus dem Dorf Werchnije Rogatschiki, und dass viele Mitglieder seiner großen Familie Tuberkulose hatten. Er selbst kam krank nach Moskau, völlig mittellos, wie Lomonossow, aber da er von armen Bauern abstammte und hervorragende Fähigkeiten besaß, durfte er an der Arbeiterfakultät und danach am Moskauer IFLI studieren. Er hatte aber kein Dach überm Kopf. Zu einem Arzt ging er offensichtlich nicht. Wahrscheinlich hatte er Angst, man würde ihn ins Krankenhaus einweisen und er verlöre ein Jahr. Er war hochgewachsen, sympathisch und hatte Locken. Meine Mutter, eine eifrige Studentin der Fakultät für Literatur, war hübsch, zurückhaltend, ernsthaft, hatte keinerlei Lebenserfahrung und saß ständig über ihren Büchern. Außerdem lebte die Familie dieses liebreizenden Geschöpfs im besten Haus der Stadt, im Hotel Metropol. Mehr noch, die Mutter dieses jungen Mädchens hatte früher im Kreml gearbeitet und danach im Komitee für Wissenschaft. Und ihre Schwester studierte an der Militärakademie. Ich glaube, dass mein Vater aus diesem Grund große Angst vor der Familie hatte und sich mit meiner Mutter nur außerhalb des Hauses traf.

Ich halte es deshalb für sehr wahrscheinlich, dass Stefan nachts, unbemerkt von der Mutter und der Schwester seines geliebten Mädchens, heimlich, still und leise aus dem letzten Trolleybus stieg, zur Pforte kam, über den Kies zu ihrem Fenster schlich und sie leise zu sich rief. So erkläre ich mir die nächtlichen Geräusche, die meine Baba hörte. Die Schritte, die niemals mit einem Klopfen an der Tür endeten!

Meine Baba hatte also keine Halluzinationen, sie war psychisch völlig gesund.

Das ist meine Version des Geschehens.

Die Schritte im Kies hat es tatsächlich gegeben, aus der Datscha im Silberwald wurde jedoch nie jemand abgeholt und in die Lubjanka gebracht.

Am 26. Mai 1938 wurde ich geboren, ungefähr neun Monate nach Mamas Geburtstag.

Zum Glück bin ich nicht in der Wohnung eingeschlossen worden, wie es oft mit Babys von Verhafteten geschah. Ich wuchs an der Seite meiner lieben Baba auf, die mir die Bücher der großen russischen Schriftsteller vorlas, aber davon später.

Ungefähr zwei Jahre nach diesen von mir beschriebenen Ereignissen im Silberwald fuhren meine Verwandten einmal nach Moskau ins Hotel Metropol und entdeckten, dass die Tür zu ihrem Zimmer versiegelt war. Baba war vorausgegangen und hatte versucht, die Tür zu öffnen, was ihr nicht gelungen war. Da drehte sie sich auf der Stelle um und kehrte ihrer Wohnung für immer und ohne ein Wort den Rücken …

Meine Tante Wera ihrerseits, die nach ihrer Mutter ins Hotel gekommen war, trat beherzt an die Tür und sah, dass um die Türklinke ein Draht gewickelt war, an dem eine Plombe hing.

Wären die drei früher nach Hause gekommen, hätte man vielleicht auch sie weggebracht. Sie kamen aber, wie immer, zu spät.

Unsere Familie kommt ständig zu spät, von Generation zu Generation.

Aus ihrem Zuhause, dem Metropol, waren schon viele verschwunden. Einmal hatte meine Tante gesehen, wie ihre Wohnungsnachbarin weggebracht wurde. Sie war Sekretärin des Gebietskomitees der Partei, kam oft nach Moskau und stieg dann immer mit einem Trupp Männer, ihren Gehilfen, im Metropol ab. Auf der Schwelle zu ihrer Wohnung erblickte Tante Wera die Nachbarin in Begleitung zweier Männer: Der eine, der Uniform trug, ging voran, der andere, in Zivil, ging hinter ihr. Sie nahm an, die beiden seien die Gehilfen der Nachbarin.

Wera begrüßte sie freudig, weil sie ja nichts Schlimmes vermutete. Aber die Nachbarin wandte sich mit zusammengepressten Lippen ab.

Später sagte Wera ahnungslos zu ihrer Mutter: »Anna Stepanowna wurde von zwei Männern aus ihrer Truppe begleitet.« Meine Baba nickte nicht einmal mit dem Kopf.

Ohne Kleider, ohne Hab und Gut, ohne Bücher, ohne Möbel, Decken und Geschirr mitzunehmen, ganz zu schweigen von den Bildern, wandten die drei sich von der versiegelten Tür ab, gingen zu Dedja, der in einem anderen Aufgang des Metropol wohnte, und quartierten sich bei ihm ein.

Ich erinnere mich noch gut an Großmutters alte Wohnung im Metropol, sie bestand aus zwei zusammenhängenden Zimmern mit einer Verbindungstür. Über dieser Tür hing ein Bild: Auf dem smaragdfarbenen Hintergrund sah man das Profil einer Frau mit gebogenem Hals und leuchtend rotem Haar, das wie ein Helm auf ihrem Kopf saß.