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Inhalt

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Titel

I. LITERARISCHES

Rührei oder Eierspeis – Sprachformen

Literatur und Trost – Aspekte zeitgenössischer Literatur und ihre gesellschaftlichen Bedingungen

Heute – Früher

Neue Marktbedingungen

Die Vermittlerbranche

Noch eine Vermittlerbranche

Das Anpassen des öffentlich-rechtlichen Radios an den Markt

Die Krise des Romans

Was ist eigentlich spannend?

Das leidige Thema: Der Krimi

Reality-Hunger

Das neue Menschenbild

Es gibt kein Zentrum Ich

Die Wahrnehmung ist nicht unmittelbar

Traum ist Erinnerung

Erkenntnisse und Literatur

Das Erdensekretariat der Genauigkeit und der Seele

Das »interesselose Wohlgefallen« Kants

Literatur als Trost

Die rohe Kunst

Turmalin

Kunst ist eine Sache der Orientierung

Bin ich ein überflüssiger Mensch?

Wo fängt die Gegenwart an?

Zustandsgebundene Kunst

Behindert ist, wer behindert wird.

Niemand ist nur krank oder nur gesund.

Ich frage mich, warum alle meine Lieblingsprodukte nach kurzer Zeit wieder aus den Supermarktregalen verschwinden

Der erste Satz

Sind Sie eigentlich fit genug?

Bipolares

Ich heiße Idiot

Integration

Inklusion

II. BIOGRAPHISCHES

Eine kurze Kaffee-Geschichte

Der rote Faden

Die Hofgasse

Weg von Linz

III. WEIBLICHES

Muttertag, der Tag des Wellensittichs

Die Fünfzigerjahre: Wellensittichgeneration?

Die Sechziger-, Siebzigerjahre: Das Schweigen rächt sich

Die Achtziger-, Neunzigerjahre: Alles Persönliche ist politisch

Das Frauenbild bei Karl Farkas

Jane Bowles

IV. REDLICHES

Das Seepferdchen im Kopf

Warum Bibliotheken unverzichtbar sind

Margaret Atwood, Anwältin der Mägde

Leben im Zeichen der Bedrohung

Anwältin der Mägde

Die Mägde in der Penelopiade

Die Magd Grace Marks

Die Magd Desfred

Anwältin der Frauen

Die Frau als Madonna und Hure

Ironie und Unsentimentalität

Die List der Frauen

Das Schreiben wird schwerer

Dankesrede zum österreichischen Würdigungspreis

Besinnen wir uns auf das Weltmännische

Anton-Wildgans-Preis Dankesrede

Ringel oder Wildgans?

V. POLITISCHES

Wer hat Angst vorm schwarzen Mann?

Macht Missbrauch

Einspruch: Ist Missbrauch überhaupt ein Verbrechen?

Nachweise

Autorenporträt

Kurzbeschreibung

Impressum

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Sind Sie eigentlich fit genug?

I.
LITERARISCHES

Rührei oder Eierspeis – Sprachformen

Wenn meine Mutter gesagt hat Wir saßen am Tisch, hat mein Vater meistens gelacht. Er wurde nie müde darauf hinzuweisen, dass die Familie meiner Mutter anscheinend die Angewohnheit gehabt hatte, gruppenweise auf statt beim oder seinetwegen an dem Tisch zu sitzen (und zwar im Präteritum). Dabei war mein Vater ansonsten sehr bewandert, was Grammatik betraf. Überhaupt war er genau, Buchhalter halt. Aber er fühlte sich als Österreicher aus dem Böhmerwald, meine Mutter sich als Deutsche aus dem Ruhrgebiet. Da trafen Welten aufeinander: Deutschland auf Österreich und Tschechien, die Stadt (Industriestadt Essen) auf ein infrastrukturarmes Land (Šumava), Katholizismus (Mutter) auf Atheismus (Vater), dazu jeweils eine vorangegangene Ehe. Der erste Mann meiner Mutter (auch ein Österreicher) war im Zweiten Weltkrieg gefallen, die erste Frau meines Vaters (eine Tschechin) war samt der gemeinsamen Tochter nach dem Zweiten Weltkrieg hinter dem Eisernen Vorhang verschwunden, während er bereits in Linz bei der Vöest arbeitete. Da waren sie längst geschieden.

Ich habe immer mit meinem Vater mitgelacht. Meine Vorstellung: Opa und Oma, beide mit baumelnden Beinen am, für den echten Österreicher also auf dem Tisch sitzend! Erst 1980, als mein erstes Buch erscheinen sollte, bin ich während des Lesens der Korrekturfahnen erstmals auf den Gedanken gekommen, dass meine Mutter mit der Kontraktion am recht gehabt haben könnte. Auch wenn sie mit den Kindern statt mit die Kinder sagte. Möglicherweise sogar mit ihren Stühlen (für sie ungepolstert) statt unserer Sessel und ihren Sesseln (gepolstert) statt unserer Stühle und Schränken statt Kästen und Treppen statt Stiegen. Aber gleich darauf mein Vaterreflex: Wieso eigentlich? Es gibt schließlich ein Österreichisches Wörterbuch. Andrerseits: Da steht ja sogar die Gschaftlhuberei drin. Aber wer soll das im deutschsprachigen Ausland verstehen?

Mein erster Verlag war in der Schweiz. Dort lachte man über meine österreichischen Kontaktlinsen, nahm aber das schweizerische Sackmesser ohne ironisch-erotischen Unterton hin. Kann man die Gschaftlhuberei einem Deutschen oder einem Schweizer zumuten? Oder den Grantscherbn oder gar die Futlapperl? Sackmesser war ja nichts dagegen!

Lange Zeit galt es in Österreich als Anbiederung an den deutschen Buchmarkt, Austriazismen zu vermeiden. Besonders verpönt war der Penner statt des Sandlers. Am schlimmsten war Handkes Stadtstreicher. Abgesehen davon, dass Stadtstreicher wohl die wertfreieste, objektiv schönste Beschreibung für einen Sandler ist, kann sie in bestimmten Zusammenhängen euphemistisch sein. Die Frage tut sich auf: Soll ich mich bei Interviews etwa auf das deutsche Hochdeutsch konzentrieren, welches ich auch nach meinem oder gerade wegen meines achtjährigen Aufenthalts in Berlin eh nicht beherrsch(t)e? Soll ich wirklich an Ostern, an Weihnachten, statt zu Ostern, zu Weihnachten sagen?

Tatsache ist, der deutsche Buchmarkt ist um ein Vielfaches größer als der österreichische und der Schweizer Buchmarkt zusammen. Die meisten Leser sind also Deutsche. Sollen sie mich verstehen oder nicht? Glossare am Ende eines Romans sind ja auch nicht das Gelbe vom Ei. Soll ich dem deutschen Leser also seine ganz andere Vorstellung vom deutschen Stuhl durchgehen lassen oder auf der Vorstellung bestehen, die ich vom österreichischen Stuhl habe? Ich würde mal sagen: Kommt ganz drauf an. Auf den Zusammenhang, den Inhalt, die Nuance … Zusammenhang hin oder her, Penner würde ich trotzdem niemals schreiben! Penner wäre geradezu ein Verrat. Ist mein Vaterwiderstand nichts als der Widerstand des auf ein kleines Inselchen geschrumpften, einstmals großen Österreich gegen den kleinen preußischen Staat? Oder gar antifaschistisch? Andrerseits: Sind nicht die größten Wir-lassen-uns-nichts-vom-Ausland-vorschreiben-Nationalisten Faschisten?

Wieder andrerseits: Artmann, Achleitner, Kumpfmüller, alles Seppl-Literatur? Unverständlich außerhalb der österreichischen Staatsgrenze? Man sollte bedenken, dass der Mensch am meisten durch den Widerspruch lernt. Und zu lernen gibt es wohl auf beiden Seiten genug.

Das pinkfarbene Labskaus ist ein Seemannsgericht, hergestellt mit dem, was man auf einem Schiff, das wochenlang unterwegs ist, hat: Fisch, rote Bete (Rauna für Österreicher), Konservenfleisch (Corned Beef), Kartoffeln, eingelegte Gurken, usw. Und Spiegelei (Hühner waren an Bord). Pinkel, rote Grütze, Broiler … Es gibt noch viel zu lernen.

Zunächst: Sowohl das österreichische Hochdeutsch als auch das Schweizer Hochdeutsch und das bundesdeutsche Hochdeutsch sind ursprünglich aus der sächsischen Kanzleisprache hervorgegangen. Und zwar nicht aus ideologischen Gründen. Wir haben das dem Pragmatismus von Maria Theresia und Josephs II. zu verdanken, denen allgemeine Verständlichkeit wichtiger war als Regionalität.

Ich habe mich als Kind in dem immerwährenden Kampf Österreichs gegen Deutschland auf die Seite meines Vaters geschlagen. Was ist ein Schweinebraten gegen einen echten Schweinsbraten? Die Eierspeis ist doch dem Rührei haushoch überlegen. Wer will schon Grützwurst essen?

Einer Studie zufolge wird das österreichische Hochdeutsch in den meisten mitteleuropäischen Ländern als Dialekt verstanden. Ausnahme: Tschechien. Da wird (angeblich) österreichisches Deutsch gelehrt. Na eben!

Mein Vater war kein Heimatvertriebener. Er ist wegen seiner zerrütteten Ehe bereits 1939 freiwillig nach Linz gezogen, um in der Verwaltung der Hermann-Göring-Werke zu arbeiten, wo er später auch meine Mutter kennengelernt hat. Die Zeitschrift der Sudetendeutschen Heimat hatte er allerdings bis 1973 abonniert. Erst als diese den Militärputsch gegen Allende in Chile feierte (»In Chile fließt endlich rotes Blut!«), hat er sie abbestellt. Einmal war ein Mitglied der Tschechischen Philharmonie, die in Linz ein Gastspiel gab, bei uns zu Besuch. Meine Halbschwester flüchtete 1960 aus der Tschechoslowakei. 1968, als während einer Autofahrt im Radio vom Einmarsch der Russen in der Tschechoslowakei berichtet wurde, fuhr mein Vater an den Straßenrand, blieb stehen und weinte. Ich war Kommunistin damals.

Ich verstehe bis heute typisch oberösterreichische Ausdrücke nicht. Neulich erst hab ich erfahren, was genau das von mir geliebte Einen-Gizzi-haben heißt, und dass das gar nicht oberösterreichisch ist. Mein Vater verstand auch vieles nicht, zum Beispiel: oaschlings (rückwärts) oder feigeln (Probleme bereiten). Sein nopfitzen (schlummern, kurz einschlafen) hingegen kannte in Linz niemand. Meine Mutter war strikt gegen jeden Dialekt, den sie als schlampig bezeichnete. Sie selbst ist nie wie der schlappe Österreicher einfach irgendwo gesessen, sondern sie hatte stets aktiv irgendwo gesessen, war aber andrerseits durchaus imstande, Semmeln zu sagen statt Brötchen oder Schrippen. Ich bin eben mehrsprachig aufgewachsen. Mit allen Vor- und Nachteilen.

2018