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Inhalt

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Titel

Vorwort

Rosemarie

Erich Kuby

Zur Entstehung und Wirkung des Buches

Jürgen Kaube

Autorenporträt

Über das Buch

Impressum

Anmerkungen

Rosemarie

Vorwort

Die zahlreichen Rosemaries zwischen Hamburg und München reden nicht öffentlich. Wie kämen sie dazu, sich das Geschäft zu verderben.

Jene Rosemarie aus Frankfurt redet nicht mehr, sie wurde im Spätherbst 1957 ermordet. Man hat sie so tief verstummen lassen, dass nicht einmal ihr Tod für sie sprechen durfte. Seine Umstände sind zur Stunde noch ungeklärt.

Dennoch ist sie eine Person des öffentlichen Interesses und, was mehr bedeutet, sogar des öffentlichen Bewusstseins geworden. In den Monaten nach ihrer Ermordung beschäftigte sich die öffentliche Meinung mit diesem Mädchen mehr als mit irgendeiner anderen Person von allgemeiner Bemerktheit.

Liest man nach, was darüber geschrieben wurde, so sieht man, dass sich kaum jemand die Mühe gemacht hat, ein Bild der Ermordeten zu rekonstruieren, obschon ihr absonderliches Schicksal, das ihr schrecklicher Tod nachträglich ins Licht gestellt hat, dazu herausfordert. Auch die Kriminalstory, die natürlich in einem Mordfall enthalten ist, fand nur geringes Interesse. Es sind die gesellschaftlichen Bezüge; es ist die Tatsache, dass der Kundenkreis dieses Mädchens, das heute jeder kennt, aus der Oberschicht unserer industriellen Gesellschaft stammte; es ist das enorme Einkommen, das Rosemarie in der letzten Phase ihres Lebens hatte – diese Umstände lösten die publizistische Lawine aus und erklärten ein Erschauern des Volkes. Hier brach ein Damm aus Geld, aus viel Geld, der normalerweise die Schicht der wenigen, in der Rosemarie heimisch war, vor den Augen der vielen verbirgt. Die nach der Ermordung bekannt gewordenen, unbestreitbaren und unbestrittenen Tatsachen, von denen man jetzt so tut, als wären sie böswillige Erfindungen, haben eine gesellschaftliche Ruinenlandschaft erkennen lassen.

In jedem anderen, weniger betulichen, weniger von Heuchelei wie von Schimmel überzogenen Lande wäre es im Winter 1957/58 zu einem ungeheuren gesellschaftlich-politischen Skandal gekommen. Er hängt noch in der Luft, solange ein Täter nicht gefunden, eine gerichtliche Klärung nicht herbeigeführt ist, aber er bleibt dort wohl hängen, selbst wenn der Kriminalfall geklärt würde, denn bei uns stehen sogar die Hüter einer als christlich ausgegebenen Ordnung innerlich vor denjenigen stramm, die in Rosemaries Gegenwart als deren Kunden vermutlich nicht gar so stramm gewesen sind, wie sie sich öffentlich geben.

Nun legen wir dieses Buch vor, damit jenes Land nicht so blamabel stumm bleibe, das die Rosemaries in zehn Jahren hervorgebracht hat als des deutschen Wunders Liebeskinder. Wir empfanden es als doch zu armselig, wenn sich die Reaktion auf das, was da bekannt geworden ist, nur in Witzen und in ›Tatsachenberichten‹ äußerte. Das Buch einen Roman zu nennen, nur deshalb, weil es im Einzelnen durchaus erfunden ist, wäre wohl verfehlt; nicht nur, weil es den Begriff, literarisch genommen, nicht zu füllen vermag, sondern auch, damit es sich niemand zu leicht mache und sage: das ist ja nur ein Roman. Es gibt eine höhere Art von Wirklichkeit über dem Individuellen und Zufälligen; um Übereinstimmung mit ihr ist dieses Buch bemüht.

Es mag Ärgernis erregen, aber es ist nicht selber das Ärgernis. Der Überbringer schlechter Nachrichten ist nicht ihr Urheber. Bevor also einer Geschrei erhebt, möge er sich die einfache und schlagende Tatsache vor Augen führen, dass nicht eine Romanfigur, sondern ein Mädchen ermordet wurde mit Namen Rosemarie, das im Frankfurter Telefonbuch von 1957 steht. Es wurde von der Welt, die wir meinen, ausgehalten. Glänzend ausgehalten. Warum? Nach einer Antwort auf diese Frage sucht dieses Buch.

Der Verfasser hat außerdem einen Film gleichen Titels in gleicher Absicht geschrieben. Es ist denkbar, dass Leser dieses Buches den Film sehen und Filmbesucher das Buch lesen werden. Sie werden sich fragen, aus welchem Grunde Film und Buch trotz ihrer Übereinstimmung in Thematik und Fragestellung voneinander weitgehend abweichende Handlungsinhalte haben. In hohem Maße erklärt sich der Unterschied aus den verschiedenen Darstellungsmitteln – aber doch nicht ganz. Überlegungen, welcher Art und wie relativ klein der Kreis der Konsumenten eines Buches auch im besten Falle ist, verglichen mit Art und Zahl der Konsumenten eines Filmes selbst im Normalfall, bestimmten den Verfasser gleichfalls, zwei verschiedene Schlüssel für zwei verschiedene Schlösser zu machen. Und außerdem hatte er zu bedenken, dass die Freiheit der Äußerung in unseren angeblich freien Verhältnissen umso geringer wird, je größer der Kreis derjenigen ist, die erreicht werden können. Würde man, was hier gesagt werden will, beispielsweise in der Sprache Heideggers, also eigentlich sekretiert zum Ausdruck bringen, so brauchte man sich über die Grenzen der Freiheit hier und heute wohl überhaupt keine Gedanken zu machen. Die Massenregime, geistig leer, moralisch neutral, fürchten nicht das Wort an sich, sondern seine Verbreitung.

Wer aus diesen Bemerkungen den Schluss zieht, dass es dem Verfasser also offenbar nicht darauf angekommen ist, ein Kunstwerk zu schaffen, das selbstverständlich nicht in Variationen angeboten werden könnte, sondern etwas zu bewirken – nämlich eine Erschütterung des Ansehens, welches die Rosemarie-Kunden als Leitbilder unserer Gesellschaft skandalöserweise genießen –, dem sei mit keinem Wort widersprochen.

Im September 1958                    E.K.