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Inhalt

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Titel

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Kapitel IX

Kapitel X

Kapitel XI

Kapitel XII

Kapitel XIII

Kapitel XIV

Kapitel XV

Kapitel XVI

Kapitel XVII

Kapitel XVIII

Kapitel XIX

Kapitel XX

Kapitel XXI

Kapitel XXII

Kapitel XXIII

Kapitel XXIV

Kapitel XXV

Kapitel XXVI

Kapitel XXVII

Kapitel XXVIII

ANHANG

Autorenporträt

Übersetzerporträt

Kurzbeschreibung

Impressum

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Im Frühjahr 1943 begann die Prinzessin aus der Gundulićeva Nummer Soundso zu zaubern. Sie wollte unsichtbar werden. Welcher oder wessen Gott ihr bei dem Unterfangen half, ist nicht überliefert.

Die Zeiten waren so, dass Prinzessinnen sich nichts sehnlicher als eine Tarnkappe wünschten. Man muss wohl kaum dazusagen, wie viel Hoffart aus diesem Wunsch spricht.

In puncto Hoffart reichte sowieso kein anderer Anwohner der Gundulićeva an Ruth Tannenbaum heran.

Die Zimmerdecken in vier Meter Höhe waren vergilbt vom Zigarettenqualm. Der Vater rauchte, bevor sie ihn auf die Reise schickten. Die Mutter rauchte, bevor sie auf die Reise geschickt wurde. Sogar der Großvater rauchte, starb jedoch, bevor er auf die Reise geschickt werden konnte.

Ruth Tannenbaum hatte mit ihren fünfzehn Jahren nichts zum bernsteinfarbenen Plafond beigetragen. Aber unter den gelblich-braunen Zimmerdecken stand sie sechs Monate lang furchtbare Ängste aus. Deswegen wollte sie sich verzaubern.

Unfassbar, diese Hoffart!

Ruth Tannenbaum hätte es fast geschafft. Als sie auf die Reise geschickt werden sollte, war nur noch der rechte Fuß sichtbar. Alles andere sah man nicht.

Immerhin etwas, sagten die Zuständigen beim Reiseveranstalter, ein Fuß ist nicht nichts, also ließen sie Ruth Tannenbaums rechten Fuß zum Güterbahnhof eskortieren.

Was für ein Anblick! Ein weißes Kleid schwebte über einem Fuß zum Güterbahnhof.

Ein Fuß kletterte in den Güterwaggon. Wir fahren nach Indien, dachte Ruth Tannenbaum, da sind Kühe heilige Tiere, und schon spürte sie, wie ihr eine feuchte Rinderzunge die rechte Sohle ableckte. Und lachte zum letzten Mal.

Sie war hoffärtig und nicht besonders klug, die Prinzessin; wer glaubte im Frühjahr 1943 schon an eine Reise nach Indien?

Nein, der Zug fuhr nach Polen. Im Waggon war es dunkel und stank entsetzlich, und die Unsichtbarkeit half wenig gegen die Angst. Überhaupt, was hat eine Prinzessin davon, wenn sie in ihrem weißen Kleid unsichtbar ist, aber alle Welt ihren rechten Fuß sieht?

Und wenn sie nicht gestorben wäre, das zu sagen wäre nicht falsch, würde sie heute noch so leben. Ruth Tannenbaum erreichte weder Indien noch Polen. Sie verschied unterwegs, während sie an eine feuchte Rinderzunge dachte, die ihre rechte Fußsohle ableckt.

Ein Ausbund an Hoffart, diese Prinzessin.

Seht das Kleid, womöglich trägt Ruth Tannenbaum es noch. Doch wo ist ihr rechter Fuß versteckt?

I

Wir schreiben das Jahr 1920. Wie jeden Nachmittag betrat Salomon Tannenbaum den Österreichischen Kaiser, der seit zwei Jahren nicht mehr so hieß, nur benutzte keiner der Stammgäste, auch Salomon Tannenbaum nicht, den offiziellen, vom Stadtrat beschlossenen Namen Drei Hirsche. Er warf wie jeden Nachmittag seinen Hut quer durch den Raum, traf wie jeden Nachmittag den Kleiderhaken und rief: »Moni kommt zum österreichischen Kaiser!«, was die versammelten Trinkbrüder normalerweise mit einem: »Er lebe hoch!« quittierten. Damit war das nächste gemeinschaftliche Besäufnis eröffnet, wie es im Österreichischen Kaiser seit König Petars Tagen, seit dessen Truppen Zagreb befreit hatten, Tradition war. Die Männer soffen, nicht weil es etwas zu feiern gab, sondern weil sie nichts Besseres zu tun hatten. Als würden sie auf etwas warten, nur worauf, das wusste keiner.

Heute jedoch antwortete keiner auf Salomon Tannenbaums Ausruf: »Moni kommt zum österreichischen Kaiser!«, sein Hut flog Richtung Garderobe quer durch einen totenstillen Raum, die Gäste starrten unverwandt auf ihren Stamper oder Bierkrug, als wäre Salomon Luft und nicht eben hereinspaziert, als würde er nicht einen Arrak plus eine Scheibe Meerrettich bestellen und zu seinem Stammplatz schlendern, als würde er sie nicht auffordern, ihm Gesellschaft zu leisten. Sie stellten sich taub und blind.

»Was ist denn in euch gefahren?!«, blökte er schließlich.

Zwei Männer, hochgewachsen und bärtig der eine, der andere ein kleiner grauer Typ mit Hut, traten an seinen Tisch. Der eine wollte den Ausweis sehen, der andere verpasste ihm, bevor Moni auch nur die Hand nach der Brieftasche ausstrecken konnte, eine Maulschelle. Salomon Tannenbaum fragte nicht, weder damals noch später, warum sie ihn schlugen, ihm im Untergeschoss der Gendarmerie am Zrinjevac mit geschulter Präzision Stockhiebe auf die Fußsohlen verabreichten, während er wie am Spieß brüllte und um Hilfe bettelte. Und gleichzeitig in einem entlegenen Winkel seines Hirns der Gedanke: Gut, dass die Wände so dick sind und mich keiner hört, ich müsste mich ja schämen für mein Geschrei. Dass er nicht wusste, wofür sie ihn schlugen, kaufte ihm keiner ab.

Ach, Salomon, Moni, du hast so viel Verstand in der Birne wie ein Bettler Safran im Brei!

Die einen sagen, er sei nach fünf Tagen wieder freigekommen, andere halten das für eine Übertreibung, am nächsten Morgen schon hätten sie ihn im Park vor der Gendarmerie gesehen. Ihn selbst konnte man nicht fragen, Salomon erinnerte sich nicht, er war danach monatelang wie ein Irrer durch Zagreb gerannt und wollte keinen mehr kennen. Ob die Prügelstrafe nun fünf Tage oder eine Nacht dauerte, sie wurde so fachmännisch durchgeführt, dass er keine Haut mehr auf den Fußsohlen hatte. Wenigstens den Vorteil hatte die Affäre: Salomon Tannenbaum lernte, auf Händen zu gehen. Anders wäre er nicht nach Hause gekommen. In die Gundulićeva.

Weil er leichenblass und so zu Tode erschreckt, dass es für drei Leben gereicht hätte, das Bett hütete, verpasste er die Ereignisse am Hauptbahnhof, die allerdings etwas mit seiner Verhaftung zu tun hatten. Unter den Klängen dreier Nationalhymnen rollte auf Gleis 1 eine Lokomotive mit drei Waggons ein, in denen Aleksandar, der taufrische Thronfolger eines taufrischen Königreichs, und ein bunt zusammengewürfelter Tross von Offizieren, Adjutanten, Admirälen, Ordonnanzen, Clanchefs und Financiers des neu gegründeten Nationalstaats saßen, während der kroatische Ban, Matko Laginja, mit feuchten Augen, ein Redemanuskript in den verschwitzten Händen, auf die Bande in Prunkuniformen wartete. Als Aleksandar aus dem Zug kletterte, schlotterten dem armen Mann die Knie in der Frühlingssonne, und dann bemerkte Ban Laginja zu seinem Entsetzen blaue Farbe an seinen Händen und dass die Schrift auf dem Blatt Papier verlaufen war. Derart tintenbefleckt durfte seine Rechte auf keinen Fall die Hand eines Prinzen schütteln! Als der Thronfolger schließlich vor ihm stand, brachte er kein Wort heraus und starrte ihn an, als hätte sein letztes Stündlein geschlagen. Seine Frau, eine ausgesprochen resolute Person, rettete die verfahrene Situation, ähnlich schmerzhaft wie die Stockhiebe auf Salomons Fußsohlen, schob ihren Gatten beiseite und wandte sich mit folgenden Worten an den Prinzen: »Euer Hoheit! Wir überreichen Euch weder Salz noch Brot, schließlich kommen Euer Hoheit nach Hause!«

Mit diesen Worten, zugegeben im Sinn des Protokolls ausgeschmückt und ohne die peinlichen Begleitumstände zu erwähnen, ging die Frau des Bans in die Schulbücher ein, und in den folgenden Jahrzehnten war der Satz von Aleksandars Zuhause für die kroatische Hauptstadt und die kroatischen Stämme das Maß ihres jugoslawischen Patriotismus.

Was Salomon Tannenbaum betrifft, dem kam der Österreichische Kaiser nie mehr über die Lippen, auch nicht als Name einer Restauration, die wenig später ohnehin geschlossen und von einer Eisenwarenhandlung abgelöst wurde. Und weil sich keiner der Gäste an Drei Hirsche gewöhnen konnte, bekam bei hochrangigem Belgrader Besuch in Zagreb einer nach dem anderen die Füße versohlt, ob sich nun ein königlicher Gesandter, General oder Minister ansagte.

Salomon Tannenbaum trumpfte nie wieder auf, und wenn er den Hut Richtung Garderobe schleuderte, warf er absichtlich jedes dritte Mal daneben.

Acht Jahre später folgte eine riesige Menschenmenge dem Sarg von Stjepan Radić hinauf zum Mirogoj. Begleitet wurde das sommerliche Begräbnis des ermordeten Volkstribuns von einem Großaufgebot Gendarmen, Beamten in Zivil und Spitzeln, die auf jede noch so belanglose Provokation lauerten. Sie hätten jeden Revoluzzer herausgeholt, der im Schutz der Masse Parolen gegen das Königspaar gerufen hätte, doch sie lauerten vergebens: Aus Sicht der Ordnungshüter war es eine stinklangweilige Veranstaltung, nichts als gelegentliche Schluchzer und das Geräusch Tausender Füße zu hören, die in gummi- oder lederbesohlten Schuhen gemessenen Schritts voreinander gesetzt wurden. Und das klang, sobald man die Augen schloss, weitaus schlimmer als ein vereinzeltes Nieder mit dem König!, denn mit geschlossenen Augen war es, als würden Millionen Radić die letzte Ehre erweisen, und ein Blinder hörte aus jedem einzelnen Schritt die ohnmächtige Wut, den aufgestauten Hass und die überbordende Rachsucht heraus.

Wir wissen nicht, was Salomon Tannenbaum ausgerechnet zu der Zeit am Friedhofseingang verloren hatte, jedenfalls stand er da, seine Augen schweiften von den Spitzeln und Gendarmen hinüber zum Trauerzug und wanderten von da wieder zurück, und mit der Blickrichtung wechselte seine Gemütsverfassung: Ruhten seine Augen auf der Menschenmenge, die sich auf Tausenden Sohlen vorwärtsschob, fuhr ihm der Schreck in die Glieder und sein Herz schlug für die Ordnungshüter, doch sah er wiederum deren vom Hass verzerrte Mienen, die ihm das Blut in den Adern gefrieren ließen, fühlte Salomon Tannenbaum mit den Bauern aus Slawonien und der Lika, die um ihren toten Anführer trauerten und die Fäuste in den Taschen ballten. Salomon Tannenbaum hatte Gewissensbisse, weil er sich wie immer nicht entscheiden konnte. Seinem eigenen Empfinden nach stand er stets auf der falschen Seite.

Einige Monate nach der Beisetzung hielt er um die Hand von Ivka Singer an, der Tochter des Lebensmittelhändlers Abraham Singer aus der Mesnička. Sie klimpere, hieß es in Zagreb, wie Kleingeld in der Hosentasche eines Millionärs, denn sie hatte die dreißig überschritten und wäre ohne Salomon Tannenbaum sitzengeblieben, obwohl die zierliche Frau mit ihrem hellen Teint und den pechschwarzen Haaren keineswegs unattraktiv aussah: gleichsam ein Tropfen spanischen Blutes auf dem Asphalt der Ilica. Nie haben größere Augen auf Zagreb geblickt. Männer verliebten sich in diese Augen, Frauen machten sich darüber lustig, und Kinder fürchteten sich davor. Die großen Augen schlichen sich in ihre Träume, wurden Stoff ihrer Albträume; mehrere Generationen wuchsen in den Straßen rund um die Ilica auf, die Ivka Singers Augen mit Angst und Zähneklappern gleichsetzten. Doch nicht wegen der kindlichen Albträume blieb sie lange unverheiratet. Im Gegenteil, ihre Augen lockten so viele Heiratskandidaten, dass der alte Singer auf einen immer noch besseren Bräutigam für seine Tochter hoffte.

Die Liste aller Verehrer wäre zu lang, doch an einige sollte man sich erinnern, solange es lebende Singers und Tannenbaums und Klatschbasen unter deren Bekannten gab. Kurz nach Ivkas fünfzehntem Geburtstag eröffnete Abraham Singers Dubrovniker Geschäftspartner Mosche Benhabib den Reigen; zwischen den Männern hatte sich dank ihrer vierzigjährigen Handelsbeziehung so etwas wie Freundschaft entwickelt. Mosche besaß Häuser in Dubrovnik und Florenz, Landgüter in Ungarn, Slawonien und dem Banat, sein Vermögen war größer als das der Singers je gewesen war oder werden sollte, und er war seit Langem Witwer, hatte seine Rieke gefreit als ganz junger Kerl, der vor Kraft strotzte und derart von sich eingenommen war, dass er ihren letzten Atemzug kaum beachtete. Seine Geschäfte ließen ihm fortan keine Zeit zum Heiraten, und als ihm mit beinah achtzig – viel zu spät – auffiel, dass ihm die Zeit davonlief, suchte er eine, die ihn bis zur Schwelle des Jenseits geleitete und zuvor einen Erben schenkte.

»Ich werd nicht mehr sein lang auf der Welt«, sagte er, »ich bereit der Kleinen eh nicht lang Müh, und ein Vermögen werd ich ihr hinterlassen, dass du sie mit dem Prinzen von Abessinien wirst verheiraten können.«

Abraham Singer kam in der Nacht nicht zur Ruhe und tat auch die nächste und übernächste kein Auge zu. Sieben Tage und sieben Nächte verbrachte Ivkas Vater schlaflos, dann sagte er Mosche, er gebe ihm seine Tochter nicht.

»Ich würd mein Kind auch nicht geben einem Greis«, erwiderte der, »ich bin dir nicht gram, ich wünsch dir nur, du wirst nicht eines Tages bereun, dass sie nicht mit mir ist gekommen, und dein Tochterlein auch nicht.«

Schwer zu sagen, wann es Abraham zum ersten Mal reute, ob nach einem Monat, als Mosche in Dubrovnik starb und sein Vermögen, weil weder ein Testament noch irgendwelche Verwandten existierten, an den Staat fiel, oder später, als reihenweise arme Schlucker um seine Tochter anhielten.

Mosche Benhabib wurde im Hause Singer nicht erwähnt, zu bitter war die Erinnerung, nicht einmal im Scherz fiel sein Name, die ganzen Kriegs- und Nachkriegsjahre über nicht, während ein Reich unterging und ein neues entstand, man nichts zu beißen hatte und die Spanische Grippe wütete, überall gestorben wurde, an Krankheiten oder einem Übermaß an Gesundheit, und man nicht wegkam, nicht fliehen und sich in Sicherheit bringen konnte, weil das Geld nicht einmal für eine Schiffspassage dritter Klasse reichte. Das war das Schlimmste.

Ach, Mosche, wärst du doch ein bisschen früher gestorben und hättest nie um ihre Hand angehalten. Oder, besser noch, ein paar Jährchen länger gelebt, dann müssten wir nicht ständig an dein Geld denken …

Der erste Nachkriegsbewerber um Ivkas Hand, Major Ismael Danon, diente beim Königlichen Sanitätskorps, gebürtiger Belgrader, geschliffene Manieren, gepflegtes Äußeres, doch der alte Singer wies ihm die Tür, weil er den Major zu laut fand, als dass der wirklich so vornehm sein konnte, wie er tat. Wohl ein Hochstapler, dachte Singer, der wird, kaum verheiratet, sein wahres Gesicht zeigen: das eines grobschlächtigen Serben. Damals imponierten ihm die Befreier und Vaterlandsvereiniger kaum, die Zagreb überschwemmten und sich in der Stadt den eingetrockneten Matsch von den Stiefeln liefen. Singer witterte hinter ihrer Befreierei und Vereinigerei ein undurchsichtiges, aber darum nicht weniger übles Spiel. Er wies also Major Danon die Tür und nahm Ivkas Tränen in Kauf, denn die Kleine hatte sich über beide Ohren in das serbische Großmaul verliebt, doch als es längst zu spät war, Ismael Danon gebrochenen Herzens seine Versetzung nach Skopje beantragt und genehmigt bekommen hatte, erzählte einer von Singers Spitzeln zufällig, warum der Major so laut redete: In einer der Schlachten an der Salonikifront explodierte eine Granate direkt neben ihm, seither war er auf dem rechten Ohr taub und auf dem linken schwerhörig. Der Major schrie also, weil er sich anders nicht hörte. »Warum hat er das nicht gesagt«, schrie der alte Singer, »warum lässt er mich in dem Glauben, er wär ein Krakeeler und Hasardeur«, und in seinem Zorn rempelte Singer eine Kiste Orangen an, sie fiel herunter, und die leuchtenden Früchte kullerten den vier Lumpen, die jahrelang in Zagreb und Umgebung Grüne Kader gejagt hatten und jetzt Parteigänger der Karađorđevićs waren, zwischen die Füße.

»Euch zahl ich keinen Heller«, blaffte Singer sie an, »und wenn ihr mir den Laden in Brand steckt und die Fenster einschlagt!«

Missmutig und beleidigt spionierten sie fortan für andere Auftraggeber. Die Idee, Singers Laden abzufackeln und dessen Schaufenster einzuschlagen, muss selbst in ihren Ohren abwegig geklungen haben; so weit war es noch nicht, die Zeit war noch nicht reif, noch konnte so etwas keinem außer dem alten Singer einfallen. Und auch er, nur um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, war kein Prophet, er hatte bloß schwache Nerven und faselte manchmal so wirres Zeug, als stünde er unter Morphium, und sah Gestalten, die außer ihm keiner sah. Gott weiß, welche Altvorderen ihm die Idiotie und Hysterie vererbt hatten, jedenfalls war Abraham Singer dafür berüchtigt.

Ein oder zwei Jahre nach dem Zwischenfall mit dem tauben Major und Bewerbern, deren Namen und Schicksale längst verblichen und ausgelöscht sind aus jedweder Erinnerung, trat der Ex-Priester Emil Kreševljak über die Schwelle des singerschen Hauses. Abraham kannte ihn von früher, weil er bei ihm siebenhundert Päckchen mit kandiertem Obst und Quittenbrot für bosnische Waisenkinder bestellt hatte, woraufhin Singer drei Tage lang Päckchen packte, nur um sie auf Hochwürden Kreševljaks Geheiß hin wieder auszuwickeln und einzeln auszuwiegen, damit ja kein Kind zu kurz käme. Kreševljaks Gerechtigkeitssinn hatte etwas Finsteres, das Singer hinterher als das große Böse beschrieb, welches aus nichts als Güte besteht. Es dauerte drei weitere Tage, bis mit Billigung des Priesters feststand, dass die kandierten Himbeeren auf jedes Päckchen in derselben Menge verteilt waren.

Und dann, Jahre später, trat Emil Kreševljak in einem nach neuester Pariser Mode geschneiderten Anzug aus Rohseide samt Einstecktuch, diamantengeschmückter Krawattennadel und Rasierwasserwolke vor Abraham Singer und erläuterte weitschweifig und so pedantisch, wie er seinerzeit auf dem Auswiegen von Früchten und Quittenbrot bestanden hatte, warum ihm der Alte seine Tochter geben solle, und Singer lauschte gebannt, obwohl er im Vorhinein wusste, dass er seine Tochter niemals einem solchen Mann, und sei er der letzte Bräutigam auf Erden, überlassen würde.

Emil Kreševljak führte seine geistliche Berufung ins Feld, erziehe sie doch zu lebenslanger Verantwortung und einem Sinn für Ordnung. Gott liebt Ordnung, das sei die erste Lektion im Priesterseminar gewesen. Warum er die Soutane ausgezogen habe, sei seine Privatsache und gehe niemanden etwas an, nicht einmal nächste Anverwandte. Dem Mysterium, das einen Mann zum Hirten bestimme, korrespondiere das Mysterium, das ihn in die Herde zurückführe, schwadronierte Kreševljak und warf seine Angel nach der schönen Ivka Singer aus.

Es sei um seine Keuschheit geschehen gewesen, gleich am ersten Tag, da er sie sah, damals, als er die Päckchen für die Waisenkinder bestellte.

Als der Bewerber das zugab, platzte in Abraham Singer eine bittere Frucht und schwappte durch seine Eingeweide. Aber er sagte nichts, zog nicht einmal die Augenbrauen zusammen wie ein magenkranker Neurotiker, dem jeden Herbst und Frühling sein chronischer Ulkus einfällt. Von Rechts wegen hätte er den schwabbeligen Ex-Priester mit seinem wichtigtuerischen Genäsel an diesem Punkt vor die Tür setzen, aus den Augen und dem Sinn verbannen müssen, so wie heitere Gemüter einen nächtlichen Albdruck wegwischen, doch in Zagreb geschieht nichts von Rechts wegen, Zagreber sagen nie, was sie denken, und daraus erwächst ihr Unglück. Und welches Recht hätte schon gar ein Abraham, der jüdische Schuft, wie ihn die Säufer-Rosa nannte, seit sie ihren täglichen Liter Wein nicht mehr auf Pump bekam, weil sie seit zwanzig Jahren anschreiben ließ und nie etwas abbezahlt hatte. Also warf der alte Singer Emil Kreševljak nicht hochkant hinaus, sondern hörte sich seine Gründe an, warum er der Richtige für seine Tochter sei.

»Schwere Zeiten, Herr Singer«, seufzte Kreševljak, »schwer, sehr, sehr schwer. Doch es wird noch ärger kommen«, er reckte sich wie ein Gockel und setzte sofort wieder seine kummervolle Miene auf, »vor allem für die, die nicht an Christus glauben, Sie, Herr Singer, sind ja ein guter Mensch, gereichen sich und Ihrer Familie zur Ehre, aber Sie wissen ja, wie es ist, die Menschen hungern, Elend auf Schritt und Tritt, unter solchen Umständen kommen solche wie Sie immer als Erste unter die Räder. Sie brauchen Schutz, Herr Singer, und hier ist die Gelegenheit: Ich habe mich in Ihre Tochter verliebt, für sie habe ich mein Gelübde widerrufen, ich will keine andere. Wenn Sie mir Ivka zur Frau geben, hält der Herr seine schützende Hand auch über Sie, und keiner wird Sie mehr nach Herkunft und Glaubensbekenntnis fragen. Wenn ich sie heiraten darf, sind Sie ein freier Mann.«

Der Alte hörte zu, lud ihn sogar zum sonntäglichen Mittagsmahl ein, ließ Emil Kreševljak neben Ivka sitzen, aber ihre Hand gab er ihm nicht.

»Lassen Sie uns Freunde bleiben«, sagte Singer während des Essens, »aber meine Tochter ist nichts für Sie.«

Kreševljak nagte gerade an einem Hühnerflügel, verschluckte sich, hustete und wollte etwas sagen, doch Singer beugte sich über den Tisch und legte ihm die Hand auf den Arm: »Hühnerknochen können gefährlicher sein als Fischgräten. Bitte, ich will Sie nicht auf dem Gewissen haben.«

Wenig später kam der nächste Kandidat, der Student Hajim Abeatar. Abraham fragte nach seiner Familie und bekam zur Antwort, Vater und Mutter seien tot, nahe Verwandte habe er keine und zu den entfernteren den Kontakt abgebrochen. Reich sei er nicht, doch das Stipendium einer jüdischen Stiftung aus Sarajevo treffe zuverlässig ein, sodass er ohne Geldsorgen fertig studieren und eine Anstellung suchen könne.

»Und warum sollte ich dir meine Tochter geben?«, fragte Singer.

»Weil es langsam Zeit wird, dass sie unter die Haube kommt«, erwiderte der junge Mann achselzuckend.

Er blieb in Erinnerung, weil er als Einziger nichts versprochen und nichts verlangt hatte. Hajim war blass und unscheinbar, weder klein noch groß, und ging ein wenig krumm; solche vergisst man schnell, auch wenn er keinem außer der Sarajever Stiftung auf der Tasche lag.

Wer weiß, vielleicht wäre er der Richtige für Abrahams Tocher gewesen.

Danach wurde es still um Ivka, die Nachbarn fragten sich schon, was mit ihr nicht stimme, und dann kam Salomon Tannenbaum.

II

Während über ihr die Hochzeitsgesellschaft von Herrn Moni mit dem hübschen Fräulein Ivka tanzte, wechselte Amalija Morinj, die Frau des Weichenstellers Radoslav Morinj, die kalten Umschläge auf Stirn und Brust ihres einzigen Sohns. Antun hatte seit vier Tagen hohes Fieber, die Mutter wusste nicht, was dem Jungen fehlte, und der Vater war noch bis nächsten Montag auf Arbeit in Novska. Amalija Morinj hatte kein Geld für den Doktor, genaugenommen hatte sie gar kein Geld, weil ihr der Mann keins daließ. Lebensmittel konnte sie bei Stuck anschreiben lassen, Radoslav beglich die Summe zwei Mal pro Monat beim Ladenbesitzer. Er durfte Amalija kein Geld dalassen, denn sie gab es sofort aus und kaufte nicht selten sinnlose, überteuerte Dinge dafür. Morgen war für Amalija weit weg, sie schob den Gedanken daran weit von sich, und wenn sie ihn doch einmal an sich heranlassen musste, war sie zu Radoslavs übergroßem Kummer verloren, fing an, hysterisch zu schreien und zu heulen, so schrill, dass die Blumentöpfe mit Stiefmütterchen von den Balkonen der Nachbarn auf die Straße fielen und die Franziskanerinnen vom Kaptol kommen, sie im Kloster pflegen und ans Bett fesseln mussten. Es war besser, Amalija gegenüber nicht von morgen zu reden und ihr kein Geld dazulassen.

Am ersten Tag hatte Antun Bauchweh gehabt, am zweiten Kopfweh, am dritten Tag redete er nicht mehr, wurde stattdessen immer heißer, ein Vulkan, ein Mini-Vesuv, über dem nun die jüdische Hochzeit gefeiert wurde. Amalija wäre hochgegangen und hätte um etwas Rücksicht gebeten, das Kind ist krank, aber sie wollte Herrn Moni nicht das Fest verderben, wo er doch so gut war und jedem Nachbarn half, egal welchen Glaubens. Wenn Antun, das arme Kind, stöhnte und unverständliche Laute von sich gab, verfluchte Amalija das Judengesindel, doch kaum wurde ihr Augenstern ein wenig ruhiger oder schlief sogar ein, packte die Mutter die Angst vor der Hölle, weil sie Sünderin Böses gedacht hatte von Herrn Moni und seiner Frau Ivka, die ihr nur Gutes getan hatten und vielleicht gar keine Juden waren, woher sollte sie, ein Landei aus der Lika, schon wissen, wer Jude ist und wer nicht, wer konnte so etwas überhaupt wissen außer dem Pfarrer, dem Bischof und dem lieben Gott.

Doch dann stöhnte Antun wieder, woraufhin Amalija die Hände zusammenschlug und rief: »Dem sollte man mit dem Schürhaken die Leber rausreißen, der Gottes Sohn ans Kreuz genagelt hat!«

Und dann wurde Antun vollkommen ruhig, ruhig und reglos, stiller denn je, seine Mutter war einen kurzen Moment verwirrt, dann stieß sie einen schrillen Schrei aus, so schrill, dass in der ganzen Gundulićeva vom Botanischen Garten bis zur Ilica Blumentöpfe auf die Straße stürzten und vor den Füßen irritierter Bürgersleute und erboster Gendarmen, die eine Gewerkschaftsaktion dahinter vermuteten, in tausend Stücke zersprangen.

Salomon Tannenbaums Hochzeitsfeier wurde zunächst nicht abgebrochen. Dann kamen schwarz gekleidete Männer ins Haus, schweigsame Herren mit gezwirbelten Bärten, die nach Schnaps, Knoblauch und faulen Birnen rochen, sowie Franziskanerinnen, die Amalija Morinj über Nacht betreuten, bis anderntags der Vater in seiner Eisenbahneruniform einträfe, die Kappe auf dem Haupt. Der Stationschef von Novska persönlich begleitete ihn, ohne zu verraten, wohin es ging und warum. Radoslav Morinj aus Zelenika, der Weichensteller, dachte, sein Versetzungsgesuch sei endlich positiv entschieden, jubelte innerlich und fingerte während der Fahrt fortwährend an seinem Kragen herum, böse auf Amalija, die ihm nicht genug Wäsche zum Wechseln eingepackt hatte, sodass er nun mit einem ungewaschenen, speckigen Hemd zur Hauptverwaltung musste. Erst als sein Vorgesetzter am Zagreber Hauptbahnhof die entgegengesetzte Richtung einschlug und schließlich in die Gundulićeva bog, schwante Radoslav Böses.

»Amalija wird sich doch kein kochendes Wasser übergeschüttet haben?«

»Keine Ahnung«, antwortete Ahmo Husedinović aus Banja Luka, der Bahnhofsvorsteher von Novska.

»Wie oft hab ich ihr gesagt, sie soll das Wasser vorsichtig vom Herd nehmen. Kochendes Wasser gibt schlimmere Verbrühungen als siedendes Öl, nicht?!«

»Damit habe ich keine Erfahrung.«

»Aber ich!«

»Hm.«

»Hat sie sich die Pulsadern aufgeschnitten?«

»Keine Ahnung.«

»Wissen Sie es nicht oder haben Sie Angst, es zu sagen?«

Der Chef biss sich auf die Lippen, Tränen in den Augen, und wich dem Blick seines Untergebenen aus.

»Ist sie am Ende tot?«

»Nein.«

»Was dann?«

Er bekam keine Antwort, die letzten paar Meter bis zur Hausnummer elf gingen sie schweigend. Aus der Kellerwohnung hörten sie Amalijas Schrei, der ihnen durch Mark und Bein ging, Radoslav Morinj rannen Tränen übers Gesicht, schlagartig drangen ihm die Erdhäufchen längs der Straße, die Tonscherben und zertretenen Stiefmütterchen auf dem Bürgersteig ins Bewusstsein, und er wusste, was geschehen war.

Der Sohn der Morinjs wurde am nächsten Tag auf dem Mirogoj beigesetzt. Außer den bärtigen Männern, die nach Schnaps, Knoblauch und faulen Birnen rochen, und den Klageweibern folgten einzig Moni und Ivka Antuns kleinem Sarg, die anderen Nachbarn blieben fern. Sie kannten die Familie Morinj nicht, weil die Bewohner der oberen Etagen die der Kellerwohnungen üblicherweise ignorierten, und wer im Keller hauste, tat seinerseits so, als sähe er die aus den oberen Stockwerken nicht, um nicht für einen Strauchdieb oder Bettler gehalten zu werden, der das Terrain auskundschaftet.

Nachdem der Pfarrer Antuns unschuldige Seele Gott empfohlen und für sein ewiges Leben gebetet hatte, spülten die Männer den Tod in der Friedhofskaschemme mit Schnaps hinunter, wollten ihn mit Hochprozentigem ablenken, damit er ihnen nicht nach Hause folgte, während die Frauen am frischen Grab wehklagten, wie sie es bei den unzähligen Beerdigungen in ihrer karstigen oder morastigen Heimat gelernt hatten, links des Erdhügels die Frauen aus der Gegend um Knin, rechts die von der Küste. Sie brauchten keinerlei Rücksicht zu nehmen, die Männer hatten sich verdrückt und die Kindsmutter war erst gar nicht gekommen. Sonst hätte die alte Regel gegolten, dass keine lauter als die nächste Anverwandte – Mutter, Schwester oder Ehefrau – schreien durfte. Amalija jedoch lag weltabgeschieden in einem historischen Gemäuer inmitten stiller Wälder am Sljeme und starrte zu den himmlischen Gestalten im Deckenfresko hinauf. Meist schwieg sie wie betäubt, und wenn sie an ihr Kind dachte und in Tränen ausbrach, redeten die Nonnen auf sie ein, nur Gott sei ewig, Weinen eine Sünde und jede ihrer Tränen falle wie ein Tropfen flüssiges Blei auf den Leib Christi.

Amalija Morinj blieb ein halbes Jahr im Sanatorium. Radoslav besuchte sie, wenn er frei hatte, setzte sich an ihr Bett, nahm ihre Hand, fragte, ob es ihr ein wenig besser gehe, sie nickte, und dann schwiegen sie, bis die Dämmerung einsetzte, bis Schwester Angelina kam, ihre Hand auf seine Schulter legte und ihm damit bedeutete, für heute sei Schluss. Sechs lange Monate hörte er die Stimme seiner Frau kein einziges Mal und befürchtete schon, das würde so bleiben.

Eines Nachts, er war gerade aus Novska von der Arbeit zurückgekommen, erschien ihm Amalijas Mutter im Traum; dabei war Anđa Blatušina schon tot gewesen, als er Amalija kennengelernt hatte. Im Traum hatte er Angst, Anđa würde ihn verwünschen und ihm vorwerfen, er hätte besser auf ihre Tochter aufpassen müssen, er rannte weg, doch wohin er auch rannte, sie erwartete ihn, hob ruhig den Arm und streichelte ihm sacht die Wange. Er rannte und rannte und sie tat keinen Schritt und stand immer vor ihm. Als er erschöpft vom Rennen hinfiel, sagte die Verstorbene: »Lass sie, mein Sohn, sie kommt nicht wieder. Du musst sie loslassen …« Was sie danach noch sagte, hatte Radoslav Morinj nach dem Aufwachen vergessen.

Er glaubte dem Traum nicht, ging am nächsten Tag zur Beichte, um ihn dem Pfarrer anzuvertrauen, besuchte seine Frau, fragte, ob es ein wenig besser gehe, und dann schwiegen beide, bis der Abend dämmerte.

Amalija wurde unverhofft und unangekündigt an einem Montag entlassen. Radoslav war in Novska, sie stand in der leeren Wohnung, stand im Zimmer, der vertraute Geruch stieg ihr in die Nase, und damit sie nicht losheulte, holte sie mit einem Eimer Wasser aus dem Hof, schrubbte die Böden, zerrte alle Kleidung aus dem Schrank, legte sie neu zusammen und schlichtete sie ordentlich wieder in die Fächer, dachte an ihren Radoslav, den armen Rade, seine kräftigen Arme, seine geliebten Arme, Arme wie Ahornäste, knorrige Äste, die kein Hemd ordentlich zusammenlegen konnten. Über solchen Gedanken wurde ihr leichter ums Herz, viel leichter, federleicht, während der Geruch allmählich auslüftete und Rades Unfähigkeit, Wäsche zusammenzulegen, wirklicher wurde als der Gedanke, dass es den kleinen Antun nicht mehr gab.

Vielleicht hatte es ihn nie gegeben.

Dann fiel ihr ein, dass Rade erst Freitagabend zurückkam, und der Freitagabend war fern, dazwischen lag ein morgen und noch ein morgen und noch eins, und ihr wurde bang bei dem Gedanken, wie fern Freitagabend war.

Um nicht an Freitagabend zu denken, ging sie zu Stuck und wollte etwas zu essen kaufen, aber Frau Greta, die dumme Gans, aufgebrezelt wie eine Puffmutter, pfui, Frau Greta, die deutsche Hexe, die mit Stricknadeln ungeborene Kinder wegmachte, ließ sie nicht anschreiben. »Sie sind plemplem«, sagte Greta und zog den Schal über Nase und Mund, als wäre das ansteckend, »Sie sind plemplem und bestimmt aus dem Sanatorium ausgebüchst.«

»O nein, ich bin nicht verrückt, aber du bist eine blöde Kuh. Weißt du, wie viel Dinar mein Mann und ich hier schon gelassen haben?!«, schrie Amalija Morinj. Abgesehen vom Beten waren es ihre ersten Worte seit sechs Monaten.

Sie versuchte es in drei weiteren Geschäften, wurde überall abgewiesen und kehrte nach Hause zurück. Die Speisekammer war leer, Rade hatte weder Zwiebeln noch Mehl, weder Kartoffeln noch sonst was dagelassen, wer weiß, dachte sie, ob er sich in all den Monaten je was gekocht hat, und bekam ein schlechtes Gewissen. Sie hoffte, sie könnte es bis Freitag schon aushalten, aber ein Tag und noch ein Tag verging, und dann war der Hunger so schlimm, dass sie betteln gehen wollte.

Sie lief über den Jelačić-Platz und die Treppen zum Dolac hoch, an der Kathedrale vorbei über den Kaptol und dann stadtauswärts, wo die Häuser niedriger werden und Gärten voller Gemüsebeete haben, zwischen denen Federvieh herumpickt. Doch sobald sie die Hand ausstreckte und: Erbarmen, der Herr, helfen Sie einer Mittellosen!, sagen wollte, schoss ihr der Gedanke durch den Kopf: Und wenn mich jemand erkennt?, und ihre Hand zuckte zurück, als hätte sie auf eine heiße Herdplatte gefasst.

Dann dachte sie, ich klaue ein Huhn, ein ganz kleines, halb verhungertes, das in der Hackordnung ganz unten steht, ein Märtyrerhuhn, das keinem gehört. Kurz darauf bekreuzigte sie sich, betete mehrere Vaterunser und Ave-Maria und rief den Herrgott und die heilige Jungfrau an, ihr die Sünde zu vergeben.

Wieder legte sie sich mit knurrendem Magen ins Bett, und am nächsten Morgen stieg sie ins Erdgeschoss und klopfte an Herrn Monis Tür. Noch während sie überlegte, was sie sagen sollte, ging die Tür auf, und im Türrahmen stand Frau Ivka mit ihren riesigen kohlschwarzen Augen, den größten Augen der Welt, und einem hochschwangeren Bauch, lange konnte es nicht mehr dauern. »Ich habe Hunger«, sagte Amalija, aber sie hatte ihren Hunger fast vergessen, so sehr beschäftigte sie Frau Ivkas für alle sichtbarer Sündenfall, denn geheiratet wurde vor sechs Monaten, und das Kind da im Bauch war älter.

»Oh, Sie sind wieder da«, lächelte Ivka, um ihre Angst zu verstecken, die Angst, die Verrückte könnte ihr etwas antun, sie in den Bauch treten.

»Ja, Gott sei Dank, aber Rade ist nicht zu Hause, er ist auf der Arbeit, und ich habe Hunger«, sagte Amalija rasch und ließ sich den Hass auf die Schönheit und mehr noch auf den Bauch der großäugigen Sünderin nicht anmerken.

Ivka Tannenbaum gab Amalija Morinj an jenem Morgen Kartoffeln, Mehl, Eier und eine Kalbskeule. Mehr aus Angst denn aus Wohltätigkeit, vielleicht deshalb gewann die Kalbskeule einen so herausragenden Stellenwert für ihre Familie.

III

Gott verzeih mir, wenigstens ist es kein Sohn!«, sagte Amalija, als Rade erzählte, dem Nachbarn sei eine Tochter geboren worden.

Rade fröstelte, ihm kroch die Kälte ins Herz, aber er fragte nicht nach. Das hatte er nach der Rückkehr seiner Frau aus dem Sanatorium lernen müssen, denn was sie auf Nachfragen erwiderte, war so finster und kalt, dass es ihn fror wie im tiefsten Winter.

Das Kind der Tannenbaums kam im Sommer zur Welt. Sie nannten es Ruth, weil Abraham Singer es so wollte. Er verriet nicht, wieso er diesen wollte und keinen der alten wie Rahel oder Sarah und keinen neumodischen wie Josipa, Bara oder Višnja. Seiner Tochter hatte er ja auch einen ausgefallenen Namen gegeben, Ivka, dachte Salomon Tannenbaum, und nahm die Wahl widerspruchslos hin. Also hieß das Mädchen Ruth wie die biblische Ruth aus Moab, König Davids Urgroßmutter, die dem Gott der Israeliten treu ergeben war.

Zum Glück wusste Moni nichts von der Ruth aus Moab, denn hätte er es, hätte das nichts geändert, aber er hätte sich noch mehr Sorgen gemacht. Den alten Singer umgaben so schon genug böse Vorzeichen, bei den gelegentlichen Sonntagsessen musste sich Moni Singers über die Hühnersuppe gebeugten Nacken ansehen, das Pling des Löffels im Porzellanteller anhören, manchmal liefen sie sich zufällig in Kajzerica über den Weg, meist am Sabbat, wenn Singer nicht arbeitete; Moni dachte an das Kaddisch für Herrn Rosenzweig, den Singer unter der Eisenbahnbrücke über die Save gesprochen hatte, wo weder Gras noch Unkraut wuchs und der Rosenzweig, der Teufel soll ihn holen, im Winter 1918 von den Brüdern Sremec aus Varaždin zusammengeschlagen wurde und starb, Rosenzweig hatte sie angezeigt, weil sie marodierende Grüne Kader in der Wohnung versteckten; Moni dachte an den dünnen Bart und die Kippa, dachte an das Mittagessen, bei dem Abraham wortlos aufstand und fortging, weil Moni »Jesses« herausgerutscht war, »Was hat er?«, hatte er Ivka gefragt und keine Antwort bekommen, obwohl sie es genau wusste; Moni wollte Singer los sein, fall doch in die nächstbeste Grube, geh vorüber wie ein böses Omen, das man vergisst, wenn das Unheil ausbleibt, schimpfte Moni in Gedanken, während Abraham zum ersten Mal seine Enkelin im Arm hielt und tränenüberströmt unverständliche Segensworte auf Hebräisch, Ungarisch, Aramäisch oder was auch immer brabbelte. Salomon Tannenbaum hoffte, dass Singers Tränen nicht in Ruths Augen tropften, die stündlich, täglich, monatlich wuchsen, jetzt schon fand der Vollmond bequem darin Platz, selbst verheult waren die Augen riesig, sie werden einmal größer sein als die ihrer Mutter, Augen, die vorläufig nur schauen und nicht wissen, was sie sehen.

IV

Ruth Tannenbaum war keine zehn Monate, da begann sie zu sprechen. »O je«, sagte sie, »wenn ich vorher gewusst hätte, wie viel Zorn und Kummer ihr habt, hätt ich mich nicht so leicht vom Storch überreden lassen.«

Vielleicht sagte sie es nicht selbst, vielleicht erfand Ivka Ruths ersten Satz, um Moni zur Vernunft zu bringen, er sollte endlich begreifen, dass er Vater geworden war, sich endlich benehmen wie andere Väter, was sagen, wenn man ihnen den Weg versperrte, statt einen Bogen um die Leute zu machen und Gott anzuflehen, sie möchten ihn übersehen.

Salomon Tannenbaum lachte nicht über Ruths erste Worte, sondern warf dem Kind einen flüchtigen Blick zu, schlich an dessen Bettchen vorbei ins andere Zimmer und ließ sich stundenlang nicht mehr blicken. Dann verließ er wie jeden Abend möglichst unbemerkt das Haus, floh voller Schuldgefühle und Ängste, die noch keinen Grund hatten, in die Vororte Črnomerec oder Kustošija, verrufene Viertel, wo ihn keiner kannte, wo er in Kneipen verkehrte, deren Publikum aus Taschendieben, Polizeispitzeln, Schiebern, Verkäufern von geschmuggeltem herzegowinischem Tabak, Messerstechern, Geld- und Lotteriescheinfälschern, Mördern, Ausbrechern, Wiederverkäufern russischer Ikonen und Lieferanten von serbischem Slibowitz bestand, und erzählte Geschichten, die nichts mit dem Leben von Salomon Tannenbaum zu tun hatten. Die ande-ren Gäste wollten reich werden, wollten wirklich eine Bank überfallen und mit der Beute nach Amerika türmen, oder sie wollten sich rächen oder einen aus dem Weg räumen, wollten jemandem einen Denkzettel verpassen oder ihn gleich totschlagen, ihnen war ernst damit, Salomon Tannenbaum hingegen tat nur so, wollte nur mithalten, nicht klauen oder töten und abhauen. Umso dreister klangen seine geplanten Beutezüge, um so brutaler die Pläne für Racheakte.

In Črnomerec nannte er sich Emanuel Edler von Keglević, gab sich als Spross eines Adelsgeschlechts aus, enterbt von der bösen Stiefmutter, die ihn ins Priesterseminar geschickt und mit fieser List und Tücke gezwungen hatte, das Gelübde abzulegen und zugleich seinem Adelstitel und sämtlichen Vermögensansprüchen zu entsagen, dafür sogar den Wiener Erzbischof, ihren Intimfreund, einspannte und sich Finten ausdachte, die den Zuhörern den Atem raubten. Sie hätte das nur schaffen können, weil er fest gewesen sei im Glauben an den einen dreifaltigen Gott, spann Moni die fantastische Erzählung weiter, aber als er den Betrug endlich, endlich begriff, hätte er Rache geschworen, Priesteramt und Soutane von sich geworfen und einen Plan ausgearbeitet, um sich seinen Anteil zurückzuholen. Klar würde er für seinen Verrat an dem, den keiner verraten dürfe, in der Hölle schmoren, aber er gebe das ewige Leben gern für irdische Güter, für Gold und Silber her, zumal er in der ewigen Verdammnis die Stiefmutter samt Busenfreund, dem Wiener Erzbischof, wiedersehen würde und weiterhin piesacken könnte.

Salomon Tannenbaum war klein und schwächlich, hatte eine Hühnerbrust und ging ein wenig krumm, doch wenn er als Emanuel von Keglević auftrat, hatten selbst Muskelprotze, Schieber und notorische Schläger vor ihm Respekt. Gab es Streit und Tannenbaum oder vielmehr von Keglević hob die Hand, verstummte ein Dutzend schwerer Jungs, um seine Meinung und sein Urteil zu hören. Die Bogdanović-Brüder aus Kupres, vier altgediente Einbrecher, die schon unter den Osmanen steckbrieflich gesucht, aber nie von der Polizei aufgespürt wurden, glaubten ihm aufs Wort, und Grga Markulinović, der zwei Jahre zuvor eine tschechische Familie – Vater, Mutter und drei Kinder – in Opatija ausgeraubt und erschlagen hatte und dem die Todesstrafe blühte, sollte er gefasst werden, klagte ihm sein Leid: »Ich träume von dem Kind, Herr von Keglević, Sie können sich nicht vorstellen, wie es klingt, so einen kleinen Schädel einzuschlagen, noch dazu von einem Mädchen, das verfolgt mich, ich kann nicht mehr schlafen, das ist ein Geräusch, wie wenn man eine reife Paprika in der Hand zerquetscht.«

»Dann geh doch in die Petrinjska und stell dich«, erwiderte Emanuel von Keglević kalt, und Moni – Klein-Moni, Angsthasen-Moni, der sanftmütige Moni – staunte über das Scheusal, das aus seinem Mund und vielleicht auch aus seinem Herzen sprach. Wenn er sich gegen Morgen auf den Heimweg machte, legte Tannenbaum oder vielmehr von Keglević oder Moni oder vielmehr Emanuel seine Manneskraft wieder an die Kandare.

Gewöhnlich lag er um halb vier neben Ivka im Bett, stand um sechs auf und saß ab Viertel vor sieben im Schreibbüro von Gjorgjije Medaković am Zrinjevac, wo er in kyrillischer oder lateinischer Schönschrift, bei Bedarf auch in Sütterlin, Beschwerden, Zeugnisse, Bitt- und Empfehlungsschreiben, Anzeigen und Forderungen verfertigte. Frühmorgens dominierte noch der katholische, draufgängerische Emanuel von Keglević, doch der schrumpfte, bis gegen Mittag nur noch Angsthasen-Moni übrig blieb und dem täglichen Kontrollgang seines Arbeitgebers entgegenzitterte, in panischer Furcht, Herr Gjorgjije Medaković könne ihn, den kleinen Schreiber, am Ohr vom Stuhl ziehen und fristlos kündigen, und zwar aufgrund der Tatsache, dass Salomon Tannenbaum 1920 vor dem ersten Zagreb-Besuch des Thronfolgers den österreichischen Kaiser angerufen und dafür Hiebe auf die Fußsohlen kassiert hatte, also ein aktenkundiger Verbrecher war. Monis rechtes Ohr leuchtete, ohne dass es Medakovićs kräftige Finger je berührt hätten, stets röter als das linke.

Doch der Chef sagte nur: »Ach, Salomon, Moni, du hast so viel Verstand in der Birne wie ein Bettler Safran im Brei!«, und alle im Raum lachten. War er mit seinem Chef allein, lachte Moni mit.

Einen Tag nach Ruths ersten Worten oder denen, die sich Ivka ausgedacht hatte, drückte sich ihr Vater nicht am Bettchen vorbei ins andere Zimmer, sondern setzte sich das Mädchen auf den Schoß und erklärte ihr die Welt.

»Wer ist denn mein kleines Mäuschen, wem gehört denn das kleine Näschen, wer hat die größten Augen in Agramstadt, oi, oi, oi, schreckliches Wort, Agramstadt, da machst du dir in die Hose! Hat Papas Prinzessin Kacka in der Hose? Ach nein, nein, hat sich der Papa nur eingebildet. Papa bildet sich immer so was ein, aber wir sind ihm nicht böse, ja? Nein, wir nehmen es ihm nicht übel, Papa ist nur vorsichtig, er weiß halt nie, wann die kleine Prinzessin Kacka in der Windel hat.«

Ruth wollte sich aus seinen Armen winden, also drückte er sie fester an sich. Papas Kinn war so stachelig wie der Igel in Crikvenica, den sie einen Sommer später anfasste, wie ein Zweig vom Himbeerstrauch oder die Nadeln im roten Nadelkissen. Papas Kinn war so stachlig wie all diese Dinge, Vergleiche, die Ruth allerdings noch nicht hatte, sodass sie Angst bekam und losbrüllte. Moni versuchte sie zu beruhigen, indem er sie noch fester an sich drückte, wodurch seine Stacheln noch ärger in Ruths Händchen und Wangen stachen. Der ganze Papa bestand für sie aus Stacheln. Damit hatte sie wahrscheinlich sogar recht. Seit seine Tochter geboren war und er bei den nächtlichen Sauforgien in Črnomerec und Kustošija Menschen gefunden hatte, für die er Emanuel von Keglević war, trachtete Salomon Tannenbaum zusehends weniger danach, seinem Leben Sinn zu geben, etwas zu hoffen oder an etwas zu glauben. Er hatte nur seine Angst, die ihn von innen heraus piekste wie sein Kinn Klein-Ruth.

Ein oder zwei Stunden lang versuchte er Ruth die Welt zu erklären, dann schlug ihn ihr Gebrüll in die Flucht.

»Überlass sie mir«, sagte Ivka, und er schlüpfte nur zu gern in das graue Samtjackett, das einst für seinen Wiener Neffen Ferdi zur Matura-Feier geschneidert, dann aber, weil eine Nummer zu klein, Moni geschenkt wurde, der, das fanden alle, darin wie ein russischer Graf auf Entzug aussah, weswegen das Jackett hervorragend zu Emanuel von Keglević passte, und der gab sich, wohl weil Moni nicht verwinden konnte, dass er Ruth zum Weinen brachte, noch am selben Abend unglaublich brutal.

Es war bei den Prodans zu Hause, fast schon in Podsused. Ein gutes Dutzend Männer, überwiegend solche, mit denen Emanuel von Keglević schon länger verkehrte, saß an dem Eichentisch mit dem Hausherrn darauf, Krsto Prodan, der schon den siebten Tag im Koma lag, und so saßen sie nicht in der Kneipe, sondern bei ihm, tranken Schnaps, rauchten, redeten über Gott und die Welt und warteten, bis Krsto zu sich kam oder für immer ging. Seine Frau träufelte ihm Wasser zwischen die Lippen, wusch ihn und zog ihm frische Sachen an, während er weder tot noch lebendig dalag und keine Reaktion zeigte, auch nicht, als ihm Jozina Bogdanović, mit fast hundert der älteste der Brüder aus Kupres, die Ohrmuschel zerfetzte oder mit dem Daumennagel über den Augapfel ratschte. Nur das Gesicht rötete sich leicht, die Venen an den Schläfen schwollen an, aber vielleicht bildete sich das auch nur ein, wer Krsto Prodan für einen Simulanten hielt, der sich bewusstlos stellt, um seine Schulden nicht zurückzuzahlen. Das ganze Jahr kerngesund, und grad wenn das Geld fällig wird, haut’s ihn beim Hirschen auf die Schnauze. Dabei hatte er weder über Unwohlsein geklagt noch irgendwelchen Alkohol angerührt. Sie brachten ihn heim, sagten Ilonka, seiner Frau, wer aus Kupres kommt, erlasse keinem die Schulden und ihm schon gar nicht, er sei schließlich reich genug, um alles einschließlich Zinsen zu zahlen, das solle sie ihm bitte stecken, wenn er es ihnen schon nicht glauben wolle.

Jutarnji list, Novosti Politika