Cover.jpg

Inhalt

[Cover]

Titel

Widmung

NOP (1) – No Operation

public static Life one(){ return null; }

NOP (2) – No Operation

NOP (3) – No Operation

Download-History

NOP (4) – No Operation

Dawntastic: RoseFlower // sbTC123! // Naqvil

public static Life two(){ return null; }

NOP (5) – No Operation

Dawntastic: Toboggan

Dawntastic: Julrosen

NOP (6) – No Operation

Dawntastic: Yayoii5

public static Life three(){ return null; }

MOV (1) – Move

public static Life four(){ return null; }

MOV (2) – Move

MOV (3) – Move

www.toboggan.eu/Voyager

MOV (4) – Move

www.toboggan.eu/Toboggan_Goll

www.toboggan.eu/Lavinia

MOV (5) – Move

www.toboggan.eu/Makro

MOV (6) – Move

WFE (1) – Wait for Event

WFE (2) – Wait for Event

Chaotic Good/Chaotic Neutral

WFE (3) – Wait for Event

Dawntastic: нести 145

www.toboggan.eu/Lübben

public static Life five(){ return null; }

WFE (4) – Wait for Event

public static Life six(){ return null; }

SEV (1) – Set Event

www.toboggan.eu/Dermatozoenwahn

SEV (2) – Set Event

www.toboggan.eu/HarryInBarcelona

SEV (3) – Set Event

www.toboggan.eu/Biometrie

SEV (4) – Set Event

Elevator Pitch/TechBus

SEV (5) – Set Event

www.tbggn.me

NEG (1) – Negate

NEG (2) – Negate

www.toboggan.eu/DämonischePräsenz

NEG (3) – Negate

TechBus Etappe 1: Berlin – Wien

www.toboggan.eu/Möwenflügel

TechBus Etappe 2: Wien – Köln

www.toboggan.eu/Sirius

TechBus Etappe 3: Köln – Hamburg

www.toboggan.eu/DrMabuse

TechBus-Finale: Hamburg

www.toboggan.eu/Final

CPS (1) – Change Processor State

www.toboggan.eu/Dachbodenkisten

CPS (2) – Change Processor State

Autorenporträt

Kurzbeschreibung

Impressum

Titel.jpg

Für Ernir

Pixeltänzer

NOP (1) – No Operation

// S-Bahn-Beobachtungs-Statement

if (IsSBahnAccelerating) {

currentSpeed++;

} else {

System.out.println(„Die Frau steht am Fenster.“);

}

Vor meinem Fenster fährt die Ringbahn. Im Sommer rattern die Rollkoffer der Städtereisenden über den Asphalt, und in den Morgenstunden singen bierselige Touristen auf Französisch oder Englisch. Ich arbeite gerne nachts. Die Scheibe ist dunkel und reflektiert meinen Bildschirm, auf dessen Oberkante eine Reihe winziger weißer Plastikvögel steht. Gardinen brauche ich nicht: In mein Zimmer können nur die Passagiere aus den Zugabteilen hineinschauen, und die Bahn fährt fast immer so schnell, dass das Licht meiner Wohnung nur ein Blitz von vielen ist. Manchmal stehe ich nackt vor dem Fenster und rauche. Johannes sagt immer, dass es veraltet sei zu rauchen, wenn man auch vapen könne, aber ich finde die Dampfwolken nicht so undurchsichtig wie den Zigarettenrauch, der langsam durch das Zimmer streift. Sobald ich den Zug heranrauschen höre, blase ich gegen die Scheibe und verschwimme in einer Rauchwolke.

Ich stelle mir vor, in dem Zug sitzt ein Mann, der in die Nacht hinausschaut. Der Waggon riecht nach Kotze und alten Fritten, und eigentlich wollte der Mann sein Fahrrad nehmen, aber das wurde geklaut. Über das sonderbare Muster der S-Bahn-Sitzpolster denkt er schon lange nicht mehr nach, stattdessen wandern seine Blicke genau wie seine Gedanken umher, und er schaut aus dem Fenster des Zuges. Das gelbe Straßenlicht von draußen bricht sich auf der Scheibe an den Fingerabdrücken eines geschäftigen Tages. Sein Blick fließt über die Altbaufassaden, die inzwischen alle restauriert und neu gestrichen sind, als er im dritten Stock ein hell erleuchtetes Fenster sieht. Darin: eine nackte Frau.

Die Umrisse ihres Körpers sind unscharf im Zigarettenrauch. Locken, die sich auf die Schultern ringeln und ein leerer Gesichtsausdruck. Gerade als er sich aufsetzt und versucht, seinen Blick zu fixieren, die Frau mit seinen Augen zu greifen, beschleunigt die Ringbahn und fährt weiter auf ihrem Kreis. Doch das Bild der Frau hinter doppeltem Glas bleibt in seinem Kopf hängen und inspiriert ihn zu irgendetwas furchtbar Analogem, das eine greifbare Spur in der Welt hinterlässt. Ich liebe diesen Gedanken.

public static Life one(){ return null; }

/* Wir haben keine Aufgaben, wir haben Missionen. Nach der Arbeit treffen wir uns zum Grillen auf der Dachterrasse, während die Sonne hinter den Hochhäusern untergeht. Wir sind Code-Zauberer, Php-Ninjas, Hacktivisten und Data-Gurus, wir sind binäre Wanderprediger, und das Team ist alles, was zählt. Bier aus kleinen Brauereien und handwerklich exzellente Burger essen und trinken wir gemeinsam, und das ist nicht Teil des Jobs, sondern Teil unserer Liebe zum Team. Wir sind eine große Familie, und unser Logo ist gelb-rot. */

Ich sitze an meinem Schreibtisch und spiele mit meinem Rubik-Würfel. Die blaue Seite ist fertig. Das freut mich, gestern habe ich Gelb geschafft. Gelb musste ich wieder auseinanderdrehen, um Blau zu schaffen. Weiß, Gelb, Blau, Rot, Grün, Orange. Sechs Farben, fünf Arbeitstage. Am Freitag drehe ich morgens Grün und nach dem Mittag Orange, dann kommt das Wochenende. Wenn eine Deadline bevorsteht, drehe ich samstags Orange und ärgere mich freitags. Beim Drehen trinke ich Kaffee und esse Schokoriegel von der Snackbar. Wenn ich alle Farben durchhabe, fange ich wieder von vorn an.

Fast immer, wenn ich meinen Rubik-Würfel drehe, kommt jemand aus dem Development: Weißt du nicht, dass das nicht funktioniert, wenn man eine ganze Seite farbig macht? Du musst ein Kreuz machen. Wusstest du, dass beim Speedcubing Vaseline auf den Würfel geschmiert wird? Dann kann man ihn schneller drehen. Die beste Lösungsmethode für den Würfel ist ein Algorithmus, den eine tschechische Mathematikerin entwickelt hat. Wusstest du, dass Computer niemals mehr als 20 Züge brauchen, um den Würfel zu lösen? Schlösser knacken und Rubik-Würfel sind heimliche Leidenschaften der Entwickler. Ich antworte nie und drehe einfach weiter meinen Würfel. Ich will eine perfekte Seite, die ich zu mir drehe.

Mein Büro hat ein Panoramafenster, dahinter sieht man die Spree. Beautiful, beautiful, sagen die Geldgeber, während sie durch das offene Büro in den Konferenzraum mit der Milchglastrennwand laufen. Smarte Anzüge – nicht Bank, sondern Tech – und extra schmale Krawatten. Wenn die Krawatten rot sind, male ich mir aus, dass jemand die Geldgeber mit einem Samuraischwert aufgeschlitzt hat und es nur noch eine Frage der Zeit ist, bis ihre Eingeweide über den grauen Betonfußboden kippen.

Der Fußboden ist kalt und hart. In der Ecke steht ein Kicker, daneben ein Flipper, und davor treffen wir uns mit den Kollegen vom Marketing. Wir sitzen auf Loungestühlen in starken Farben, wie auf Vintage-Zirkusplakaten. Das Marketingteam ist besser gekleidet, deswegen sind ihre Schreibtische näher am Gang. Auf dem Bar-Tresen daneben gibt es Club-Mate, Kombucha und eine Cold-Brew-Kaffeemaschine, die den ganzen Tag wie ein kaputter Wasserhahn braune Brühe in einen Glaskolben tröpfelt.

Montags machen wir Stand-up vor den Glasfenstern. Martin, unser Projektmanager, moderiert und grinst dabei, als ob das Kokain vom Samstag noch in seinem Kiefer festsäße. Keiner darf sitzen, alle präsentieren stehend ihre Pitches für die Woche. Ich bin Junior-Quality-Assurance-Tester, und im letzten Feedback-Gespräch hinter der Milchglasscheibe wurde mir eine Can-Do-Ausstrahlung bescheinigt. Beim Stand-up trete ich von einem Fuß auf den anderen und bohre mir die Fingernägel in die Handfläche, während Martin Post-it-Zettel mit Aufgaben an der Milchglasscheibe verteilt. Im Lauf der Woche gehen wir immer wieder zur Glaswand, nehmen die Klebezettel mit den Arbeiten, die wir erledigt haben, und werfen sie zusammengeknüllt in einen weißen Metalleimer. Martin ruft dann laut »Whoop, whoop« und vergibt High-Fives wie ein Seehund im Sea Life Center.

In einem anderen Raum steht ein Aquarium. Hier kann man sitzen und die Fische beobachten, zum Runterkommen. Mit den schallreduzierenden Kopfhörern hört man auch den Nebenraum nicht. Dort stehen die Arcade-Automaten, der ganze Stolz der Firma. Aber hierher dringen die Geräusche nicht. Die Fische schwimmen im Aquarium auf und ab, es sind vor allem Goldfische, gelb-rot, die Farben unseres Firmenlogos.

Es ist Montag, und die weiße Seite des Rubik-Würfels liegt vor mir, als Martin unser Team zusammenruft. Er habe ein Memo, sagt Martin und macht ein aufgeregtes Gesicht, von Alex, unserem CEO. Der trägt immer einen silbergrauen Cashmere-Pullover zu seinem schwarzen Vollbart. Martin liest uns das Memo vor. Alex hat beschlossen, dass nun alle Angestellten zwei Unterteams bilden: gelb und rot. Wir sind jetzt Teil des roten Teams. Martin ist ganz fiebrig und benutzt ab jetzt nur noch rote Post-its, um uns zu motivieren.

NOP (2) – No Operation

#!/usr/bin/env beta

puts ‚Strohfeuer‘

END {

puts ‚Das ist der Anfang‘

}

BEGIN {

puts ‚Das ist das Ende‘

}

Eine Mischung aus abgestandener Luft, in Kleidung festsitzendem Zigarettenrauch, Alkohol und diversen Duftstoffen. Ich war noch nie in dieser Bar, Erik hat sie als Treffpunkt vorgeschlagen. Der Laden heißt Strohfeuer, was eine lustige Anspielung auf dieses Tinder-Date sein könnte, aber Erik ist Schwede und lebt erst seit einem Jahr in Berlin. Er hat zwar im Chat gut Deutsch gesprochen, aber ich bin mir nicht sicher, ob seine Sprachkenntnisse für einen solchen Wortwitz ausreichen.

An der einen Wand der Bar verläuft eine lange Sitzbank, die mit dunkelviolettem Leder gepolstert ist, und dort sitzt Erik. Seine aschblonden Haare hängen ihm im wirklichen Leben genauso perfekt zerzaust in die Augen wie auf seinen Profilbildern. Vor der Bank stehen im gleichmäßigen Abstand kleine schwarze Holztische, und an der grauen Wand dahinter hängen Bilderrahmen mit Fotos von Alleen und Straßenzügen. Sein violett-grauer Pullover sieht teuer aus und passt perfekt zur Wandfarbe. Hätte er nicht die Bar ausgesucht, würde ich es für einen Zufall halten, nun bin ich mir nicht sicher. Die Bilder hinter ihm sind fast alle in der Dämmerung aufgenommen, mit Nebel und verlassenen Parkbänken. Es sieht nach den typischen Instagram-Filtern aus, und auch die abgetönten Farben von Eriks Kleidung wirken, als ob ein Bildbearbeitungsfilter draufgelegt worden sei – genau im richtigen Maße verwaschen.

Ich gehe auf Erik zu und versuche mein Zögern mit zielstrebigen Schritten zu übertönen. Er schaut auf und lächelt schief, während ich den Stuhl nach hinten ziehe und mich mit etwas zu überlegten Bewegungen hinsetze.

»Hey.« Er lächelt immer noch.

»Hallo«, sage ich, wahrscheinlich kein guter Einstieg in ein Gespräch mit einem Fremden. Ich hasse die ersten Minuten mit einem unbekannten Date, diesen Zwang, Dinge zu sagen, wenn ich eigentlich mein Gegenüber nur unverhohlen betrachten möchte.

»Bist du Beta?«

»Ja.«

»Ist das ein Spitzname?«

»Eigentlich heiße ich Elisabeth, aber ich wurde schon immer Beta genannt.«

»Beta klingt so mathematisch. Eigentlich ein perfekter Name für einen Androiden.«

»Die Programmierer auf meiner Arbeit finden ihn super. Aber seitdem ich Qualitätskontrolle für Software mache, hängen mir Beta-Tester-Witze zum Hals raus.«

»Zu mir sagen alle immer nur Erik.« Er trinkt einen Schluck von dem Bier, das vor ihm steht. »Warst du schon mal hier?«

»Nein, noch nie. Ich bin selten in dieser Ecke unterwegs.«

»Ich wohne eine Straße weiter, deswegen bin ich oft im Strohfeuer.«

Es ist tatsächlich seine Stammkneipe, dann hat er wahrscheinlich wirklich seine Kleidung der Wanddekoration angepasst. Zumindest ist er offen und scheint gerne zu reden, was bedeutet, dass ich mich weniger anstrengen muss.

»Lädst du deine Online-Dates öfter hierher ein?«

Jetzt hat es ihm für einen Moment das Lächeln aus dem Gesicht gewischt, aber er fängt sich rasch, professionell. »Nicht allzu oft. Wenn ihnen die Bar so gut gefällt wie mir, dann wird es hier irgendwann unangenehm.«

»Also triffst du regelmäßig Leute, die du per App kennenlernst.«

»Eine Weile lang schon, inzwischen merke ich aber, dass ich immer öfter die Fotos wegwische. Früher haben mich zum Beispiel die Hintergründe von Profilfotos nicht gestört. Das ist jetzt anders. Strandaufnahmen hasse ich oder Aufnahmen von in die Luft springenden Menschen, fliegende Haare, Ober- und Unterschenkel in perfekten 90-Grad-Winkeln – weißt du, was ich meine?«

Ich nicke nur, als er schon weiterredet. »Aber wenn es einen Treffer gibt, versuche ich schnell ein Date zu vereinbaren. Ich habe keine Lust, meine Zeit zu verschwenden.« Sein schwedischer Akzent hat etwas Kindliches, vielleicht überdeckt das seine Kosten-Nutzen-Überlegungen, zumindest stören sie mich dadurch nicht so sehr. Vielleicht habe ich auch nur keine Lust, wieder in die Wohnung zurückzugehen oder noch etwas Besseres für diesen angebrochenen Abend ausfindig zu machen.

NOP (3) – No Operation

#!/usr/bin/env beta

puts ‚Strohfeuer‘

END {

puts ‚Das ist das Ende‘

}

BEGIN {

puts ‚Das ist der Anfang‘

}

Die Sonne scheint, und meine Augenlider sind verklebt. Ich habe mit meinen Fingern unter ihnen langgewischt, um die Wimperntuschereste zu entfernen, obwohl ich immer Angst habe, davon Falten zu kriegen. Es ist ein heller Morgen. Ich sitze an das Fenster gequetscht in der Bahn und versuche verzweifelt, nicht zu viel vom Körper des älteren Herren neben mir zu berühren. Er riecht nach Kaffeesatz und Wurstbrot – unerträglich. Meine Füße kleben ohne Strümpfe in meinen Schuhen und mein Magen fühlt sich dumpf an, meine Muskeln sind steif vom Alkohol der letzten Nacht.

Auf der Fensterscheibe krabbelt eine dicke Fliege träge hin und her. Ich bewege meinen Finger in ihre Richtung, sie fliegt kurz auf, nur um sich direkt wieder auf der Scheibe niederzulassen. Ich beobachte das filigrane Muster ihrer Flügel, die leicht behaarten Beine und die überdimensionierten Augen.

Im Arbeitszimmer meines Vaters hingen früher großformatige Bilder, Makroaufnahmen von Fliegenaugen und Spinnenkörpern, schillernde Oberflächen in vielen Farben, bei denen man gar nicht auf Insekten gekommen wäre. Jeweils unten in der Ecke gab es einen kleinen Hinweis, welches Insekt die Quelle der Farbenspiele auf den Bildern war, die mich unglaublich faszinierten. Immer wenn ich ein Insekt in der Natur hässlich oder abschreckend fand, sagte mein Vater: »Du musst es unters Mikroskop legen. Schau genau hin, dann ist es wunderschön.«

Ich versuche mit meinem Handy ein Foto von der dicken Fliege zu machen, als sie fortfliegt. Mein Sitznachbar guckt mich ungläubig an. Ich schaue wieder aus dem Fenster, die Sonne verspricht einen heißen Tag, und ich kneife die Augen zusammen. In meiner Handtasche ist leider keine Sonnenbrille, dafür finde ich einen alten Apfel und beschließe, ihn auf die Taubheit meines Magens treffen zu lassen. Zumindest löst die Restsäure, die das schrumpelige Fruchtfleisch noch enthält, den pelzigen Film auf meinen Zähnen auf. Das nächste Mal werde ich Kaugummi mitnehmen, eine derartig schlechte One-Night-Stand-Vorbereitung ist eigentlich nicht meine Art. In manchen Bars gibt es auf der Toilette Automaten, gefüllt mit Tampons, Kondomen und Einwegzahnbürsten. Ich frage mich dann immer, wer wohl so vorausschauend ist, mitten in der Nacht bereits an die Zahnbürste für den nächsten Morgen zu denken.

In der Handtasche liegt meine zerrissene Strumpfhose, ich weiß nicht, warum ich sie nicht bei Erik gelassen habe. Manchmal vergesse ich mit Absicht Dinge in der Wohnung, in der ich die Nacht verbringe. Ich verschwinde gerne in den frühen Morgenstunden, nichts finde ich schrecklicher als ein gemeinsames Frühstück mit einem Unbekannten. Wenn ich dennoch kontaktiert werden will, dann lasse ich größere Dinge liegen, einen Ohrring oder einen Pullover. Manchmal will ich auch einfach nur Spuren hinterlassen, Haarspangen oder angebrochene Kaugummipackungen.

Erik hat noch geschlafen, als ich mich aus der Tür geschlichen habe. Die Dielen knackten, aber er lag reglos ausgebreitet auf seiner Matratze. Vielleicht war er auch dankbar, dass ich ohne große Reden verschwunden bin, und hat sich einfach schlafend gestellt.

Mit zunehmender Menge an Alkohol hatten wir die Bar gewechselt, haben weiter getrunken, viel zu viel. Irgendwann saßen wir im Taxi eines Irakers, der auf Eriks indiskrete Fragen hin eine traurige Geschichte von Liebe und Krieg erzählte, die meilenweit von uns entfernt blieb. Wir landeten nicht gleich auf seinem Bett mit der hässlichen Bettwäsche, stattdessen versuchte er erfolglos, mich mit seiner Plattensammlung zu beeindrucken, während ich nur an den zwei Vintage-Pornopostkarten interessiert war, die hinter den Plattenkisten mit silbernem Washi-Tape auf den Rohputz der Wand geklebt waren.

Ich sehne mich manchmal nach analogen Dingen in meinem Leben, Platten und Bücher gehören nicht dazu. Warum sammeln Menschen Dinge, die einem beim Umzug das Rückgrat brechen? Letztlich führen einem Sammlungen doch nur die eigene Vergänglichkeit vor Augen.

Vor einigen Jahren, in einer anderen Stadt, habe ich mit einem zierlichen Mädchen aus Österreich eine Wohnung geteilt. Als wir zusammenzogen, hatte sie unendlich viele Umzugskartons. Kisten, die einen Stapel bildeten, aus ihrem Zimmer in den Wohnungsflur hinein, und die Sicht aus dem großen Panoramafenster versperrten, hinter dem eine Esche stand. Den Baum hatte ich seit vielen Wochen nicht mehr gesehen, weil ich mich nicht traute, die Kisten in ihr Zimmer zu verschieben. Anfangs dachte ich, dass wir Freundinnen werden könnten, aber sie ging nach der Arbeit immer direkt in ihr Zimmer und aß vor dem Computer. Man hörte wenig. Ich trank Bier in der Küche, mit dem Smartphone in der Hand und meinem Ohr an der Wand – Freunde hatte ich nicht in der Stadt. Die Kisten blieben stehen. Nach einigen Monaten, ich hatte schon wieder den Job gewechselt und wollte die Stadt verlassen, setzte sie sich eines Abends zu mir und wir tranken eine Flasche Rotwein.

Irgendwann gab ich mir einen Ruck und fragte, was in ihren Kisten sei, woraufhin sie grinste und mir anbot, eine aufzumachen. Ich wählte einen dunkelblauen Schuhkarton und öffnete ihn: Darin waren unzählige Papierknäuel mit krakeligen Datums- und Ortsangaben, ein sonderbarer Geruch stieg mir in die Nase, alte Banane gemischt mit Pfefferminze. Sie erklärte mir, dass sie jedes Mal, wenn sie beim Küssen noch ein Kaugummi im Mund gehabt hatte, dieses für ihre Sammlung einpackte. Der Geruch alter Juicy-Fruit-Kaugummis machte mich ganz melancholisch. Ich weiß nicht, was in den anderen Kisten war, und sehr viel mehr habe ich auch nicht von dieser Mitbewohnerin in Erinnerung, aber irgendwann wird jemand verdammt viel Arbeit haben, wenn er ihren Haushalt auflöst.

Eriks Musiksammlung haben wir nicht zur Untermalung des weiteren Abends verwendet, dazu sind Platten zu unpraktisch, wenn man nur an das ganze Seitenumdrehen und Tonarmverschieben denkt. Stattdessen kam eine Playlist im zufälligen Wiedergabemodus aus den Lautsprechern. Anscheinend verwendete Erik keinen Streamingdienst, was mir rückblickend ziemlich altmodisch vorkommt, sondern wählte etwas von seiner Festplatte. Anders kann ich mir nicht erklären, dass irgendwann der Player keine Musik mehr spielte, sondern einen Pornofilm. Der Bildschirm seines Computers war ausgestellt, aber die Tonspur des Films drang in voller Lautstärke durch seine teuren Boxen, unser leises Stöhnen vereinte sich mit dem künstlichen Gekreische der Frau im Film und dem animalischen Grunzen des Mannes. Es dauerte einen Moment, bis er es bemerkte, dann sprang er peinlich berührt auf und wechselte mit fahrigen Handbewegungen kommentarlos die Playlist. Danach lief wieder der Indie-Pop, den Männer seiner Art auflegen, wenn sie Frauen in ihren Betten haben. Ich hatte die Pornoklangspur als Soundtrack lustiger gefunden, wollte aber nicht die Stimmung ruinieren.

Die Nacht hatte viel versprochen, was am Morgen vom Licht durch die Jalousien seines Fensters in Stücke geschnitten wurde. Auf mir lag eine klebrige Schicht aus Sperma und Schweiß, und plötzlich wog die hässliche Bettdecke so schwer, dass ich aufsprang, mich anzog, die Strumpfhose in meine Handtasche stopfte und rasch die fremde Wohnung verließ.

Download-History

Morgens mit geschwollenen Augen auf den Wecker einschlagen? Immer wieder die Snooze-Funktion drücken? You snooze, you lose! Sieht so auch dein Morgen aus? Hast du schon wichtige Meetings und einzigartige Gelegenheiten verpasst, weil dich dein Kopfkissen nicht losgelassen hat?

Dann haben wir die Lösung für dich: Zahlreiche Untersuchungen renommierter Schlafforscher haben uns gezeigt, dass es am besten ist, mit einem spannenden Gespräch aufzuwachen. Unsere App Dawntastic verbindet dich mit gleichgesinnten Langschläfern auf der ganzen Welt. Du kannst einen verschlafenen Schüler in Shanghai mit deinem Lieblingswitz wecken oder dich morgens von einem unserer unzähligen freundlichen User sanft aus dem Schlaf holen lassen. Es gibt nur zwei Regeln: das Aufweckgespräch darf maximal drei Minuten dauern, und dein Gesprächspartner bleibt anonym.

Guten Morgen!

0,99 € --- Installieren --- Wird heruntergeladen --- 10% --- 27% --- 48% --- 76% --- 99% --- Herzlichen Glückwunsch, Dawntastic wurde installiert.

NOP (4) – No Operation

>>> import vlc

>>> s = „/beta/8bitsound/pitfall.mp3“

>>> p = vlc.MediaPlayer(s)

>>> p.play()

Bitpop knallt aus dem Lautsprecher meines Telefons, und ich schrecke auf. Draußen ist es noch dunkel, während ein Lied, das auf dem Todessound von Pitfall aufbaut, durch mein Schlafzimmer schallt. Ich wische mit hektischen Handbewegungen über den Bildschirm, bis der Lärm endlich verstummt, dann reibe ich mir die Augen.

In dem Raum mit Retro-Computerspielen und Arcade-Automaten auf meiner Arbeit spiele ich – wenn Pac-Man gerade belegt ist – am liebsten Pitfall. Johannes, einer der Backend-Entwickler und mein bester Freund, dessen größter Stolz es ist, sämtliche Atari-Spiele am Klang erkennen zu können, freut sich jedes Mal wieder, wenn einer von uns unter dem Ansturm der Skorpione stirbt und die komische Melodiefolge aus fünf Tönen erklingt, die den Tod der Spielerfigur markiert. Johannes spricht gerne über alte Computer- und Videospiele, und inzwischen kenne ich zu den meisten Spielen in unserer Arbeit lustige Anekdoten oder abstruse Hintergrundgeschichten.

Er hat mir erzählt, dass das kleine Pitfall-Männchen mit dem grünen Hemd Harry heißt. Der Entwickler des Spiels hatte bereits Ende der Siebzigerjahre eine Methode erfunden, um Pixelmännchen über den Bildschirm laufen zu lassen; am Anfang gab es nur den rennenden Harry, ohne eine Welt um ihn herum. Zu Beginn der Achtzigerjahre wurde dann mit Pitfall ein Lebensraum für die Figur entwickelt. Pixel-Harry muss seitdem ohne Pause durch einen endlosen Dschungel laufen, dabei Geldsäcke, Gold, Silber und Diamantenringe aufsammeln, die irgendjemand in der grünen Hölle verstreut hat. Seine Schatzsuche wird durch Hindernisse erschwert; er muss Begegnungen mit Krokodilen, Skorpionen, Klapperschlangen und Treibsand überleben, bis der Todesklang ihn erlöst; das Spiel endet erst, wenn Harry gestorben ist.

Während ich schlaftrunken über Pixel-Harrys virtuellen Daseinskampf nachdenke, fällt mir auf, dass es noch ziemlich früh ist. Wer hat mich gerade angerufen? Mein kleiner Bruder ist auf Australienrundreise und meine Eltern kreuzen durchs Mittelmeer. Ich erhalte immer wieder Urlaubsschnappschüsse in unserem Familienchat: mein Bruder mit Surfbrett an irgendeinem Strand, meine Mutter lächelnd in Pompeji, mein Vater mit Sonnenbrand vor dem schiefen Turm von Pisa und zahlreiche Bilder von Echsen und Geckos auf zersprungenen Steinfliesen.

Mein Vater ist Biologe. Er hat über die Fortpflanzung von Geckos promoviert. Nach einigen Gläsern Wein sagt er jedoch, dass er einen Roman über das Liebesleben der Schuppenkriechtiere geschrieben habe. Seine akademische Karriere endete, als ich das Licht der Welt erblickte. Aus ökonomischen Gründen – wie er es formulieren würde – hat er dann angefangen, als Lehrer zu arbeiten. Nur im Jahr 2014 wurde seine Expertise für die Liebe der Schuppenkriechtiere gebraucht: als die Russen eine Gruppe von fünf Geckos an Bord eines Satelliten in den Weltraum schossen. Dort sollten die Geckos den neugierigen, wenn auch ziemlich herzlosen Forschern zeigen, ob Schwerelosigkeit Einfluss auf ihr Paarungsverhalten haben würde. Plötzlich klingelte in der holsteinischen Kleinstadt, in der meine Eltern leben, das Telefon, und die Journalisten stürzten sich auf einen der wenigen deutschsprachigen Experten für den Geschlechtsverkehr von Reptilien. Als der Satellit nach sechs Wochen in der Erdumlaufbahn wieder landete, stellten die Forscher jedoch enttäuscht fest, dass die Geckos erfroren waren – die Heiztechnik hatte nicht richtig funktioniert. So kam es zu keinerlei Liebesspiel im All, und das kurze Interesse an der Forschung meines Vaters verlief im Sande.

Ich setze mich gerade im Bett auf, als der Todesklang erneut aus meinem Handy schallt. Der Bildschirm leuchtet: Fuck! Ich habe Dawntastic vergessen, jetzt ruft hier jemand an. Anscheinend werde ich in regelmäßigen Abständen immer wieder angerufen, bis ich ein Gespräch annehme. Wie in der Beschreibung der App versprochen, bin ich schlagartig hellwach. Ob das Gefühl des Horrors, jetzt mit einem Fremden sprechen zu müssen, so vorgesehen war? Wenigstens ist es kein Notruf, der mich aus dem Schlaf gerissen hat.

Die App zeigt das Profilbild des Anrufers: eine pinke, mit dicken glitzernden Tautropfen bedeckte Rose, darunter eine indische Flagge.

Dawntastic: RoseFlower // sbTC123! // Naqvil

»Hallo.«

»Hallo, ich rufe aus Mumbai an. Es ist Mittagszeit bei uns. Wo bist du genau?« Eine sehr junge Mädchenstimme mit einem dicken indischen Akzent, die ein wenig aufgeregt klingt, sprudelt auf Englisch los.

»Ich bin in Berlin, hier ist es früh am Morgen.«

»Wie ist das Wetter?«

»Es ist ziemlich grau und regnerisch, typisch für Deutschland.«

»Was machst du gerade?«

»Gleich gehe ich zur Arbeit.«

»Was arbeitest du denn?«

»Ich arbeite in einem Startup in Berlin.«

»Oh, wie interessant.«

»Hast du schon einmal mit jemandem aus Deutschland gesprochen?«

»Nein, nicht dass ich wüsste. Ich habe aber auch noch nicht sehr viele Leute angerufen.«

»Warum benutzt du Dawntastic?«

»Ich möchte in einem Callcenter in Mumbai arbeiten, nachdem ich meine Highschool abgeschlossen habe. Ich werde dann Anrufe auf Englisch empfangen, also betrachte ich das hier als kostenloses Training.«

»Das klingt sehr schlau. Ich hoffe, dass dir unser Gespräch gefallen hat.«

»O ja, sehr, vielen Dank. Einen schönen Tag wünsche ich dir!«

Nachdem sie aufgelegt hat, habe ich tatsächlich das Gefühl, gerade mit einer freundlichen Kundenservice-Mitarbeiterin am Telefon gesprochen zu haben.

Ich stelle aus Neugier direkt noch einen Weckruf ein und werde 30 Minuten später, als ich mit meinem Kaffee am Küchentisch sitze, von sbTC123! angerufen. Sein Avatar zeigt einen gruseligen Clown und die kanadische Flagge. Als ich den Anruf annehme, höre ich nur ein extrem lautes Tröten und schrilles Gekreische, dann legt der Horrorclown auf. Ich bin erleichtert, dass ich nicht von diesem Gespräch geweckt worden bin.

Ich weiß nicht genau, was mich an Dawntastic fasziniert. Tatsächlich bin ich – wie von der App angekündigt – morgens schneller wach, wenn der Tag mit einem Gespräch startet, aber meist lasse ich dem ersten Weckruf noch ein oder zwei weitere Gespräche mit Wildfremden folgen. Meist bin ich nach den Telefonaten irgendwie enttäuscht, wie ausgeleert, nachdem ich drei Minuten mit einem Fremden gesprochen habe. Speeddating stelle ich mir ähnlich verzweifelt vor, der Versuch, in wenigen Minuten eine Verbindung zum Gegenüber aufzubauen, und das unvermeidliche Scheitern. Knapp die Hälfte der Anrufe sind sowieso keine Gespräche, sondern rülpsende Teenager, eigenartige Musik in fremden Sprachen oder bloß nervöses Kichern. Trotzdem merke ich, dass ich tagsüber oft an die App denke, manche Gespräche berühren mich oder öffnen für einen kurzen Moment ein Fenster in ein anderes Leben.

Der Mittwoch beginnt mit einem morgendlichen Gespräch mit Naqvil aus Tennessee. Aus meinem Lautsprecher klingt die kratzige Stimme eines älteren Herrn mit ausgeprägtem Raucherhusten, der gerade von seinem Enkel alle Geheimnisse und Absurditäten eines Smartphones gezeigt bekommt. Er freut sich, mich zu hören, und ist begeistert, dass er mal wieder mit einem deutschen Mädchen sprechen kann. Eifrig erzählt er mir von seiner Zeit als GI in Deutschland: Heidelberg, Würstchen, harte Arbeitstage, langweilige Nachtwachen, Bier und deutsche Mädels. Beinahe rührt es mich, nicht wegen der Inhalte, sondern wegen der sehnsüchtigen Stimme, mit der er von der Vergangenheit spricht.

public static Life two(){ return null; }

/* Es ist egal, woher du kommst oder wie alt du bist, Hauptsache, du lebst und atmest Code und wirst ein Teil des Teams. Die Dinge passieren schnell in unserer Welt, und unsere User liegen uns am Herzen. Wir verändern die Welt, als Team, mit unserem Produkt. Und unser Logo ist gelb-rot. */

Es ist Dienstag, ich drehe gerade den Rubik-Würfel zu Gelb. Alex höchstpersönlich kommt in unsere Abteilung. Sein silbergrauer Pullover hat die gleiche Farbe wie der Betonboden unseres Büros. Martin reibt sich die Nase und klammert sich an seinem Kaffeebecher fest. Auf dem Becher steht Input Java, Output PhP in Neongelb und Anthrazit. Alex geht zum Getränketresen neben unserem Kicker und schaut sich interessiert die Snackschalen mit Superfoods an. An der Wand hängt jetzt ein Flachbildschirm, der momentan noch schwarz ist. Er lehnt sich an die Wand neben dem neuen Bildschirm und redet von dem Wettkampf, den Anteilen, schließlich wünscht er uns viel Erfolg. Nach einem Grinsen und einer Wischbewegung auf seinem Smartphone erscheint auf dem Flachbildschirm das Bild einer Countdown-Uhr: Tage, Stunden und Minuten bis zum Ende des Wettkampfs. Möge das bessere Team gewinnen. Die Anteile winken. Der Würfel in meiner Hand klickt zu laut, Martin zieht eine Augenbraue hoch. Ich überlege, ob ich doch mal Vaseline ausprobieren sollte.

Als Alex gegangen ist, sind alle total aufgeregt, als hätte er uns mit einem unsichtbaren Wettkampfschlüssel aufgezogen. Die Uhr auf dem Bildschirm an der Wand tickt. Die Backend-Developer sitzen auf der anderen Seite des Gangs und essen Studentenfutter. Falsch! Die Backend-Developer sitzen auf der anderen Seite des Gangs und essen Trail-Mix; Studentenfutter sagt hier niemand. Die Kohlenhydrate in den Trockenfrüchten sollen uns schnelle Energie geben, das Fett aus den Nüssen hält lange vor, und das ist wichtig bei geistiger Anstrengung – so hat zumindest Martin mir das mal erklärt, als ich ihn gefragt habe, warum in so vielen Startups Schüsseln voller Trail-Mix stünden, wie in übergroßen Nagetierkäfigen.

Das Studentenfutter bei meinen Eltern war immer voll mit alten Haselnüssen und viel zu vielen Rosinen. Sobald der Plastikbeutel aufgerissen wurde, aßen mein Bruder und ich in Windeseile die Cashew- und Paranüsse, von denen es immer zu wenige gab. Danach waren die Erdnüsse dran, die im Vergleich zu ihren gerösteten und gesalzenen Brüdern aus der Aluminiumdose mit der scharfen Kante immer nur lasch und langweilig schmeckten. In der apfelförmigen Kristallschale, die bis heute in meinem Elternhaus auf dem Wohnzimmertisch steht, lagen am Ende nur noch Haselnüsse und kleine harte Rosinen, die unansehnlich mit dunkelbraunen Nusshäuten vollgekrümelt waren.

Der Trail-Mix im Büro enthält knallrote luftgetrocknete Erdbeeren, die mich an das Essen in Raumstationen erinnern, und getrocknete Mangostreifen, die zwar wie Fensterleder aussehen, aber unter Speicheleinfluss hervorragend schmecken. Die Backend-Developer hängen an ihren Trail-Mix-Beuteln, als müssten sie die letzten Höhenmeter der Eiger-Nordwand überwinden. Schnelles Tippen und mahlende Kiefer lenken mich von meinem Testprotokoll ab. Beim ziellosen Surfen im Netz stoße ich auf einen Artikel übers Fassadenklettern. Ich schließe schnell den Browser, als ich Martin kommen höre, ich will ihn nicht auf Ideen bringen.

Diesen Monat waren wir gemeinsam im Hochseilgarten. Jeden ersten Samstag im Monat machen wir eine Gruppenaktivität – vorher treffen wir uns im Büro, die meisten arbeiten sowieso am Wochenende. Gemeinsam Floß fahren, Tischtennisturnier, Gokart, Schokoladenverkostung und bereits im November die Weihnachtsparty, jedes Jahr mit einem neuen Motto und allen Investoren, Tech-Journalisten und sonstwie wichtigen Menschen zu Gast: Showtime.

Letztes Jahr war das Thema »The Great Gatsby«. Es wurde extra ein altes Varieté-Theater aus den Zwanzigerjahren angemietet und von einer Eventfirma umgestaltet. Eine weißblonde Frau in goldfarbenem Kleid mit einer Python um den Hals, bei der ich mich den ganzen Abend fragte, ob sie echt war oder ein hervorragend bewegliches Replikat, stand in der Raummitte auf einer hohen Säule und goss Champagner in eine riesige Pyramide aus Sektschalen. Martin hämmerte mir wie ein Specht rhythmisch seinen Ellbogen in die Seite und nickte dabei anerkennend. Meine Arbeitskollegen hatten ihre T-Shirts gegen Anzüge und Zwanzigerjahre-Kostüme getauscht: Panama-Hüte, Fransen, Haarbänder und Flapper-Kleider. Ich eroberte in meinem goldenen Fransenkleid sofort die Sekt-Pyramide. Am nächsten Tag sah ich auf einem der Fotos, die alle Anwesenden fleißig die Nacht über unter dem Hashtag #GatsbyGalore geteilt hatten, dass ich irgendwann die sonderbare Schlange um den Hals trug – da ich mich aufgrund der Unmengen an Sekt, die ich getrunken hatte, nicht an meine Begegnung mit ihr erinnern konnte, blieb die Frage, ob es eine echte oder eine elektronisch bewegte künstliche Schlange war, für mich unbeantwortet.

Ich hatte keine Lust auf einen Hochseilgarten, aber da am Samstag nach der Arbeit alle gemeinsam dorthin fuhren, gab es für mich keine Möglichkeit, den Ausflug zu vermeiden. Obwohl Johannes seinen Körper mit unzähligen Trail-Mix-Beuteln gestählt hatte, war er abgerutscht und in seinem Karabinergeschirr ungebremst gegen einen Baumstamm geknallt. Seine Rippe knackste lautstark, und sein Jochbein ist auch jetzt, drei Wochen später, immer noch leicht grünlich, die schimmelige Farbe alternder Blutergüsse. Dennoch scheint er stolz auf seine Wunde zu sein, zumindest ächzt er demonstrativ, wenn er Pac-Man spielt und sich zu sehr auf seinem ergonomischen Schreibtischstuhl bewegt.