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Inhalt

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Titel

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

Autorenporträt

Über das Buch

Impressum

Rivenports Freund

1.

Der Bericht der zuständigen Schwester im Krankenhaus würde als genauen Zeitpunkt den 24. Juni 1952, 7 Uhr 20, festhalten. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, und Doktor Rodrigo Sebastian Rivenport war gerade damit beschäftigt, den Inhalt der Behälter Q und V in die Holzschachtel Δ1 zu übertragen. Neun Bläulinge der Gattungen Calycopis, Strephonata und Strymon hatte er schon erfolgreich bewegt und betitelt. Rivenport liebte es, die ersten Stunden des Tages in der Abschottung seiner Schmetterlingssammlung zu verbringen.

Nunmehr sieben Jahre schon, seit dem Tod seiner Frau Rosa, schlief er schlecht und wenig. Vor dem Morgengrauen schlich er sich auf Zehenspitzen aus dem Schlafzimmer, den Flur entlang an dem Zimmer seiner Hausdame Maria vorbei, die es nicht guthieß, dass er so früh schon auf war, die Treppe hinunter, am Wohnzimmer vorbei, bis in den Keller, wo sich die Sammlung befand. Erst als er den Riegel vor die Tür geschoben hatte, entwich ihm ein befreiender Seufzer.

So früh morgens, wenn die Meisten noch selig vor sich hinschlummerten, war sein Kopf klar und seine motorischen Fähigkeiten in Höchstform. Außerdem, und das war das Wichtigste, musste er sich um diese Zeit noch nicht mit den Problemen seiner Patienten im Krankenhaus herumschlagen. Es waren derzeit besonders spannende Tage für Rivenport, denn er hatte erst kürzlich damit begonnen, eine Neuordnung seiner Schmetterlinge durchzuführen. Ziel war es, seine private Sammlung an die Systematik des lokalen Naturkundemuseums, das er seit ein paar Jahren auch leitete, anzugleichen und die beiden Sammlungen zu vereinen. Bei fast 8000 Exponaten würden die Direktoren minderer Naturkundemuseen vor Neid erblassen und sogar die der großen Insektensammlungen von La Plata und Buenos Aires aufmerksam werden.

Zur feierlichen Neueröffnung des Museums würde er Werbung in der Revista de la Sociedad Entomológica Argentina schalten und versuchen, einen Artikel zu veröffentlichen oder zumindest die zur Eröffnung geladenen Journalisten so zu begeistern, dass sie etwas schreiben würden. Schon jetzt gingen ihm Schlagzeilen durch den Kopf: »Unbekannte Kleinstadt im Norden eröffnet eigenes Naturkundemuseum«; »S. wird zum Paradies für Entomologen«; »Schönste Schmetterlingssammlung nördlich von Buenos Aires«. Und all dies als Folge eines ersten, unscheinbaren Schritts: der Neuordnung seiner Sammlung. Freilich verlor er das große Ganze nicht aus den Augen, den Ruhm, der auf ihn wartete, die Früchte seiner Arbeit. Aber es galt, stufenweise vorzugehen, sich jeden Morgen diszipliniert an die Arbeit zu machen, den säuberlich geschriebenen Papieren, welche die vorangegangene Planungsarbeit dokumentierten, dem »Generalmarschplan«, wie er sie gerne nannte, minuziös zu folgen.

Rivenport war gerade dabei, einen Schmetterling umzuquartieren. Mit der Pinzette griff er den filzigen, mit einer Nadel durchstochenen Körper des graubraun gepunkteten Bläulings Strymon eurytulus, hob ihn in die Luft und steckte ihn in den Korkboden seiner neuen Bleibe. Er inspizierte sorgfältig Flügel, Fühler und Körperspannung. Das Insekt hatte den Transfer unversehrt überstanden und war, nach wenigen Berichtigungen mit der Pinzette, wohl zur Schau gestellt.

Für sein Alter wirkte Rivenport noch recht jung. Die Haare waren voll und ragten zäh aus seinem glühbirnenförmigen Schädel. Noch immer glänzten sie schwarz. Auch seine Augen zeigten keinerlei Anzeichen von Müdigkeit, sie funkelten wissbegierig, besonders jetzt, da er von seinem Projekt eingenommen war. Ein paar Falten hatte er natürlich. Sein zarter Teint vermochte es nicht, sie zu verbergen. Oder, wie seine Hausdame Maria feststellte, wenn sie ihn zu einem Spaziergang im Sonnenschein überreden wollte: Er war ungeheuer bleich, wie ein altes englisches Schlossgespenst.

Im Oktober hatte er seinen fünfzigsten Geburtstag gefeiert, oder besser: die Stadt hatte ihn gefeiert. Hinter seinem Rücken war ein für seinen Geschmack viel zu aufwendiges Fest geplant worden. Ein Überraschungsfest! Dabei verabscheute Rivenport Überraschungen. Er fürchtete sie sogar, denn sie verhießen nie Gutes. Überraschungen waren unplanbare Elemente, die in einen wohlorganisierten Raum einbrachen. Überrumpelungen waren sie. Wie etwa der Ausbruch der Spanischen Grippe, als er siebzehn war und eines Morgens in der Schule ein Drittel seiner Mitschüler einfach nicht auftauchte. Überraschung! Der frühzeitige Tod seiner Frau oder das Eindringen von Parasiten in seine Sammlung: wieder Überraschungen! Einmal hatte er das zweifelhafte Vergnügen gehabt, die vermaledeiten Museumskäfer beim Naschen zu erwischen. Binnen weniger Tage hatten ständig schlüpfende Larven, die sich in den Behältern eingenistet hatten, eine Vielzahl bemerkenswerter Sammlungsexemplare gefressen.

Ja, Überraschungen waren ihm verhasst. Maria, die das Fest aus dem Hut zauberte, hatte es natürlich gut gemeint, und eine Flucht vor der Situation kam nicht infrage, wollte er nicht sein Gesicht verlieren. Das ging nicht, schließlich war er in S. ein angesehener Mann: Direktor des Krankenhauses, Mitglied des Herrenklubs und Präsident des Naturhistorischen Museums. Rivenport wurde sogar ehrfürchtig »El Profesor« genannt, da in S., wie in jeder argentinischen Provinzstadt, viel Wert auf Ehrentitel gelegt wurde: von Don, Doña, Doctor bis hin zu Capitán oder sogar Comendador. So hatte er also geseufzt, die Arme nach oben geworfen, als hoffte er auf ein Wunder Marias – nicht seiner Hausdame, sondern der Allerheiligen von Guadalupe – und gute Miene zum bösen Spiel gemacht. In genau solchen Momenten war ihm der Gedanke an die harmonischen Morgenstunden in seiner Kammer wie ein Rettungsanker. Hier war es ruhig, hier herrschte Gleichgewicht, hier gab es keine Überraschungen.

Rivenport griff nach dem Generalmarschplan. Er wühlte in den Seiten, suchte sich durch seine mikroskopische Handschrift, bis er in der komplexen Gliederung der Lepidoptera fündig wurde. Der rotschwarze Strymon heodes war an der Reihe, ganz wie er es sich gedacht hatte. Einfach wunderbar, wenn ein Rädchen ins nächste greift. Er legte die Blätter zur Seite und wollte zur Pinzette greifen, als es plötzlich an die Tür klopfte.

Rivenport erstarrte. Hier unten wurde er nie gestört. Genau genommen war das nur ein einziges Mal passiert. Vor sieben Jahren. Damals wurde er über den Tod seiner Frau informiert. Wer könnte es jetzt sein? Maria? Sie würde es nicht wagen. Sicher, sie war gewiss schon aufgestanden und wahrscheinlich auch schon in der Küche, um das Frühstück vorzubereiten, hatte wie gewohnt nach allen Seiten Befehle erteilt, den armen Koch mit ihrer herrischen Art gepeinigt. Bevor er sich weiter überlegen konnte, wer ihn denn störte und ob es überhaupt wirklich geklopft hatte und nicht bloß eine Einbildung war, klopfte es erneut. Diesmal heftiger.

»Professor, ich bin’s.«

Also doch Maria. Ihre Stimme schwankte zwischen Erregung und Kleinmut. Sie hatte Angst, dass er sie ausschimpfen würde: zu Recht!

»Ich wollte Sie nicht stören, aber die Ordensmutter hat darauf bestanden. Sie rief an. Ein Notfall im Krankenhaus. Ein Mann wurde mit schweren Verletzungen eingeliefert. Sie sollen sofort kommen.«

Rivenport wurde nervös. Nun wagte es die Außenwelt bis in sein heiliges Refugium. Sakrileg! Und dabei gab es nicht einmal einen triftigen Grund für diese Störung. Ein verletzter Mensch am frühen Morgen. Und wenn schon? Für was hatte er denn den Schichtdienst eingeführt? Natürlich, die Verletzungen mochten schlimm sein, vielleicht befand sich der Patient sogar in Lebensgefahr und der diensthabende Arzt wollte keinen komplizierten Eingriff wagen, ohne ihn vorab zu konsultieren. Und überhaupt, das Krankenhaus von S. war alles andere als eine betriebsame Klinik, schwere Verletzungsfälle, und dann noch mitten in der Nacht, waren eine Seltenheit. Konnte man trotzdem nicht warten, bis er zur gewohnten Uhrzeit erschien?

Rivenport antwortete schroff: »Der zuständige Arzt muss sich kümmern.«

Er hielt inne, um zu hören, ob Maria fortging. Doch sie bewegte sich nicht. Er wollte sie schon wegschicken, gab schließlich aber doch einer gewissen Neugier nach: »Was hat dieser Mann? Wer ist er überhaupt?«

»Niemand kennt ihn.«

»Wie meinst du das?«

»Keiner weiß, wer der Mann ist.«

»Bist du sicher? Keiner? Auch nicht die Priorin?«

»Auch sie nicht.«

Ein Unbekannter in S.? Das war tatsächlich eigenartig. Rivenport musste lächeln, als er an die mollige Priorin der Ordensschwestern der Allerheiligsten Jungfrau Maria von Guadalupe dachte. Die »Mutter Priorin« oder die »Ordensmutter«, wie die Einheimischen sie nannten, war eine aufbrausende kleine Frau. Wahrscheinlich trabte sie gerade nervös durchs Krankenhaus und murmelte ein Gebet nach dem anderen. Ein Unbekannter in S. mit schweren Verletzungen. Er konnte sich vorstellen, dass sie ihn sofort hatte rufen lassen, bevor eine vernünftige Einschätzung der Situation überhaupt möglich war. Und sie würde sich mit der Verantwortung so lange quälen, bis sie sicher sein konnte, dass Rivenport auf dem Weg ins Krankenhaus war und sich der Sache annehmen würde. Indessen würde sie weiter aufgebracht umherirren, sich pausbäckig bekreuzigen und ihre Ave Marias runterrattern.

Auch wenn ihm der Gedanke nicht ganz missfiel, wäre es nicht fair gewesen, sie weiter schmoren zu lassen: »Ich komme gleich.«

Er lauschte, wie Maria die Treppe hinaufstieg. Erst als es still wurde, konnte er das unangenehme Gefühl abschütteln, in seiner Privatsphäre gestört worden zu sein. Er verschloss die offenen Insektenkästen und legte alles so zurecht, dass er es bei nächster Nutzung in einwandfreiem Zustand vorfinden würde. Bevor er die Kammer verließ, drehte er sich noch einmal um und ließ den Blick durch den Raum schweifen. Dann schaltete er das Licht aus und zog mit einem kaum wahrnehmbaren Seufzer – als hätte er eine Vorahnung, dass ihm eine Rückkehr hierher für eine längere Zeit verwehrt bleiben würde – die Tür hinter sich zu.

2.

»Mit leerem Magen ist nicht gut arbeiten«, wiederholte Maria einen Spruch der Señora, als spräche deren Geist aus ihr. Sie wollte nichts davon wissen, dass Rivenport ohne Frühstück ins Krankenhaus ging. Rivenport war keine eins fünfundsiebzig groß, aber im Vergleich zur Indiofrau wirkte er wie ein Riese. Und dennoch hatte er des Öfteren Schwierigkeiten, sich gegen sie durchzusetzen. Aber außer Kaffee konnte er jetzt einfach nichts runterkriegen, er wollte nur schnell ins Krankenhaus, das Problem lösen und seine Ruhe haben.

Die Stadt S., die benachbarten Orte sowie das Land, durch das sich die Quebrada de Humahuaca zog, ja die ganze nordwestargentinische Provinz von Jujuy hatte nur einen geringen weißen Bevölkerungsanteil. Im Gegensatz zu Zentralargentinien, in das in den letzten hundert Jahren Scharen von Europäern eingewandert waren – aus Italien und Spanien, aus Portugal und Deutschland, Polen, Griechenland und sonst woher – und wo Bewohner mediterraner Küstenstädte wie Genua oder Neapel sogar ganze Stadtviertel in Buenos Aires besiedelten, hatte der Norden noch seine ursprüngliche Demografie erhalten. Der Großteil der Bevölkerung bestand aus mal mehr, mal weniger direkten Nachfolgern des einst glorreichen Inkareichs, das sich zu seinem Höhepunkt vom Süden Kolumbiens, über große Stücke von Ecuador, Peru, den Westen Boliviens, den Norden und das Zentrum Chiles, bis hierher in den Nordwesten Argentiniens erstreckt hatte.

Rivenport war Maria zugetan wie niemandem sonst auf der Welt. Sie hatte bereits unter seinen Eltern gedient, als er noch ein Kind war. Zu jedem Beginn der Sommerferien stand sie oben auf der Veranda und wartete auf seine Rückkehr aus dem Internat. Bevor er seine Eltern zu sehen bekam, war sie es, die ihn umarmte und sein Gesicht gegen ihren Busen presste. Während der Pubertät schien sie bei jedem Wachstumsschub um eine Stufe, die er auf der Verandatreppe erklomm, zu schrumpfen, und bald war es bei der gewohnten Umarmung ihr Gesicht, das gegen seine Brust drückte. Maria war dabei, als er nach Abschluss seines Medizinstudiums die Position im Krankenhaus von S. annahm und als er sich mit Rosa vermählte. Zusammen mit ihr erlebte er den Tod seines Vaters, kurz darauf den seiner Mutter und zu allem Überfluss näherte sich schleichend Rosas Unglück. Maria pflegte sie während der schweren Zeiten der Krankheit und wich bis zum Ende nicht von ihrer Seite. Tagelang saß sie an ihrem Sterbebett und nahm sich nach Rosas Tod aller Unannehmlichkeiten an, bis hin zur Planung der Beerdigung. Sie stand Rivenport stets bei und sie war weitaus mehr als nur eine Haushälterin, sie war die Seele des Hauses.

Bedauerlicherweise hatte sie einen Hang zum Tratsch: »Anscheinend wurde der Mann bei der Straße zum Pass gefunden.«

»Dem Paso de Jama?«

»Ja, ein Feldarbeiter soll ihn gefunden haben. Ist das nicht komisch?«

Auf der Fahrt ins Krankenhaus kam Rivenport ins Grübeln. Er saß er auf der Rückbank seines Wagens und blickte geistesverloren auf die vorbeifahrende Szenerie. Was machte ein Feldarbeiter so weit im Hochland? Im Zuge der wilden Suche nach Gold und Silber hatte S. glorreiche Momente erlebt. Nachdem allerdings die Silberminen erschöpft gewesen waren, verkam die Stadt zu einem entlegenen Provinzörtchen. Nur weiter im Osten bei Valle Grande und Ledesma oder im Süden bei El Carmen und Monterrico wurde noch Reichtum angehäuft (und wo Vermögen war, herrschte auch Hektik). Dort betrieben alteingesessene Familien Landwirtschaft in großem Stil. Überwiegend wurde Zuckerrohr angepflanzt, aber auch Tabak. Um S. selbst war der Riesenkaktus, Sinnbild der Dürre und Einsamkeit des Landes, das dominierende Gewächs.

Dass seine Stadt nicht mehr im alten Reichtum schwelgte, gefiel Rivenport übrigens sehr. Für ihn, der Ruhe und Gleichmaß als höchste Güter schätzte, wäre es unvorstellbar gewesen, in einer Metropole zu leben. Sogar San Salvador de Jujuy oder das nahegelegene Salta, wohin er beruflich ab und an reisen musste, überforderten ihn. Bei seinem letzten Besuch zu einer Veranstaltung des Gesundheitsministeriums stieg ihm schon auf der Straße das Gewirr der vielen Menschen, der herumflitzenden Fahrräder und Autos, der schieren Menge an Geräuschen, Gerüchen und Gesichtern so sehr zu Kopf, dass er einen leichten Schwächeanfall erlitt, den Termin absagen musste und noch Tage nach seiner Rückkehr in S. eine Migräne zu beklagen hatte.

Im Zuge der großangelegten Ansiedlungskampagne Juan Peróns wurde seit Ende der vierziger Jahre in den spärlich bevölkerten Provinzen vom südlichsten Patagonien bis in das nördlichste Andenland freigiebig in Infrastruktur investiert. Dazu gehörte auch der neue Flügel des Krankenhauses von S. Eine modulare Standardarchitektur, viel zu groß geraten für die Bedürfnisse der Region. Das Hospital sollte Bürgern in einem Umkreis von bis zu hundert Kilometern dienen. Bei den schwer zu befahrenden Straßen war das eine Wunschvorstellung. Wer weit weg lebte, war auch bei schwierigen Eingriffen weiterhin auf lokale Heilkünstler angewiesen.

Die weiße, fast fensterlose Anlage stützte sich an einen älteren Kolonialbau. Rivenport fand sie scheußlich. Allerdings war er als Doktor und Mann der Wissenschaft von ihrer Funktionalität beeindruckt. Die Schnörkellosigkeit erlaubte nicht nur eine effizientere Behandlung der Patienten, sondern auch (für einen Direktor ein springender Punkt) eine äußerst preiswerte Wartung. Wie sie so steril aus dem allumfassenden Sand und Staub hinausragte, vermittelte sie leicht den Eindruck einer Kathedrale in der Wüste.

Von weitem schon erblickte Rivenport die Priorin der Ordensschwestern. Sie kam so schnell sie konnte auf ihn zugelaufen, dabei verzog sie ihr Gesicht zu einer angestrengten Grimasse, als nähme das Laufen allein ihre gesamte Konzentration in Anspruch. Ihre massige Figur quälte sich den langen Korridor entlang. Sogar die Keuschheit der weißen Nonnentracht vermochte es nicht, ihre voluminösen Formen zu kaschieren. Bei jedem Schritt wogten ihre mächtigen Brüste von einer Seite zur anderen. Nur dank des dicken Stoffes ihrer Kleidung schienen sie nicht längsseits wegzufliegen. Die Priorin wischte sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn.

»Sie sind über die Situation informiert?«

»Meine Hausdame hat mir kurz berichtet.«

Sie durchquerten den Korridor, dann brummte die Priorin unerwartet männlich aus der Tiefe ihres Bauches: »Sie haben sich ganz schön Zeit gelassen.«

Rivenport zog es vor, diesen frechen Kommentar zu übergehen. Manchmal war es weiser, auf bestimmte Sachverhalte nicht einzugehen. Warum sich das Leben unnötig schwer machen? Zum Glück kam in diesem Moment der zuständige Arzt.

»Ah, Oriani. Guten Morgen. Wie ist die Lage?«

Doktor Oriani war ein junger Mann mit pomadisierten Haaren und Schnurrbart. Er entstammte einer wohlhabenden Familie aus San Salvador und war vor drei Jahren nach S. gekommen, um seine Ausbildung abzuschließen. Eigentlich hätte er S. schon lange wieder verlassen müssen, verschob aber ständig seine Abreise und erfand dafür jedes Mal neue, immer abstrusere Ausreden. Anfangs war es unklar, warum der junge Arzt unbedingt in S. bleiben und nicht eine vielversprechende Karriere in der Provinzhauptstadt ansteuern wollte. Das Rätsel löste sich schließlich auf, als Rivenport über die üblichen Umwege erfahren hatte, dass Oriani sich Hals über Kopf in ein hiesiges Mädchen verliebt hatte. Nicht dass ihn dieser Tratsch weiter interessiert hätte, ganz im Gegenteil, am liebsten wäre er von Geschichten dieser Art verschont geblieben, aber, wie es nun mal so ist, werden dem Direktor des Krankenhauses solcherlei Dinge zugetragen. Um seine Ruhe zu haben, bot er dem jungen Mann einen festen Posten an, den dieser glücklich akzeptierte. Rivenport wurde als Retter der Liebe gefeiert, als Romantiker, als Mann mit harter Schale und weichem Kern. »Oh Professor, Sie haben ein großes Herz«, lobten ihn die Krankenschwestern. Unsinn! Er hatte nur das für sich Notwendige getan. Seine Handlungsmotive waren egoistisch. Er hatte dem Klatsch ein Ende bereitet, um sich wieder ungestört seiner Schmetterlingssammlung zuwenden zu können.

»Der Patient wurde in einem akuten Gefahrenzustand eingeliefert. Er war dehydriert und unterernährt. Im Hals- und Gesichtsbereich hatte er Verbrennungen zweiten und dritten Grades, ebenso an Armen und Händen. Diese hatten teilweise auch oberflächliche Blasenbildungen zur Folge, einige von ihnen mit Bluterguss. Am ganzen Körper weist er Prellungen und Schürfwunden auf. Hinzu kommt eine größere Platzwunde am Wangenknochen und einige kleinere Verletzungen. Am gefährlichsten allerdings ist ein tiefer Einschnitt im linken Oberschenkel. Die Wunde ist zum Glück nicht entzündet, allerdings hat der Patient viel Blut verloren.«

Die Ordensmutter wurde bei jedem Wort hibbeliger. Man konnte ihr ansehen, dass sie am liebsten hätte mitreden wollen. Rivenport ignorierte sie und fragte Oriani: »Wie sind Sie bei der Behandlung vorgegangen?«

»Wir haben den Patienten sofort stabilisiert und eine parenterale Verabreichung von Flüssigkeitsinfusionen durchgeführt. Es schien mir wahrscheinlich, dass die Dehydration einen erheblichen Salzverlust zur Folge hatte, also habe ich auch Nährstoffe verabreicht. Wir haben die Wunden gesäubert und, wo nötig, genäht. Der Einschnitt im Oberschenkel war komplizierter, weil wir erst die Metallsplitter entfernen mussten –«

»Metallsplitter?«

»Ja, ein größeres Metallstück steckte in seinem Oberschenkel. Wir haben es natürlich sofort entfernt, aber innerhalb der Wunde hat es gesplittert.«

Die Ordensschwester hob den Blick zum Himmel und deklamierte melodramatisch: »Was ist dem armen Mann nur zugestoßen?«

Ihre philosophische Frage wurde von einer sachlicheren übertrumpft: »Konnten Sie herausfinden, um wen es sich handelt?«

»Nein, der Patient war die ganze Zeit über bewusstlos. Und bis jetzt konnte ihn niemand identifizieren.«

»Wurde die Polizei informiert?«

»Ich wollte damit bis zu Ihrer Ankunft warten.«

»Gut. In welchem Zimmer wurde er untergebracht?«

Der junge Arzt deutete den Gang entlang zu einem der vorderen Zimmer. Rivenport nickte und machte den ersten Schritt.

»Gehen wir.«

3.

Der Neuankömmling lag auf der Intensivstation. Da in S. äußerst selten Notfälle eintraten, wurde die Station das Jahr über als zusätzlicher Kreißsaal benutzt, denn Geburten gab es viele. Neben dem Bett und den Infusionsträgern saß eine Ordensschwester mit sanften Gesichtszügen, die, wie Rivenport später herausfinden würde, Schwester Iris hieß. Die Beine geschlossen, ruhten ihre Hände asketisch in ihrem Schoß. Es beeindruckte Rivenport immer wieder, dass Nonnen nicht nur wegen der schlichten Eleganz ihrer Uniform, sondern auch durch ihre Körperhaltung eine natürliche Anmut besaßen. Im Falle der Priorin handelte es sich um die sprichwörtliche Ausnahme der Regel.

Doktor Oriani fuhr mit seinen Erläuterungen fort: »Die Schuhe waren abgelaufen, die Füße voller Blasen. Seine Kleidung schmutzig, blutgetränkt und zum Teil in Fetzen. Er muss tagelang durch die Steppe gelaufen sein. Mit einer so großen offenen Wunde und der Stärke der Sonne im Hochland grenzt es an ein Wunder, dass er es geschafft hat.«

Rivenport sah aus dem Augenwinkel, wie beide Ordensschwestern sich bei der Erwähnung des Wortes »Wunder« flüchtig bekreuzigten. Oriani schloss seine Erklärung ab: »Er hatte Glück, gefunden worden zu sein, sonst wäre er nach wenigen Stunden gestorben.«

Der Mann lag bewusstlos auf dem Bett. Sein Kopf war seitlich durch zwei Kissen gestützt, der Mund aufgerissen, wie steif gefroren in einem Schrei. Oriani hatte ihn verarztet, aber wie so häufig bei frisch eingetroffenen Patienten war noch keine Zeit gewesen, ihn zu waschen. So waren die Verletzungen noch blutüberzogen. Bei der Naht an der rechten Wange hätte Oriani sauberer arbeiten können, dachte Rivenport, aber nun gut, er war noch ein junger Arzt.

Was Rivenport ins Auge stach, war die für S. untypische Magerheit des Patienten. Das Pflegen kulinarischer Traditionen gehörte zu den Lieblingsbeschäftigungen der Menschen des Hochlandes. In anderen Breitengraden mochte man die Fettleibigkeit der Bevölkerung als gesundheitsschädlich empfinden, nicht aber im Norden. Nein, hier galt ein ordentliches Maß an Körperfett als Zeichen des Wohlergehens. In S. war niemand wirklich dünn, nicht einmal der ärmste Lamahirte.

Einen so abgemagerten Mann hatte sogar Rivenport, der nicht wenig herumgekommen war, noch nie gesehen. Ein Fremder also. So viel stand fest. Außerdem war der Mann blond. Nicht ein solches Blond wie hier gerne die hellbraune Haarfarbe mancher dargestellt wurde, wie zum Beispiel bei seiner Tante Mathilde, die immerzu als blond beschrieben wurde, ganz besonders in ihren Jugendjahren. Heute war sie ja schon lange ergraut. In der Familie wurde immer gerne gesagt: »Mathilde war blond als sie jung war, wunderschön und blond war sie.« Dabei war das eine Lüge, und alle wussten genau, dass es eine Lüge war. Vielleicht bekam sie in einem besonders warmen Sommer ein paar helle Strähnen, aber wirklich blond war sie nie gewesen. Schön übrigens auch nicht. Sie war hässlich und tief brünett. Der vor ihm liegende Mann aber war richtig blond. Ein edles, hier nie gesehenes Aschblond in halblangem Schnitt, von Rivenport sofort als »Künstlertypfrisur« eingestuft.

Rivenport strich ihm die Haare aus der Stirn und legte seine Handfläche darauf, um die Temperatur zu prüfen. Er war fiebrig.

»Haben Sie die Temperatur schon gemessen?«

Oriani blätterte in der Krankenakte und reichte sie Rivenport mit der aufgeschlagenen Seite.

39 Grad. Heiß, feucht, fiebrig. Es kam ihm vor, als könnte der Fremde von einem Moment auf den nächsten die Augen aufreißen und einen Schrei ausstoßen. Das war natürlich unmöglich, denn Rivenport wusste genau, dass er nicht nur mit seinen körperlichen Kräften am Ende war, sondern außerdem von Oriani sicherlich auch etwas Morphin verabreicht bekommen hatte. Der Mann würde also getrost schlafen. Als Nächstes prüfte er den Puls. Dabei schossen ihm Fragen durch den Kopf: Wer war dieser Fremde? Woher kam er? Wieso läuft jemand stundenlang, tagelang durch die Steppe, bis zum Umkippen? Was war ihm passiert? Ein Unfall? Aber was für ein Unfall?

Rivenport blätterte durch die Krankenakte. Morphin parenteral 30 mg. Vier offene Wunden, genäht. Metallsplitter im linken Oberschenkel entfernt. Der Mann war gut verarztet, er war außer Gefahr.

»Zeigen Sie mal den Oberschenkel.«

Oriani entfernte die Decke und entblößte den linken Oberschenkel.

»Soll ich den Verband abnehmen?«

Rivenport nickte. Oriani schnitt den Verband auf. Die Naht war makellos. Hier hatte der Doktor ausgezeichnete Arbeit geleistet. Die Bräune des Jods umschloss die Wunde und ließ sie breiter erscheinen. Ein langer, tiefer Einschnitt. Die Priorin bekam beim Anblick große Augen. Rivenport gab Oriani zu verstehen, den Patienten wieder zu bedecken. Er klappte die Krankenakte zu.

»Und seine Identität? Gibt es Indizien?«

Oriani, der bei den medizinischen Fragen noch selbstsicher geantwortet hatte, fehlten nun die Worte. Rivenport fragte weiter: »Wurde seine Kleidung kontrolliert? Trug er vielleicht etwas bei sich? Irgendwelche Hinweise?«

Oriani schaute verstohlen zur Priorin, die wiederum zu ihrer untergeordneten Ordensschwester blickte, die erst recht keine Antwort parat hatte, und dann wieder zum Doktor. Sie hatten die Kleider also nicht kontrolliert.

»Lassen Sie seine Kleidung holen. Und Oriani… Sie können jetzt die Polizei rufen.«

Oriani nickte und verschwand im Gang. Jetzt konnte die Priorin ihre Redebegierde nicht mehr zurückhalten: »Professor, was glauben Sie ist diesem armen Mann zugestoßen? Er ist so mager und bleich. Sollten wir ihn nicht füttern? Glauben Sie wirklich, dass er tagelang gelaufen ist? Dass er vom Pass kommt? Aber das ist doch ungeheuer weit weg.«

Stoisch fokussierte Rivenport den Patienten. Er fühlte nochmals dessen Puls. Das war natürlich lächerlich, denn er hatte ihn vor nur wenigen Augenblicken gefühlt und wusste, dass er regulär war. Aber alles war besser, als einfach untätig dazustehen und zur Zielscheibe der Priorin zu werden. Langsam flüsterte er vor sich hin: »Das wird sich alles bald herausstellen.«

Leider reichte seine Antwort nicht aus, um die Priorin zu beruhigen. Rivenports demonstrative Gelassenheit schien sie nur noch mehr aus der Fassung zu bringen. Ihre Augen waren weit aufgerissen, und beim Reden wechselte ihr Blick wie der einer verwirrten Taube zwischen Rivenport und der armen Schwester Iris hin und her: »Meinen Sie, er hat einen Unfall gehabt? Oder war er auf der Flucht? Vielleicht ist er ja ein Dieb, aber nein, er hat ein so nettes Gesicht. Wie erklärt sich aber das ganze Blut? Und wenn er doch auf der Flucht war? Und gemeingefährlich ist? Ich meine, er sieht ja nicht gefährlich aus, aber das ist mit bloßem Auge schwer einzuschätzen. Der Schein trügt schließlich oft und –«

Rivenport hatte jetzt genug von ihrem wirren Geschwätz und unterbrach sie brüsk: »Wo ist die Person, die ihn gefunden hat?«

»Placho? Ich denke, er ist wieder bei der Arbeit. Auf der Hazienda.«

»Für welche Hazienda arbeitet er?«

»Na, die Hazienda Pedrales natürlich.«

Bei Pedrales also. Eine wichtige Familie, seit sechs Generationen in der Gegend ansässig. Sie besaß viel Land im Süden. Riesige Zuckerrohrplantagen und sicherlich auch andere Geschäfte, über die er nicht auf dem Laufenden war. Die Priorin schien verwundert: »Erinnern Sie sich denn nicht an Placho?«

»Nein. Wieso? Sollte ich?«

»Er war vor drei Wochen im Krankenhaus. Seine Tochter hatte Windpocken.«

Ja, jetzt erinnerte er sich. Placho, ein stämmiger Mann mit kurzgeschorenem Haar. Tagelang hatte er Rivenport und das ganze Personal aus Sorge um seine Tochter auf Trab gehalten. Er redete sich ein, dass sie im Sterben lag. Die Bläschen auf dem Körper des Mädchens hielt er für einen Teufelsfluch, womöglich die Rückkehr jenes tödlichen Variolavirus, der einen Großteil seiner Vorfahren ausgerottet hatte. Windpocken seien keine Pocken, versuchte Rivenport ihm klarzumachen. Doch es half nicht, ihn mit vernünftigen Worten zu beschwichtigen, Placho war untröstlich. Wie ein treuer Wachhund wich er nicht vom Krankenbett seiner Tochter. Mit flehenden Augen schaute er dem zuständigen Personal bei den Routinechecks zu, fragte ab und an, wie es ihr ginge, ob Besserung sichtbar wäre, ob sie leben oder sterben würde: »Sagen Sie mir, Professor, wird sie es schaffen? Sagen Sie mir die Wahrheit, ich flehe Sie an!«, rief er unentwegt. Er gab keine Ruhe, bis die Windpocken von allein verschwanden und das Mädchen geheilt war.

Nur die Anwesenheit der Ordensschwestern bewahrte Placho damals vor dem völligen Zusammenbruch. Das ging vielen so. Gerade in schwierigen Zeiten waren die Nonnen für die Kranken und ihre Angehörigen eine unentbehrliche Stütze. Deshalb billigte Rivenport auch die kirchliche Präsenz im Krankenhaus. Schließlich wusste er: Er und sein Personal waren für das körperliche Heil der Patienten zuständig, die Priorin und die Ordensschwestern für ihr seelisches.

»Glauben Sie, dass er wirklich tagelang gelaufen ist? Den ganzen Gebirgspass entlang? Es müssen so viele Kilometer sein. Das ist ja unmenschlich!«

Rivenport war kurz davor, die Geduld zu verlieren. Er brachte nur ein »Wie gesagt, momentan –« hervor, bevor Oriani wieder zurückkam.

Rivenport ließ vom Patienten ab und stürzte sich auf den Doktor, der einen Pappkarton in den Armen hielt: »Das ist seine Kleidung, nehme ich an?«

»Was davon übrig ist, ja.«

»Die Herren von der Polizei haben Sie benachrichtigt?«

Oriani nickte.

»Gut. Der Patient braucht jetzt Ruhe. Gehen wir in mein Büro.«

4.

Rivenports Büro war schlicht gehalten und nicht besonders groß. Die einzige Unregelmäßigkeit, die er sich erlaubte, hielt er in seinem Schreibtisch versteckt. Im zweiten Fach von oben, verborgen unter einem Stapel alter Briefe, lag sie: die neueste Ausgabe der Annalen der Entomologischen Gesellschaft von Amerika. Eine vorzügliche Lektüre. Im Laufe eines Arbeitstages konnte er natürlich nur selten ins Fach greifen und in den Annalen blättern, doch allein das Wissen, dass sie sich hier befanden, nur wenige Zentimeter entfernt, befriedigte ihn ungemein. Wenn er im Laufe des Tages mit den Gedanken abschweifte und über seine sechsbeinigen Freunde sinnierte, konnte es passieren, dass ihm eine Schmetterlingsart nicht einfiel. War die Luft rein, so wagte er den Griff ins Fach. Er blätterte, suchte, fand, las und kehrte dann zufrieden zu seiner Arbeit zurück. Oft überkam ihn eine Schwermut und er dachte sich, dass das Leben eben ein Kompromiss zwischen Pflicht und Passion sei, dass er nun mal kein professioneller Entomologe sei und sich glücklich schätzen könne, trotz seiner Führungsposition im Krankenhaus genug Freizeit zu haben, um seiner Leidenschaft nachzugehen.

Rivenport sank in seinen Sessel und lud die Priorin und den Doktor mit einer Geste ein, auf den zwei Armstühlen ihm gegenüber Platz zu nehmen.

»Gleich wird die Polizei kommen und sich der Sache annehmen. Doktor Oriani, Sie werden den Kommissar oder wer für ihn hier auftauchen wird in den vorliegenden Fall einführen. Das heißt, Sie erläutern kurz den Zustand des Patienten, wie Sie es vorhin mit mir getan haben. Schwester, der Kommissar wird bestimmt auch einige Fragen an Sie richten wollen. Schließlich waren Sie die Erste, die informiert wurde. Vor allen anderen, vor dem Personal, vor der Polizei, sogar vor mir, so war es doch, nicht wahr? Wenn Sie beide mit ihm durch sind, schicken Sie ihn zu mir.«

Die Priorin und Doktor Oriani verließen das Büro. Ob die Priorin seine kleine Spitze verstanden hatte? Unwahrscheinlich. Feingefühl zählte nicht zu ihren Stärken. Er warf einen Blick in den Pappkarton, den Oriani auf den Tisch gestellt hatte. Die zu einem Ball verknäulten Kleidungsstücke waren feucht, teilweise blutverkrustet. Aus einem Fach auf der anderen Seite des Büros, wo er ein paar medizinische Instrumente griffbereit hatte, nahm er eine große Federzange, damit er nicht mit bloßen Händen in die Kiste greifen musste. Er fischte die Kleidungsstücke aus dem Karton: eine helle Hose, gestreifte Hosenträger mit Lederbeschlägen, ein weites Hemd aus Leinen, dünne Baumwollstrümpfe mit klaffenden Löchern an den Fersen, Unterhose, Unterhemd und ein Paar brauner Lederschuhe.

Es war ein gut gefertigtes Modell im Budapester Stil. Leider konnte man im Innenbereich den Namen des Schuhmachers nicht mehr lesen. Als Nächstes nahm er sich die Hose vor, die an den Beinen aufgerissen war. Es waren lange, gerade Risse, als hätte der Mann sie selbst verursacht. Vielleicht um der Hitze zu entfliehen und die Hose über dem Knie zusammenzubinden? Oben am linken Hosenbein klaffte ein Loch. Stammte es vom Einschuss? Es sah eher nach einem Schnitt aus. Er fühlte die Taschen ab. Nichts. Moment, die hintere Tasche war uneben. Er griff hinein.

Tatsächlich: ein Zettel. Rivenport faltete ihn auf. Er war mit Bleistift beschrieben. Rivenport versuchte die Handschrift zu entziffern. Sie war winzig. So stark er auch die Augen zusammenkniff, er konnte sie nicht lesen. Hätte er nur die Lupe aus seiner Kammer dabei – damit würde es gehen. Er legte den Zettel beiseite, sollten sich doch Andere die Augen verderben.

Er griff zum Hemd, das ebenso wie die Schuhe qualitativ hochwertig war. Am durch den Schweiß geschwärzten Kragen suchte er nach einem Etikett. Nichts. Auch keine eingenähten Initialen an der Hemdunterseite. Rivenport untersuchte die Hosenträger und die Strümpfe, fand aber auch hier nichts. Es blieb nur noch die Unterwäsche. Doch bei der Unterhose rümpfte er angewidert die Nase, hielt sie, an der Federzange baumelnd, mit Sicherheitsabstand in der Luft und ließ sie, ohne sie zu untersuchen, in die Kiste fallen. Schließlich musste man ja auch der Polizei etwas Arbeit überlassen.

Am Innenrand des Unterhemds war ein Etikett angenäht: Fábrica Rompelli & Hijos – B.A. B.A.? Buenos Aires. Sollte die Herkunft des Unterhemds mit der des Mannes übereinstimmen? Aber was trieb jemanden aus der Hauptstadt in den allernördlichsten Norte?

Für Rivenport war der Norden das Paradies, keine Frage. Aber seine Gründe – das war ihm durchaus klar – waren sehr individuell, wenn nicht sogar einzigartig. Um S. herum herrschten sage und schreibe vier komplett unterschiedliche Klimazonen. Abwärts schreitend war das zuerst die Puna, das majestätische Hochplateau auf über 3000 Höhenmetern, das Reich der wilden Kamelarten, der Guanakos und Vicunjas. Darunter das mittelhohe Areal um die Schlucht von Humahuaca, die gemäßigte Talgegend im Süden und schließlich die subtropische Zone im Osten. Argentinien westlich der Anden war, seiner bescheidenen Meinung nach, eines der wichtigsten Biodiversitätsgebiete der Welt. Die jahrtausendelange Isolierung dieser Regionen hatte zur Entwicklung endemischer Arten geführt. Hier waren nicht nur seltene und besondere Schmetterlinge und andere Insekten zu finden, eine schwer abzuschätzende Anzahl von ihnen war noch nicht einmal katalogisiert, fotografiert, publiziert und in manchen Fällen sogar den Forschern noch gänzlich unbekannt. Kurzum: dies war ein weißer Fleck auf der Landkarte für Schmetterlingssammler. Wie könnte er dieses Paradies nicht lieben?

Die Einwohner von S. teilten seine Leidenschaft nicht, einige unter ihnen hätten ihr letztes Hemd dafür gegeben, im Zentrum des Landes zu leben. Beschimpfungen von Stadt und Land waren üblich, genauso wie das zügellose Fressen und Saufen an Festtagen. Es genügte, einmal zum Markt zu gehen oder nach dem Sonntagsgottesdienst ein wenig länger auf dem Kirchplatz stehen zu bleiben und den Gesprächen der Einwohner zu lauschen. Da hörte man nichts als fantasiereiche Hassreden gegen den Norden und ebenso fantasiereiche Loblieder an dieses oder jenes fein zubereitete Gericht, an die Empanadas der Großmutter oder das Fleischsüppchen der Schwägerin. Der springende Punkt war, dass alle, die in S. lebten, es hassten, in S. zu leben. Und alle, die nach S. kamen – meistens, weil sie mussten, weil irgendein Vorgesetzter sie dazu gezwungen hatte –, so schnell wie möglich wieder aus S. abhauen wollten.

Es klopfte an der Tür und ohne weitere Ankündigungen trat Hauptkommissar Ottavio Escobar ein. Hinter ihm folgend Doktor Oriani, die Priorin und ein weiterer Polizist, den Rivenport nicht kannte. Der Kommissar war also persönlich gekommen und trug sogar die amtliche Uniform. Rivenport nahm das als gutes Omen. Das unerwartete Eintreffen des Fremden wurde anscheinend von den Behörden für wichtig genommen.

Escobar war ein vom Leben gezeichneter Mann und seine gesamte Erscheinung unterstrich das. Er hatte bleiche, eingefallene Wangen, einen müden, zeitweise unheilvollen Blick und trug stets einen Dreitagebart. Wobei es unerklärlich war, wie er diesen auf Dauer erhalten konnte. Rivenport konnte sich nicht entsinnen, ihn jemals in einem anderen Zustand gesehen zu haben, also zum Beispiel glattrasiert oder mit richtigem Vollbart. Es war absurd, Escobar schien eingefroren im ewigen Dreitagebart-Zustand.

Er war ein klassischer »Exil-Fall«. Ein Mensch, der S. über alles auf der Welt hasste, aber aus für ihn unerfindlichen Gründen hier stationiert war. Er hasste das Klima, er hasste die Menschen – den Indios gegenüber benahm er sich offen rassistisch –, er hasste die Abgeschiedenheit, er hasste die lokalen Bräuche, sogar das Essen hasste er. Es war nicht bekannt, was er in der Vergangenheit angestellt haben mochte, auf wessen schwarzer Liste er stand oder welche Bestrafung ihn ereilt hatte. Gewiss war, dass er nicht aus freiem Willen in S. diente und mit heißer Vorfreude jenen Tag herbeisehnte, an dem der Staat ihn endlich in Pension schicken und ihm damit seine Freiheit wiedergeben würde.

Der Kommissar reichte Rivenport schlaff die Hand und fragte, ob es ihn stören würde, wenn er rauchte. Ohne die Antwort abzuwarten, zückte er ein verbeultes Etui und zündete sich eine Zigarette an.

»Ihr Kollege war so nett und hat mich über den Zustand des … Individuums aufgeklärt.«

Beim Sprechen schaute er Rivenport nicht an. Sein Blick schweifte aus dem Fenster, als existierte dort draußen, irgendwo in der Ferne, eine wundervolle Welt, die ihm helfen könnte, seine Lebensfreude wiederzufinden. Er pustete den Rauch aus und fuhr schläfrig fort: »Bevor Sie mich fragen, ob ich mehr weiß als Sie … die Antwort lautet ›nein‹. Wir wissen nichts, sind selbst vom Auftauchen des … Individuums überrascht und kennen seine Identität nicht.«

Zu Rivenports Verwunderung schien der Kommissar nichts Weiteres hinzufügen zu wollen. Rivenport nickte in Orianis Richtung.

»Hat Sie Doktor Oriani ordentlich aufgeklärt? Sie wissen sicherlich schon, dass der Patient vom Feldarbeiter Placho gefunden wurde. Unweit vom Paso de Jama. Er arbeitet für die Herren Pedrales. Bestimmt werden Sie auf die Hazienda fahren wollen, um ihn zu befragen.«

Der Kommissar hob träge die Hand, als wollte er Rivenport davon abhalten, weiter seine Empfehlungen vorzutragen.

»Das wird nicht nötig sein. Wir wissen ja schon alles von Ihrem Kollegen und der Frau Priorin.«

»Aber Herr Kommissar. Sie wollen doch sicherlich … Entschuldigung, aber ich meine, Placho hat vielleicht wichtige Informationen zur Identität des Patienten.«

Den Kommissar schienen Rivenports Ratschläge zu stören. Er drehte sich endlich vom Fenster ab. Beim Reden kniff er die Augen zusammen, als marterten ihn Magenschmerzen.

»Der Fall wird sich von selbst lösen. Lassen Sie mich meine Arbeit machen, Professor, und machen Sie die Ihre.«

Rivenport war empört. Da wollte dieser nutzlose Kommissar sich doch tatsächlich einfach aus der Affäre ziehen.