Cover.jpg

Inhalt

[Cover]

Titel

Fremde Fenster

Die Katze

Doppelleben

Geister

Gras und Rüben

Das Hotel

Lou

Zeugen

Arme Ritter

Hochzeiten

Der König

Nördlich von Hollywood

Schlaf

In der Zwischenzeit

Zwei Stimmen

Auf dem Eisernen Steg

Die Insel

Leuchtend rosa

Bibliografischer Nachweis

Autorenporträt

Kurzbeschreibung

Impressum

Titel.jpg

Entfernte Geliebte

Fremde Fenster

Letzten Sommer sagte ein Mann zu einer Frau, ich liebe dich. Die beiden saßen in einem Café in einer kleinen deutschen Stadt. Die Stadt ist so klein, dass sie nicht mal einen eigenen Namen hat. Sie teilt ihn sich mit einem anderen Ort. Die Frau schaute in die Sonne, der Mann wiederholte, ich liebe dich. Er fragte sich, ob er den richtigen Ton getroffen hatte. Seine Lippen waren rau, er fuhr mit der Zunge darüber. Eine Schwalbe flog ganz dicht über den Asphalt vor dem Rathaus hinweg. Die Frau schwieg. Sie rieb sich mit dem Zeigefinger den Schlaf aus den Augenwinkeln, ihr Gesicht zog sich dabei in die Länge, ihr geschlossener Mund formte ein stummes »Oh«. Die Frau war gerade erst aufgestanden und mit dem Mann zu dem Café gewankt, sie hatte nicht mit einem solchen Angriff gerechnet. Im Grunde war alles sehr einfach, sie trieben auf einem sicheren Fluss. Sie würden sich versichern, vertrauen, sich gegenseitig umgarnen wie Efeu, der das Haus umspinnt. Genauso würde ihre Liebe wachsen, dicht und grün, bis kein Licht mehr nach innen dränge. Einer von ihnen oder sie beide würden zur Heckenschere greifen und zum Schluss bliebe nicht mehr übrig als ein Haufen Äste am Boden. Das dachte die Frau, aber sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie hätte gern etwas gemurmelt, etwas Weiches, Zärtliches. Aber Birkenpollen, die in ihren Kaffee getrudelt waren, belegten ihre Stimme und so hüstelte sie. Sie fand es schwierig genug, eine Person zusammenzuhalten. Wie sollte ihr das mit zweien gelingen? Auch der Mann hatte wohl Angst, wahrscheinlich vor der Leere am Morgen. Um sie zu vertreiben, sagte er vorschnell, ich liebe dich. Wusste er überhaupt, was er da sagte? Wusste sie es? Die Frau kratzte sich den Handrücken und summte ein Lied, zur Beruhigung. Es war »Veronika, der Lenz ist da«, wenn ich mich nicht irre. Die Frau hätte gern für immer geschwiegen. Sie wollte in diesem Moment verharren. Sie wusste, der Mann erwartete eine Antwort. Der Mann sprach ihr innerlich die Worte vor, die er hoffte zu hören. Sie las den Satz auf seiner Stirn, aber sie sprach ihn nicht aus. Stattdessen sagte sie: Ich habe geträumt. Sie hatte aber gar nicht geträumt. Ich habe geträumt, dass das Haus sich bewegte, es rannte. Ich war im obersten Stockwerk und hatte Angst, dass das Gebäude zusammenstürzen würde. Der Mann dachte »einstürzen«, es heißt »einstürzen«, nicht »zusammen«, oder? Er war sich nicht sicher, hoffte aber, dass zusammenstürzen ein gutes Omen in seiner Sache war. Er sagte, wahrscheinlich war deine Blase schuld. Du musstest im Schlaf auf die Toilette gehen und konntest nicht, diese Unterdrückung machte sich im Traum Luft, Freud erklärt es so. Innerlich fluchte er, denn mit dieser Entgegnung war das Gespräch in die falsche Richtung geglitten. Dabei hatte er gerade etwas gesagt, mehr als das: Er hatte sich gestellt. Er fühlte sich im Stich gelassen. Er bestrich sein Brötchen zum zweiten Mal mit Butter, die Marmelade im Schälchen vor ihm trocknete bereits. Die Frau rief, zahlen, bitte! Sie war verblüfft, der Kellner hörte sie sofort. Der Mann am Cafétisch schaute sie an. Die Frau erinnerte sich, dass er gut aussah, wenn er traurig war. Er sah auch jetzt gut aus. Seine Augen waren hell und klar, die Augenbrauen undefiniert wie die eines Kleinkindes, sie schienen immer hochgezogen zu sein. Die Frau kramte nach ihrem Portemonnaie. Ein winziger schwarzer Käfer lief über ihre Tasche. Mit dem Fingernagel schubste sie ihn hinunter. Während die Frau die Rechnung beglich, löste der Mann sein Dilemma. In Gedanken ergänzte er die Antwort, die sie ihm schuldig geblieben war. Das Ergebnis entmutigte ihn nicht.

Der Mann brach auf zum Bahnhof. Nachdem er den Cafétisch verlassen hatte, dachte die Frau an die letzte Nacht. Sie dachte, Pappardelle mit Anchovis. Sie dachte, kleine Fische. Sie wollte denken, alles sei richtig. Die Worte, die Gesten, die griffen wie die Zähne eines Reißverschlusses. Ritsch-ratsch, auf und zu, Fächerspiele. Du-ich, ich-du, ichichdudu, duichichdu. Sie saßen auf einem umgestürzten Baumstamm im Wald. Ein hellblaues Schild glomm in der Dämmerung. »Trimm-dich-Pfad« hatte er ihr vorgelesen. Darunter rannte ein schwarzes Strichmännchen Richtung Schildrand. Der Mann und die Frau kicherten über das Geräusch ihrer Mägen, die sich gegenseitig zu antworten schienen. Sie schlugen nach den Mücken. Eine saß auf seinem Ellenbogen, sie stach ihren Rüssel in seine Haut. Der Mann und die Frau schauten zu, während die Mücke saugte. Er behauptete, es blieben keine juckenden Beulen zurück, wenn man das Insekt nicht störe. Ihr Gift verspritzten Schnaken nur bei hastigem Abbruch der Mahlzeit. Die Mücke saugte sich satt an seinem Blut. Endlich war sie fertig und flog davon. Die Frau spürte die kalte Abendluft an ihrem Rücken. Ihn juckte bald darauf der Mückenstich. Er zwang sich, nicht zu kratzen.

Die Frau wohnte zwanzig Kilometer von der kleinen Stadt entfernt, sie waren nur zum Frühstück und wegen des Bahnhofs hierher gefahren. Der Mann schrieb ihr noch vom Fahrkartenschalter aus eine Karte. Er warf sie ein, bevor er abfuhr.

Liebes,

unter dem Bild einer jugendlichen Augenpartie las ich neulich: »Sie machen sich Sorgen über Ihr Älterwerden? Ein Tuberkulose-Kranker in der Dritten Welt würde sich darüber freuen.«

Nur ein Auge ist auf dem Plakat abgebildet. Die Frau erscheint einäugig, der Spruch auch – das Bild wurde beschnitten, der Text verdreht uns die Ansicht. Was hilft, verrät das Kleingedruckte. Es enthält eine Bankleitzahl.

Ich las dies, dachte kurz darüber nach und wusste doch: Wenn ich für jemand gut sein könnte, dann für Dich und nicht für fremde Lungen.

Verzeihe mir, ich predige. Gestern hast Du mich angefasst und heute bin ich allein. Das ist schwer zu begreifen. Ich versuche es gar nicht. M.

Die Frau zog die Karte morgens aus ihrem Briefkasten. Sie war Lehrerin und gerade auf dem Weg zur Schule. Sie zückte einen Rotstift und notierte zwischen und neben den Zeilen des Mannes:

Die Liebe ist das einsamste Geschäft der Welt. Alle Kunden zahlen in fremder Währung bei einem stummen Computer mit großen Augen. Traurig ist das nicht. Nur komisch. Deine F.

Die Karte des Mannes war nun fast vollständig mit den zwei konkurrierenden Handschriften gefüllt. Die launische Schrift der Frau, die sich mal nach rechts, mal nach links neigte und Buchstaben ausließ, ungeduldig über Silben hinweg sprang, füllte alle Leerstellen, die der Mann gelassen hatte. Seine regelmäßige, altmodisch zirkelnde Schrift war umzingelt von ihren hastigen Lettern. Die Frau steckte die vollendete und befriedete Karte in den Schulkopierer. Obwohl sie vorgab, das Schriftstück umgehend zurückzusenden, wollte sie insgeheim doch festhalten, was der Mann ihr schrieb. Sie kopierte beide Seiten. Das Foto verwischte leicht. Die Karte zeigte die schmucklose Stelle des Rheins, an der Loreley auf ihrem Felsen die Schiffer in den Tod bürstete. Die Frau schickte die Karte zurück an die Privatadresse des Mannes, sechshundert Kilometer von ihrem Wohnort entfernt.

Doch die Karte erreichte den Mann nicht mehr zu Hause, er war bereits wieder unterwegs, gestrandet in Wiesbaden. Hier hatte er seine Geschäftsreise unterbrochen und wartete auf eine Verbindung, um zurück zu der Frau zu fahren. Es war ihm egal, ob sein Job deswegen platzte. Er arbeitete für das Jugendherbergswerk an einer neuen Broschüre. Er sollte über die älteste ihrer Herbergen berichten, sie lag in Altena. Doch statt nach Nordrhein-Westfalen würde der Intercity ihn nun in zwei Stunden zu der Frau bringen. Er vertrieb sich die Wartezeit im Café des Staatstheaters. Er beobachtete alte Damen in dicken Pelzmänteln, die Operettenkarten für den Abend abholten, dabei aufgeregt mit ihren manikürten Knotenfingern winkten und sich in Hundeleinen verhedderten. Der Mann zählte vier Nutriamäntel und zwei Nerze. Vom Mobiltelefon aus telefonierte er mit seiner Wohnungsnachbarin. Die Studentin hatte eine Schwäche für ihn. Sie kümmerte sich während seiner Abwesenheit um den Briefkasten und um sein Haustier. Heute hatte sie die zurückgesandte Postkarte der Frau herausgefischt. Der Mann bat sie, den Text vorzulesen. Sie begann mit seinen Worten, er unterbrach sie hastig. Gehorsam beschränkte die Studentin sich auf die Anmerkungen der Frau. Der Mann hörte aufmerksam zu. Im Gedächtnis blieben ihm nur die fehlende Anrede und »Alle Kunden zahlen in fremder Währung«. Der Rest des Geschriebenen vermischte sich in seinem Kopf zu einer vagen Botschaft, deren gefühlsmäßige Färbung er irgendwo zwischen violett und entenschnabelgelb ansiedelte. Das waren zu unsichere Farben, um ihnen entgegenzufahren, entschied er. Das Kläffen eines Zwergpudels riss ihn aus seinen Gedanken. Das Tier stand direkt neben ihm. Der Mann griff wieder zum Kugelschreiber und notierte auf die Papierserviette des Cafés:

Meine Liebe, würden Sie ahnen, worum es ginge, hackte man Ihnen Arme und Beine ab. Was bliebe Ihnen? Was bliebe uns? Dies ist Vorschlag und Frage zugleich. Inszenieren Sie es auf Ihrem persönlichen Speiseplan wie gehabt.

Ich werde an die Lenne fahren. Wissen Sie, warum? Ich schrieb, Sie antworteten kaum, der Rest bleibt ungesagt. Soll das ewig so weitergehen?

Ich erfuhr gerade, wir lebten in einer Zeit des subtilen Argwohns. Die Ironie sei das süße Gift unserer Sprache, sie zersetze die Worte ins Ungefähre. Das orakelte ein pausbäckiges Farmerkid aus West Virginia in der Wochenzeitung. Ich habe Anlass, ihm zu glauben. Wenn Du doch dasselbe von mir sagen könntest. Wünscht sich M.

Der Mann galt seit fast einem Jahrzehnt nicht mehr als jugendlich, in der Jugendherberge in Altena musste er sich als Senior eintragen. Er übernachtete in einem der Gruppensäle, denn im Betreuerzimmer schlummerte bereits eine Geografie-Lehrerin mit ihrer Freundin. Sie beaufsichtigten eine lärmende achte Klasse, deren nächtliche Kissenschlachten den Mann im Schlafsaal nervten. Während er wach lag, dachte er an die Frau. Er hatte keine Ahnung, welche Fächer sie unterrichtete. Er hoffte, er könnte sie das bald fragen. Der Mann schlief schlecht in dem oberen Stockbett unter den braunen Dachbalken. Am nächsten Morgen stieß er sich den Kopf an der Schräge über seiner Matratze. Am Frühstücksbüfett schüttete er sich aus Versehen Pfefferminztee auf das Vollkornbrot. Der Kopf des Mannes schmerzte. Er war müde, verärgert über das nasse Brot und hungrig, denn die Schulklasse hatte sich bereits alle anderen Brote geschnappt und spielte damit Fangen. Der Mann starrte in ihre pickeligen Gesichter, hörte ihren Rufen zu. Jeder Wurf war eine Anmache. Der Mann seufzte und dachte an die Broschüre, die er verfassen sollte. Altena in Nordrhein-Westfalen war eine Industriestadt, grau im Winter wie im Sommer. Die Schornsteine leiteten den Dampf der geschmolzenen Metalle in die Wolken, die den Schlossberg umkreisten. Die winzige Jugendherberge lag im Vorhof der Burg, früher nächtigte in dem Fachwerkhaus das Gesinde.

Vor fünfundzwanzig Jahren hatte der Mann diese Stadt schon einmal besucht. Als Mitglied der Wandervögel. Es war seine erste Fahrt gewesen. Er war im Winter 1979 elf Jahre alt. Damals gab es genau zwei Duschkabinen in Altena. Sie lagen außerhalb der eigentlichen Jugendherberge. Zitternd vor Kälte war er die vereiste Treppe draußen vor dem Haus hinunter gerannt, in die Kabine gestürzt und hatte gehofft, dass es noch warmes Wasser gab. Um Wasser und Zeit zu sparen, hatten sie zu zweit geduscht. Er hatte mit einem Jungen, dessen Namen er vergessen hatte, in dem eiskalten Kabuff gestanden. Sie hatten sich gegenseitig mit dem kalten Wasser bespritzt. Plötzlich hatte der andere Junge den Hahn zugedreht. Der Mann, der damals ein Junge war, hatte gedacht, das Duschen sei beendet, und nach dem Handtuch geangelt. Doch der andere hatte begonnen, sich einzuseifen. Der Mann war immer noch geschockt, wenn er daran dachte. Elf Jahre lang hatte er geglaubt, es genüge, Wasser auf seinen Körper zu sprengen. Niemand hatte ihm je gesagt, dass der Schmutz darauf hartnäckiger sei. Er hatte sich geschämt. Er entriss dem anderen die Seife, als ging es um sein Leben. Der Junge fragte ihn, ob er Läuse habe. Der Mann hoffte, die Frau würde nur in seiner Version von dieser Episode erfahren. Mit stolzem Witz über seine damalige Unwissenheit würde er die Geschichte erzählen. Zusätzlich überlegte er sich eine romantische Liebesszene, die er ebenfalls hinter der aus losen Brettern gezimmerten Tür der Duschkabine in Altena ansiedelte. Mit dieser erfundenen Kindheitserinnerung würde er sein Bild geraderücken.

Die Frau trat derweil mit dem Fuß in einen Haufen Laub neben dem Kiosk am Schlachtensee, sie wirbelte die Blätter auf. Es war Anfang November, die Sonne strahlte über eine grün-rot-goldene Wochenendidylle. Es war unnatürlich warm für diese Jahreszeit. Die Bäume warfen nur widerwillig ihre Blätter ab. Sogar einige Bienen waren ausgeschwärmt. Die Temperaturen zwangen sie dazu. Doch sie fanden keine Blüten, deshalb warfen sie sich auf jeden farbigen Flecken, der ihnen entgegenwankte. Die Frau trug Rot. Sie zwang sich, nicht mit den Armen nach den Bienen zu schlagen. Sie wusste, dass dies unklug wäre. Die Frau wollte nicht unklug sein. Die Frau war mit einem anderen Mann verabredet.

Unruhig ging sie an den Blumenrabatten neben dem Zebrastreifen an der Uferstraße auf und ab. Der Mann kam zu spät. Das war es nicht, was die Frau beunruhigte. Sie sagte sich, sie habe keinen Grund zur Sorge. Warum sollte eine Verabredung mit einem anderen Mann zwangsläufig zum Betrug führen. Wen könnte sie überhaupt betrügen? Den Mann? Sich selbst? Die Verabredung? In einer Klausur hätte sie diese Frage nach einem simplen logischen Schema beantwortet. In ihrem Kopf zog sie es vor, die Ansichten hin und her zu schieben wie dicke samtige Vorhänge, auf und zu. Die entrollten Szenarien wurden immer verwirrender. Es gab zu viele Unbekannte. Das Problem der Frau war, dass sie alles zu Ende dachte. Sah sie eine Sachertorte, sah sie Verfettung, Herzinfarkt und frühen Tod. Sah sie ein schönes, preiswertes Kleid, schrie es sie an: Kinderarbeit! Es gab keine Heilmittel für sie. Medikamente merkte sie sich anhand der Nebenwirkungen.

Endlich erschien die Verabredung. Das Keuchen des Mannes kam der Frau erzwungen vor. Der Ford sei auf der Stadtautobahn liegen geblieben. Ihn wieder flottzumachen habe gedauert. Die Frau bekundete Verständnis, vermutete aber, dass der Ford in Wirklichkeit ein warmer, weicher Körper im Bett des Mannes gewesen war, der ihn und nicht den Wagen zwang, liegen zu bleiben. Sie verfluchte ihr Warten. In der halben Stunde, die sie sich vergebens die Füße an den Blumeninseln vertreten hatte, hätte sie zum Beispiel ihre Wäsche aus der Waschmaschine holen können. Stattdessen würde sie ihre Blusen heute Abend zerknittert und klamm aus der Trommel ziehen. Sie würde mit dem Bügeleisen vor dem Fernseher stehen und bei spannenden Stellen den Stoff versengen. Am liebsten hätte sie dem verspäteten Mann bereits jetzt eine Rechnung für die Blusen ausgestellt. Aber statt zu bügeln hatte sie sich in dieser halben Stunde am Schlachtensee einen Brief an den Mann in Altena ausgedacht:

Mein Lieber, wenn ich in fremde Fenster stiere, wenn ich fremden Tischen die Gäste abgucke, mich abwende, um meine eigenen Ecken und Kanten sorgenvoll zu mustern, wenn Spinnen vor meiner Nase baumeln, an unsichtbaren Fäden hochschnellen und kleine Käfer fressen, dann und immer wäre ich gern bei Dir. Bei Dir, wo alles weichgezeichnet ist. Die Deine.

Solche Briefe hatte die Frau hundertfach in ihrem Kopf gestapelt. Sie verschickte keinen davon. Ihr Sehnen schien ihr zu zerbrechlich, um versandt zu werden. Der Mann, mit dem die Frau verabredet war, zitierte gerne. Er hatte in Oxford studiert und war ein guter Schwimmer. Die Frau wusste das. So hatte sie ihn kennengelernt. Er hatte eine Chlorbrille getragen. Seine Augen waren verborgen gewesen. Das hatte ihr gefallen. Mit »You gave birth to me« wiederholte der Schwimmer gerade die Songzeile einer kahlrasierten Sängerin. Sie sprach darin von ihrem Baby. Er wollte der Frau anhand des Textes erklären, wie essentiell Geben und Nehmen waren und dass das Nehmen dem Geben immanent sei. Im Moment der Geburt gebe die Frau etwas und es werde ihr gleichzeitig etwas genommen, sagte er. Die Frau hasste Sätze mit »die Frau«. Sie hatte gehört, der Sängerin sei das Sorgerecht für ihr Kind entzogen worden. Der Schwimmer nahm den Einwurf dankbar auf. Er dozierte nun über das angelsächsische Rechtssystem. Die Frau und der Schwimmer gingen am Ufer des Schlachtensees entlang. Das Licht der untergehenden Sonne brach sich gleißend im See. Plötzlich spürte die Frau ein wohlbekanntes Zwicken in der Leistengegend. Sie hatte Seitenstechen, doch sie war nicht außer Atem. Die Frau wusste, was das Seitenstechen bedeutete. Sie langweilte sich. Sie legte eine Hand auf ihre Taille. Das Zwicken verstärkte sich. Der Schwimmer merkte nichts davon. Er war bemüht, keine Gesprächspausen aufkommen zu lassen. Die Haut unter der rechten Augenbraue der Frau spannte. Sie fühlte, dass gleich der nervöse Tic einsetzen würde, ein unwillkürliches Zucken unterhalb des Augenlides. Sie schwieg dagegen an. Gleichzeitig wuchs ihre Langeweile. Sie hörte nicht mehr zu, aber ihr fiel auch nichts ein, was sie hätte zum Besten geben können. Sie versuchte, die Langeweile zu unterdrücken. Sie wusste, dieses Gefühl war gefährlicher als Lust. Sie wusste auch, dass Lust oft aus Langeweile entsteht. Sie war froh, dass sich über ihr kein Dach wölbte. So würde sie wenigstens den Anstand wahren. An einer Wegbiegung schimmerte das Wasser durch die tief hängenden Äste der Bäume, die Frau schob ihren Arm durch den des Mannes. Der Schwimmer überlegte fünfzig Meter lang. Dann blieb er stehen und zog die Frau an sich. Die Frau hob ihren Kopf. Das Zwicken in ihrer Leistengegend war stärker geworden.

Heute habe ich einen anderen Mann geküsst, schrieb die Frau abends an den Mann. Sie wusste nicht, wie er das aufnehmen würde. Sie überlegte lange und fuhr dann fort:

Er schmeckte nach saurem Apfel.

Auf Deine Frage: Nein. Ewig soll nichts weitergehen. Wir können viel sagen. Wird es so besser? Hier! Fall mir in die Arme, gib mir die Schlangen und die Hunde in Deinen Mägen, ich werde sie zu Ketten winden, und singen werde ich von Dir und mir, von uns, denen nichts zu lächerlich ist. Keine Aufstände, keine Gebetsbücher, Unterhosen ohne Gummi und feige Viren. Das macht Spaß. Spaß ist das, was in den Fingerspitzen bizzelt, wenn Du Deine Nägel reintauchst. Er ist eine grüne Flüssigkeit mit Bläschen.

Die Frau war erschöpft, nachdem sie das geschrieben hatte. Sie hatte das Gefühl, es sei nicht von ihr. Sie legte das Blatt in ihre Unterrichtsmappe und schleppte es eine Woche lang mit sich herum. Dann schmiss sie es weg. Sie holte es wieder aus dem Papierkorb. Sie schickte den Brief an den Mann, zusammen mit einer Fahrkarte. Doch der Mann ließ sie verfallen. Seine Mutter war krank. Die Frau fand, dass das keine gute Ausrede war. Den Mann vom Schlachtensee hatte sie bereits vergessen.

Die Mutter des Mannes lag in einem Krankenhaus der Diakonie. Aber der Mann sah keine Nonnen. Er hatte den Brief der Frau in der Tasche. Dreimal hatte er ihn bereits gelesen. Auf der Toilette las er ihn noch einmal. Der Brief gefiel ihm. Er schien so voller Leben. Er beschloss, nächstes Wochenende zu der Frau zu fahren. Die Szene im Café im letzten Monat erschien ihm jetzt unwirklich. Wirklich war das Versprechen des Briefes, das er zwischen den Zeilen las. Er sah es vor sich, das kommende Glück, und vor Aufregung wedelte er mit dem Brief in der Hand, da er sonst hätte jauchzen müssen. Er las nur, was er lesen wollte. Den anderen Mann, den die Frau erwähnte, hielt er für einen Witz. Er ging zurück an das Bett seiner Mutter. Sie sagte, sie könne nicht schlafen im Krankenhaus, da seien Geräusche die ganze Nacht, das Stöhnen der Patienten, die Nachtschwester mit ihrem Freund. Nach drei Tagen beginne man Schwimmhäute zwischen den eigenen Fingern zu sehen, die Halluzinationen kämen durch den Schlafentzug. Der Mann erzählte seiner Mutter nicht, dass er seit zehn Jahren nicht mehr richtig geschlafen hatte. Er spürte einen leichten Zug im Genick und schloss das Fenster. Während er an dem Hebel ruckte, sah er eine Prostituierte auf der anderen Straßenseite. Es nieselte. Sie trug Plateaustiefel, enge Jeans und einen Miedergürtel aus Stretch, der ihre Taille zusammenschnürte. Ihre Haare wirkten wie ein langer schwarzer Teppich. Beim Hinausfahren nahm er das Mädchen mit. Auf dem Parkplatz eines Möbelgeschäfts beugte sie sich über ihn. Als er ihr in die Haare griff, schob sie ihn weg.

Zu Hause packte er das erste Mal seit Wochen seine Reisetasche aus. Die Wohnung roch komisch. Er riss die Fenster auf und bemerkte, dass sie graue Schlieren hatten. Er war zu faul, sie zu putzen. Er holte die Schildkröte aus der Obhut seiner Nachbarin und versprach der Studentin ein Abendessen. Er würde Spaghetti Vongole machen, das ging schnell. Er überlegte, wo er die Muscheln kaufen sollte. Als er mit der Schildkröte in der Hand vom Apartment der Studentin auf den Hausflur trat, sah er die Frau vor seiner Wohnungstür. Sie hatte kurzerhand den Zug genommen. Sie sahen sich an – der Mann mit dem Kriechtier in seiner Hand, die Frau mit einer müden Reisemiene. Doch sie forschten nicht im Blick des anderen, Fragen waren überflüssig. Im Widerschein ihrer Wünsche verwandelten sie sich selbst in die vielversprechenden Wesen ihrer Briefe, voller Rätsel und Geheimnisse. Sie waren ihre eigenen Engel. Die Frau sagte, ich liebe dich. Der Mann sagte, ich dich auch. Zwei Tage später wussten sie mehr.

Die Katze

Du bist allein in dem Haus in den Hügeln. Vor dem Fenster biegen sich die Bäume, der Wind pfeift um die Ecken, der Himmel spannt sich blau. Im Garten liegt die rote Katze unter dem Stein im Sand begraben. Du hast sie verscharrt. Die rote Katze streift um das Haus, wenn nachts die fünf Hunde heulen, du siehst sie nie. Es sind unsichtbare Hunde. Ihre Stimmen winseln. Sie ächzen, sie keuchen, jaulen. Nur einen Ton beherrschen sie. Jeder einen anderen, ein nie ermattender Chor. Sie klagen, sie flehen, Nacht für Nacht. Du stopfst dir Wachs in die Ohren, du wälzt dich im Schlaf. Am nächsten Morgen ist der Pilz hinter deiner Stirn zu groß für deinen Schädel, dein Hirn drückt von innen dagegen. Du hast Kopfweh.

Im Wartezimmer sitzen zwei Männer. Der eine hat ein blendendes Gesicht, manchmal verzerrt es sich, während er spricht oder zuhört, und wird eine Fratze. Du hakst ihn ab. Du schreibst ihn wieder oben auf die Liste. Das Dorf ist klein. Fast so eng wie sein Hemd. Es spannt an der Brust und an den Schultern. Gleich werden die Knöpfe fliegen. Er atmet ein. Du schaust ihm nicht in die Augen. Deine Finger tasten nach dem geschwollenen Mückenstich. Das Bein ist dick und heiß um die Stelle herum. Der Arzt wird dir Tabletten geben. Du wirst die Rechnung gleich bezahlen. Du bist die Fremde hier. Der zweite Mann im Wartezimmer ist alt. Er sitzt in seiner ausgebeulten Hose aus Kunstfaser, er denkt: Jung zu sein bedarf es wenig, doch wer alt ist, ist ein König.

Die Katze stirbt. Du lässt sie verhungern. Du schaust ihr zu beim Sterben. Zuerst maunzt sie noch. Sie steht am Fenster und schreit. Du verscheuchst sie, du fauchst sie an, du wirfst mit Steinen nach ihr. Ein Brocken aus Mörtel zerspringt an ihrem Kopf. Sie schaut verdutzt, sie verzieht sich. Sie miaut aus der Ferne. Später verstummt sie. Es fällt dir bald auf. Sie schleppt sich auf die Terrasse. Sie liegt dort bereits wie tot, dann schafft sie es zu den Treppenstufen, von da kriecht sie neben den überdachten Parkplatz. Sie braucht drei Tage dafür. Überall sackt sie zusammen, sie streckt die Beine von sich, schließt die Augen und regt sich kaum, auch wenn du mit den Einkaufstüten direkt an ihren Ohren raschelst. Du siehst die eingefallene Bauchdecke sich heben, sie atmet. Sie lässt sich nicht stören. Du stapfst mit dem Essen hinauf in die Küche. Das Haus ist gelb gestrichen, ockergelb, der Putz trägt Flecken von der Feuchtigkeit in den Mauern. Zwei runde Bögen beschirmen die Terrasse und tragen den Balkon. Es ist ein Sommerhaus. Die Treppe ins obere Geschoss liegt im Freien, die Heizkörper sind klein, angesichts der hohen Räume. Ein zugiges Haus. Der Wind weht hindurch, knistert in den Zeitungen, schlägt die Türen zu. Es ist später Sommer, früher Herbst. Die Ameisen ziehen eine schwarze Kette über die Schnauze der roten Katze. Ihre Augen sind geschlossen, aber sie atmet. Sie ist nur zu müde, um die Ameisen zu verscheuchen.

Der Mann mit dem blendenden Gesicht liest eine Segelzeitschrift. Er liest dieselbe Seite seit fünf Minuten. Gleich ist er dran. Du stehst auf und gehst zu dem Garderobenständer, an dem deine Jacke hängt. Du holst ein Taschentuch aus der Tasche, du schnäuzt dich und schielst in die Zeitschrift. Eine Yacht mit gehissten Segeln, Schaum vor dem Bug, ein Hund bellt in die Gischt. Das blendende Gesicht schaut zu dir auf und spricht. Du verstehst seine Worte nicht. Ein breiter Dialekt. Er jongliert mit den Vokalen, du nickst. Das war die falsche Antwort. Er stutzt. Da – wieder die Fratze. Als wäre er kurz ein anderer. Der zweite Mann tippt auf seinem Mobiltelefon herum, er tut sehr konzentriert. Du fragst, wird es regnen heute Nacht? Der Jüngere schweigt und wiegt den Kopf. Das blendende Gesicht ruft stumm: Ich bin mehr als du erwarten kannst. Du wirst wütend. Du ordnest die Zeitschriften auf dem Tisch, als wären sie Munition. Er hält sich für sehr schön. Sein Hemd ist kurz vorm Bersten an der Brust. Die obersten Knöpfe sind offen, der Kragen klappt auf. Diesen Mann zu berühren wäre wie an einen gedeckten Tisch gefesselt zu sein. Mit einem ein Meter langen Löffel in der Hand und niemand bereit, dich zu füttern. Würdest du ihn füttern? Jemand anderen? Würdest du Abmachungen treffen, Koalitionen bilden an diesem Tisch? Wärst du jemals satt?

Guten Abend, guten Abend, Abendgut, Ahhh-Bend – der Gesang beim Gang durch das Dorf. Warte nicht auf deinen Einsatz, blicke, spreche, schreite voran. Gassen-Bingo, Ringelreihen. Eine alte Frau, viele alte Frauen, alte Männer, Familien, hier ist niemand allein. Grüß dich tot, sonst fallen sie über dich. Herr. Im Himmelderdurichtest. Die Frau aus dem Gemüseladen geht auf der anderen Straßenseite vorbei. Knuff in den Rücken. Sag es, Herrgott. Mach mich nicht verrückt. Obwohl du weiter schweigst, hat es zum Irrenhaus nie gereicht. Muttertier trabt neben dir, ärgert sich schwarz, wird zu einer pelzigen Raupe, die dich anfunkelt. Ihre Pupillen sind schwarzer, glänzender Glibber, versteckt unter den Haaren. Du hast sie blamiert, Franzbranntwein ist süßer als ihre Gedanken jetzt. Du schaltest ab, böses Gesicht. Du hasst es, zu grüßen. Wenn du Fremde grüßt, öffnest du die Tür. Du lädst die Vampire ein. Deine Mutter weiß das nicht. Deine Mutter ist per Sie mit den Vampiren. Du nicht. Sie duzen dich, sie fassen dich an, ohne zu fragen, sie riechen alt. Ihre Ohrlappen reichen bis zum Boden, sie hören alles, selbst was du verschweigst. Du bist jetzt älter, niemand zwingt dich mehr. Du trägst einen Panzer vor deiner Brust, zwei weiße Schalen, sie hängen an Ketten wie Zugbrücken, sie sichern den Graben, Abstandhalter. Niemand fasst dich an. Du bist allein. Du bist verwundbar. Sei auf der Hut. Nein, sei stolz. Du bist allein. Vollkommen. Richtig. Du bist dir fast sicher, dass du es bist. Du bestehst auf dem Sie. Gleichzeitig denkst du von dir als einem Mädchen. Du bist eine Frau. Dir gefällt das Wort nicht. Es macht dich schwer. Du möchtest sein wie das Seil, das deine Freundinnen schwingen auf dem Hof. Ein gleichmäßiges Abenteuer. Auf und ab mit einem leichten, hüpfenden Herzen. Aufregend kontrolliert. Kein Weib. Nicht gewaltig oder gar derb. Auch keine Dame. Ein Mädchen. Ein Seestern, vielleicht. Du weißt, dass sie keine Augen haben, auch kein Hirn. Sie rollen durch den Ozean, sie sind Stachelhäuter mit trichterförmigen Saugnäpfen anstatt Füßen. Du wärst ein Seestern mit Abitur und Gesangsausbildung am Konservatorium. Du glaubst nicht mehr, dass du Sängerin werden willst. In einer der Stunden mit dem kahlen Mann und den Tonleitern hast du verloren, was dich einmal daran glauben ließ. Dass du dein Leben damit verbringen willst, den richtigen Ton zu treffen. Wahrscheinlich bist du einfach nicht gut genug. Oder hast du nicht genügend Biss? Zu viele Plomben, Brücken, Amalgam. Das Quecksilber würde sich lösen, wenn du sie entfernst, es würde dich vergiften. Dein Kopf ist voller gesunder Gedanken. Sie machen dich krank. Du steckst dein Abiturzeugnis in eine durchsichtige Hülle, du legst die Hülle in einen Ordner. Du stellst den Ordner ins Regal.

Du schläfst in dem Ferienhaus. Im Herbst steht es leer. Es gehört einer Stammkundin deiner Mutter. Die Frau hofft, durch diesen Gefallen den besten Platz am Tresen zu erobern. Du glaubst nicht, dass sie den bekommt. Du glaubst eigentlich an gar nichts mehr. Aber in diesem Fall hast du Gründe dafür. Du kennst deine Mutter. Sie würde nie den Frieden in ihrer Kneipe gefährden, sie wird sich nicht anbiedern. Sie darf niemanden bevorzugen, sie schenkt alle Gläser gleich voll. Das ist ihre Größe und ihr Problem. Du magst das Haus. Es ist geräumig, der Garten ist riesig. Es ist ein struppiger, wilder Garten, das hohe Gras ist verdorrt, es gibt wenige Blumen, viele knorrige Olivenbäume mit ihren blassen, länglichen Blättern, an denen das Wasser abperlt wie auf einer Regenhaut. Sie stehen auf Terrassen am Hang. Im steilen Garten wachsen Artischocken, Disteln, Mais, Tomaten, Feigen, Aprikosen, Pflaumen, Birnen, Äpfel, Kohl, Schafgarbe, Holunderblüten. Du darfst dich bedienen. Die Ernte gehört dir, die Besitzerin kann dieses Jahr nicht kommen, der Gärtner ist krank. Es gibt nicht mehr zu tun als zu pflücken. Du backst Pflaumenkuchen und kochst viele Töpfe Marmelade. Einmachen ist schöner als schlafen. Es macht dich ruhig und lustig. Du tanzt mit dir selbst auf der Terrasse. Du drehst die Musik laut, du kreiselst wild, du lachst. Du pumpst mit den Armen, wackelst mit dem Hinterteil, du findest dich schön. Du siehst wie ein Affe aus dabei. Die Schatten an den Wänden zeigen es dir. Das Haus blickt auf Baustellen, früher lag es einsam am Dorfrand. Jetzt hat es Betonmischer, Steinhaufen und die Hauptstraße zur Gesellschaft. Auf der Straße flitzen die Autos den ganzen Tag den Berg hinauf und hinunter. Sie hupen vor der Kurve, Motorradfahrer knattern vorüber, auch der Motor des Busses brummt laut wegen der Steigung. Du legst dich auf die Mauer über der Straße. Die Fahrer hupen und winken zu dir herauf. Du bist blind hinter deiner Sonnenbrille. Blinde sind besser dran als Taube. Du kannst die Fahrer hören, du brauchst sie nicht zu sehen. Einmal, am Morgen, hörst du Hufe klappern auf der Straße. Du rennst im Schlafanzug hinaus. Du siehst einen Jungen, einen jungen Mann in einem schreienden T-Shirt auf einem weißen Pferd. Du lachst. Ein Witz von einem Märchenprinz. Er hält die Zügel in einer Hand, die gegenüberliegende Schulter leicht nach hinten gekugelt, der linke Arm pendelt in der Luft. Er hält sich stolz. Das Pferd tänzelt ein wenig, wenn die Autos es überholen. Es trabt. Ein Schimmel. Ausgerechnet. Du lachst dich kaputt. Er sieht nicht zu dir herauf. Er ist ein Bild von einem Mann. Das Bild, das du nicht malen kannst. Du siehst nur seinen Rücken.

Im Garten pflückst du Birnen. Sie sind süß und reif, die feinsten Birnen für dich allein. Du bist glücklich. Alles gehört dir. Die Sonne wärmt dich, die Luft hüllt dich ein. Die Zikaden zirpen, die Grashüpfer gehören dir, die Bienen, die Schmetterlinge, die Vögel im Strauch. Deine Beine wollen laufen, deine Augen sind Strudel, sie ziehen alles in sich, du fühlst die Kraft in deinen Armen, wie lang du bist und wie stark. Du nimmst die Gießkanne hoch. Etwas trommelt von innen gegen die Wand. Vor Schreck lässt du die Gießkanne gleich wieder fallen. Eine Eidechse windet sich in der Plastikhöhle. Du schüttelst sie aus der Öffnung. Sie rennt davon, eilig, doch immer wieder eine Achtelsekunde lang stoppend, um sich abzusichern nach allen Seiten. Du beobachtest sie, bis sie im Gras verschwunden ist. Lächelnd blickst du zur Treppe. Dort tanken die Echsen die Sonnenwärme in ihr Blut. Sie brauchen die Strahlen, sie machen sie schnell. Keine Eidechse ist zu sehen. Dein Blick fällt auf die letzte Stufe. Da siehst du sie. Die Ameisen sind überall. Sie kriechen über die rote, hingestreckte Katze. Schwarze Schnüre über ihrem Körper. Sie fressen sie auf.

Die Katze lebt noch, als du zum ersten Mal in die Altstadt gehst. Die Häuser sind baufällig, schief. Wie Betrunkene lehnen sie sich aneinander in den Gassen, dazwischen die labyrinthischen Treppenstufen, manchmal dünne Brücken zwischen den Häusern, nachträglich angebaute Erker ohne Fenster, selten ein Balkon. Wäscheleinen hängen vor den Fenstern, die Türen stehen offen, bunte Plastikbänder wehen davor. Du schaust in die Wohnungen hinein. Die Fernseher laufen, auf dem Herd brutzeln Zucchiniblüten, überall ist es laut und eng. Die Menschen sitzen vor ihren Türen zusammengeklumpt. Kittelschürzen, Hornbrillen, Kopftücher. An einem kleinen Brunnen zapft ein Junge Wasser. Sie mustern dich. Du grüßt nicht. Du schlenkerst die Arme.