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Inhalt

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Titel

Mondster

I. Ruth

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

14.

15.

II. Viktor

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14.

15.

III. Voitto

1.

2.

3.

Autorenporträt

Über das Buch

Impressum

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Monster wie wir

Mondster

Also wenn du schon hinmusst, pass wenigstens auf das Auto auf, hast du gesagt. Aber fängt es nicht genau hier an, Voitto? Mitten im Nirgendwo einer ostdeutschen Pampa und bei Nacht, wo eigentlich zwei Menschen stehen und den Mond betrachten müssten. Den Mond und seine Runden um Mutter Erde, jenen leuchtenden Bluescreen, auf den wir alle, auch du und ich, unsere Vorstellungen projizieren. Ich meine nicht das Wo. Ich meine das Wie. Fängt es hier nicht schon an?

Ich bin kein Mondster, hast du gesagt. Dein Akzent klang wie Kieselsteine in deinem Mund, ein kühler Windstoß, wie Sex mit deiner Zunge oder einfach wie: Ich bin ja kein Unmensch.

Wenn ich spiele, bin ich allein mit meinem Instrument. Dann brauche ich dich nicht.

Manchmal meine ich in der Dunkelheit des Zuschauerraums deine hochgewachsene Gestalt zu erkennen. Deine unzähmbaren Haare im Gegenlicht des Scheinwerfers, unter dem ich sitze und die Augen zusammenkneife, während sich für einen Schreckmoment die Einheit zwischen mir und dem Instrument auflöst. Aber statt deiner Locken, deiner lässigen Haltung, deines Fingerklopfens auf der Armlehne erkenne ich im Gegenlicht nur Schemen von Unbekannten, ihre Köpfe nebeneinander aufgereiht, stehende Wellen eines Seestücks, während ich doch Ausschau halte nach dir. Reiß dich zusammen, höre ich auch noch Großvater murmeln. Ausgerechnet. Hast du mich denn gar nicht mehr lieb? Spätestens dann poppen die Tasten unter meinen fliegenden Fingerballen so auf, dass ich den Riss zwischen mir und der Musik mit Gewalt zudrücken muss, bis wir wieder ein einziger Körper werden, der Flügel und ich. Dabei brauche ich gar nicht dich. Es geht darum, dass jemand da ist, der zuhört, wie nur du es tust. Bereit, mich vor lauter Liebe in der Luft zu zerfetzen. Du bist natürlich nicht im Publikum.

Stattdessen entdecke ich Viktor. Viktor in der Philharmonie, Viktor im Gewandhaus, Viktor im Händel-Haus. Kaum spiele ich in der Heimat, ist er da. Sein breiter Nacken, die Segelohren, die blonde Igelfrisur wie selbstverständlich und mitten im Zuschauerraum, als gehöre er dazu, ohne so recht dazuzugehören. Die muskulösen Beine breit nebeneinander aufgestellt, die Hände im Schoß gefaltet, nickt er im Takt, als befände er sich in einem Hip-Hop-Konzert. Bemerkt er meinen Blick, senkt er seinen, als hätte ich ihn bei etwas ertappt. Noch im Schlussapplaus steht er auf, schiebt sich durch die voll besetzten Reihen und verlässt das Haus.

Also falls du mitwillst, zu diesem unwirtlichen Stück Land, auf dem ich mich befinde, dann komm. Und sei es nur in deinem Kopf, von dem du immer behauptest, er sei im Gegensatz zu meinem auch mit einem Gehirn ausgestattet. Wenn du dieses Gehirn also endlich einschaltest, Voitto, dann wäre jetzt der perfekte Moment. Komm! Den Volvo wirst du nicht finden, er ist längst in der Finsternis meiner eigenen Gedanken verschwunden. Aber mich wirst du finden, auf einem Bergkamm stehend.

Okay, es ist weniger ein Bergkamm als der äußere Rand eines Kraters. So weit und menschenleer, als fände ganz Ostelbien darin Platz, oder mindestens eine Handvoll Dörfer. Ich übertreibe, sagst du? Es ist nicht menschenleer. Ich bin ja da. Von hier aus gesehen ist die Erde noch größer und schöner als in allen Fernsehdokumentationen meiner wechselnden Hotelzimmer. Sie nimmt das ganze Blickfeld ein. Und wie eine richtig gute Geschichte hat sie weder Anfang noch Ende, sondern taumelt durch die blinde Finsternis, um mit musikalischer Präzision wieder dahin zu gelangen, wo alles begann. Also noch mal von vorn. Komm schon. Da capo al fine.

I.
Ruth

1.

Einmal schwamm ich im Uterus meiner Mutter. Er war eng und mit Wänden versehen, die meinem Aufprall federnd nachgaben, um mich gleich wieder zurückzuschieben ins Zwielicht ihres Körpers, das natürlich rötlich war, obwohl ich die einschlägigen Dokumentationen erst Jahrzehnte später sah. Von außerhalb der Bauchdecke hörte ich Geräusche, ein Öffnen und Schließen von Türen oder Eisenluken, ein Schaufeln und Schaben von Eisen auf Eisen, gedämpftes Knistern und Knacken, rhythmisches Donnern wie von Kohlen beim Aufprall und das Kratzen der Ofenzange, unterbrochen von ihrer Stimme, die jemandem etwas mitzuteilen schien. Es war mir ziemlich egal, was meine Mutter da draußen trieb. Sie war mir schnuppe, wie Kindern die eigenen Mütter eben irgendwie schnuppe sind. Vielleicht kann man nur zu etwas eine Haltung haben, von dem man sich unterscheidet. Ich aber war ein kleiner, leichter Fötus in dunkelbraunen Cordhosen und hockte im Uterus meiner Mutter. Und gleichzeitig war ich Uterus und umgab mich selbst, von feinen Äderchen durchzogen.

Ich habe keinen Schimmer, wie alt ich war, als ich das träumte. Es wunderte mich jedenfalls nicht, dass mein Bruder auch mit von der Partie war. Wir hatten richtig Spaß, wir lachten und rempelten einander im Flug durch die Dunkelheit an wie zwei Kosmonauten in einer Raumkapsel bei Stromausfall. Sein Kopf mit den Segelohren hob sich schwarz gegen die schwach leuchtenden Wände ab. Ich wunderte mich nicht im Geringsten, als plötzlich ein Spalt Tageslicht hineinbrach und er sagte, Schnullerpuppe, wir sehen uns später, ich komm jetzt auf die Welt. Ich wollte natürlich mit und ruderte ihm mit meinen durchsichtigen Armen hinterher, aber Fly drehte sich noch mal um, das geht nicht, sagte er, du bist erst viel später dran. Also setzte ich mich im Schneidersitz aufs glatte Gebärmuttergewebe und sah ihm nach, wie er nach draußen kroch durch den Spalt, der sich hinter ihm wieder schloss, und sagte mir, schade eigentlich, aber na gut. Ich bin ja auch jünger.

Ich muss noch ziemlich klein gewesen sein. Denn als ich Fly später bei einem Imbiss in der Küche erzählte, ich könne mich an seine Geburt erinnern, lachte er mich aus und sagte, so ein Quatsch, ich sei doch vier Jahre jünger als er. Eben, sagte ich und kratzte mein gefrorenes Vanilleeis aus dem Becher. Deswegen bin ich ja auch noch dringeblieben. Hast du doch gesagt, dass ich noch nicht dran bin, weißt du das nicht mehr? Mein Bruder stand vom Küchentisch auf, fing sich eine dicke schwarze Fliege für eines seiner Experimente, und während er sie im geschlossenen Hohlraum zwischen seinen Händen behielt, lachte er weiter und erklärte: Mensch, Schnullerpuppe, wir waren zwar beide in Mamis Bauch, aber doch nicht beide zur selben Zeit.

Oder beginnt es mittendrin, in unseren Familien, mit denen wir aufstehen und schlafen gehen, als sei es selbstverständlich, ausgerechnet so zu leben und nicht anders?

Bei uns zu Hause wurde niemand verprügelt. In diesem Punkt unterschieden Fly und ich uns von den meisten Kindern, die wir kannten. Wenn wir auf Familienfesten unter uns waren, im Treppenhaus auf der Suche nach Weberknechten (seine Idee), auf dem Dachboden auf der Suche nach der Maske des Weihnachtsmannes aus der Adventsfeier der Christenlehre (meine Idee) oder bei den Stachelbeersträuchern im Garten (die Idee der Cousine aus Bitterfeld), während unsere Eltern noch im Esszimmer saßen und Kuchen aßen, fragte mein Bruder herum, wer zu Hause verprügelt werde. Wer von euch kriegt Kloppe? Wenn die Töchter des Studienfreundes unseres Vaters von den Ohrfeigen am Abendbrottisch berichteten oder, zögernd, die Cousine aus Bitterfeld von dem Gürtel, der hinter dem Spiegel der Mutter hing, huschte eine leise Genugtuung, die wahrscheinlich nur ich sah, über das Gesicht meines Bruders. Manchmal schob ich mich an ihm vorbei und sagte, nee, bei uns wird niemand verkloppt. Höchstens geklatscht. Wohin denn?, wollten die Töchter des Studienfreundes wissen. Na, aufn Po, sagte ich ungerührt und ignorierte die Faust meines Bruders an meiner Rippe. Wenn die Cousine aus Bitterfeld dann fragte: Mit oder ohne Klamotten?, und ich schnell, bevor Fly mir ins Wort fallen konnte, sagte: Natürlich ohne, sonst klatscht es ja nicht, huschte die gleiche Genugtuung, die ich eben noch auf dem Gesicht meines Bruders entdeckt hatte, über das meiner Cousine. Das sagt sie nur, damit sie wieder im Mittelpunkt steht, sagte er dann, knallte mir mit der Hand auf den Hinterkopf und rannte die Treppe zum Dachboden hinauf: Wollt ihr eine echte Urne sehen? Gefüllt? Die Töchter des Studienkollegen winkten ab, Urnen hatten sie selber auf dem Dachboden, aber die Cousine aus Bitterfeld eilte ihm nach und fragte: Was ist eine Urne? Da ist die Asche von toten Menschen drin, raunte mein Bruder ihr ins Ohr. Wenn du sie schüttelst, rasseln die Zahnkronen, und manche sind aus Gold!

Das war keine echte Kloppe. Kloppe ist es erst, wenn man hinterher was davon sieht, sagte mein Bruder. Ich sterbe, ich sterbe!

Wir lagen in unseren Betten, das Scheinwerferlicht der vorüberfahrenden Autos wanderte über die Kinderzimmerwände. Stimmt ja gar nicht, sagte ich. Du stirbst doch nicht an der Kloppe.

Nein, ich sterbe an etwas ganz anderem, tönte es aus seinem Bett. Mein Bruder lag auf dem Rücken und röchelte laut. Siehst du nicht, dass ich sterbe?, sagte er und griff sich mit beiden Händen an den Hals, bevor er nur noch Unverständliches grunzte und sich mit krampfartigen Bewegungen auf seiner Matratze hin und her warf. Ich sprang aus dem Bett und flüsterte: Ich hol Mutter! Nein, nein, röchelte mein Bruder halb erstickt, hol sie nicht. Hol mir lieber ein Bonbon. Ein Bonbon! Er grunzte zum Gotterbarmen und drehte mir ruckartig sein Gesicht zu, das in der Dunkelheit gespenstisch aussah.

Bist du sicher, dass das hilft?, fragte ich, und Fly gab zurück: Wenn du nicht sofort losläufst, sterbe ich wirklich, oh, oh! Das konnte ich nicht zulassen. Ich rannte in die Küche, rückte einen Stuhl vor das Küchenbuffet, stieg darauf und von dort auf die Ablage, wo ich aus dem oberen Fach ein Bonbon für Fly und eines für mich angelte, zur Beruhigung.

Was machst du da?, hörte ich hinter mir eine Stimme. Es war Pap. Ich hol nur was für Fly, damit er nicht stirbt, verteidigte ich mich. Im nächsten Moment lag ich in meinem Bett auf dem Bauch und drückte mein Gesicht ins Kissen, und Pap stand daneben. Er schlug die Decke zurück, zog mir die Pyjamahose herunter und schlug mir auf den Hintern. Nicht mit Kraft, aber mit Präzision. Als schlüge er auf einen defekten Automaten, oder als wäre er selbst ein Automat, der nur einen Arbeitsschritt, für den er konstruiert ist, durchführt. Dann aber ohne installiertes Sprachprogramm, denn Pap verrichtete die Schläge auf unsere Hinterteile grundsätzlich schweigend. Im Anschluss an seine erzieherische Pflicht zog er uns, zack, die Pyjamahosen wieder hoch und, zack, die Decke bis zum Hals. Am nächsten Morgen wären die Abdrücke seiner Hand auf unseren Hinterteilen längst verschwunden.

Nachdem Pap die Kinderzimmertür wieder hinter sich geschlossen hatte, lag ich in meinem Bett, noch immer auf dem Bauch, und heulte vor mich hin. Erst als die Atemzüge meines Bruders gleichmäßig und tief waren, streckte ich die Beine in die ausgekühlte untere Hälfte meines Bettes. Über die Zimmerdecke wanderte Scheinwerferlicht eines vorüberfahrenden Autos, und ich schloss die Augen.

Fly und ich teilten uns ein Kinderzimmer mit Mustertapete und hohen Fenstern. Das Scheinwerferlicht der wenigen Autos, die über die Kreuzung vorm Haus bogen, zog fensterförmig über die Wände, während ich mit Taschenlampe im Bett lag und in den Liederbüchern meiner Mutter blätterte. Viele sangen wir im Kindergottesdienst, ich erkannte sie an den Bildern. Mit dem Zeigefinger folgte ich den herauf- und herabsteigenden Tönen auf den Telegrafenleitungen der Notenzeilen und stellte sie mir als Schwalben vor, landend, klingend und wieder aufsteigend. Es war still im Kinderzimmer, von nebenan drang das monotone Geräusch des Fernsehers herüber, gedämpfte Gespräche. In meinem Kopf aber summte, klatschte und sang es, und folgte, wenn ich von den Noten aufsah, den leuchtenden Flecken über die Wände. Wurde auch Fly ins Bett geschickt, knipste ich schnell die Taschenlampe aus und stellte mich schlafend.

Gib dir keine Mühe, sagte er, ich hab’s gemerkt.

Ich gähnte demonstrativ und blinzelte. Du hast mich geweckt, nuschelte ich glaubwürdig. Hm, schon klar, feixte Fly und schob sich einen Stuhl vor den Schrank. Im Pyjama stieg er vom Stuhl auf die Kommode, balancierte zum Dach des Spielschranks, rief: Mein Name ist Spiderman!, und sprang mit Schmackes ins Bett neben mir.

Fly war am liebsten in der Luft. Tagsüber sprang er vom Garagendach. Oder von den Wipfeln der hohen Apfelbäume. Oder er kletterte auf den Schweinestall der Nachbarn und tobte darauf herum, bis die Ferkel zu quieken begannen und meine Mutter ihn herunterkommandierte und zum Celloüben ins Kinderzimmer schickte. Aber Fly fand so ziemlich alles spannender als Cello.

Wusstest du, dass Leim brennt?, fragte er mich und zog eine silberfarbene Tube aus der Hosentasche. Ich stand auf meinem Bett unterm Fenster. Mit den flachen Händen an der kühlen Innenscheibe hopste ich vor mich hin und beobachtete den sowjetischen Soldaten vorm Haus, den ein Wagen gerade in dem Moment auf der Kreuzung abgesetzt hatte, als ich vom Kindergarten heimgekehrt war. Wusstest du nicht, oder, sagte Fly. Die Federn meiner Matratze quietschten wie die Ferkel im Stall des Nachbarn zuvor, die Pappel neben der Kreuzung drehte ihre Blätter im trockenen Maiwind, die Kreuzung vor dem Haus stieg und fiel mit meinen versonnenen Sprüngen. Ich beweis es dir, sagte Fly. Der Einzige, der stillhielt, war der Soldat. Er stand auf der Mitte der Kreuzung, die staubigen schwarzen Stiefel nebeneinander auf dem Teer, die blassen Hände an den Nähten seiner Uniformhose, den breiten Kopf unter einem Helm, der keinen Gesichtsausdruck erkennen ließ, stand er da und blinzelte die Hauptstraße herunter. Guckst du überhaupt hin?, fragte Fly. Die Konvois der Sowjets kündigten sich immer durch einen Wagen an, der Stunden früher die Strecke abfuhr und an jeder Kreuzung einen Soldaten herausließ, mit der Anweisung, sich nicht von der Stelle zu rühren, bis die Panzer oder Lastwägen in Kolonne die Straße heruntergefahren kämen, wo er sie in die richtige Abbiegung zu lenken habe. Dieser hier stand schon den ganzen Nachmittag da. Knatterte ein Auto vorüber, umfuhr ihn ein Traktor in knappem Bogen, umkreisten ihn Jungs auf ihren Rädern, um ihm ein Abzeichen abzubetteln, presste er die Lippen aufeinander und schaute weiter geradeaus. Schnullerpuppe, sagte Fly. Erst als die alte Pazia sich über den Gartenzaun lehnte, um ihm in gebrochenem Russisch ein Bier anzubieten, senkte er den Kopf zu einem unmerklichen Schütteln. Achtung, sagte Fly. Der is schon länger stationiert, rief die alte Pazia unserer Mutter zu, die in unserer Einfahrt auftauchte, das Einkaufsnetz am Lenker, um rechtzeitig vor Ladenschluss noch Wurst zu holen. Der weeß genau, was passiert, wenner nich folcht! Die Maisonne schnitt seinen Schatten in den Teer der Kreuzung, und Fly rief: Es geht los!

Es klickte, und ich drehte mich um. Fly stand direkt neben meinem Bett, in der einen Hand ein Feuerzeug von Pap, in der anderen die silberfarbene Tube. Durchsichtig quoll der Leim heraus, Fly ließ das Feuerzeug wieder klicken, Funken. Wenn Pap mitkriegt, dass du, murmelte ich. Funken, Fly versuchte es wieder, Funken, und da war sie, eine hübsche kleine Flamme über dem Feuerzeug. Das ist verboten, sagte ich, und Fly: Halt doch mal den Mund, Schnullerpuppe, ich konzentriere mich. Der Leim flammte sofort auf. Fly drückte erschrocken die Tube und quetschte einen neuen Streifen Leim heraus, der sich noch im Fall auf den Boden entzündete. Das Linoleum, in flachen Wellen unter verstreuten Matchbox-Autos und Stiften ausgebreitet, fing sofort Feuer. Im nächsten Moment loderten hüfthohe Flammen vor meinem Bett auf. Ich wich an die kühle Scheibe zurück und rührte mich nicht vom Fleck. Fly sprang von einem Bein aufs andere, um das Feuer auszutrampeln, da leckten die Flammen schon am Holzpfosten des Bettes. Als er nach seinem Schulranzen griff um es auszuschlagen wie bei Karl May, hatte das Feuer gerade den Rest der fallengelassenen Leimtube angeleckt und schoss auf.

Mach was, Ruth!, rief er. Mach doch was! Um an den Knauf des Fensters zu gelangen, musste ich aufs Fensterbrett steigen. Innenfenster, Außenfenster. Als ich es endlich offen hatte, wehte die Mailuft hinein und ich fühlte hinter mir das Feuer hochfahren. Der Soldat auf der Kreuzung schob seinen Helm zurück. Hatte ich gerufen oder nicht? Hatte Fly? Er war schnell. Im nächsten Moment war er an der Veranda hochgeklettert und schwang einen schwarzen Stiefel übers Fensterbrett. Blitzschnell griff er nach Fly und mir und hob uns auf das Verandadach. Dann stieg er ganz ins Zimmer und schloss das Fenster. Wir sahen ihn sich hinter Glas im Rauch bewegen, wo er meine Decke vom Bett zog und die Flammen mit gezielten Bewegungen ausschlug. Ihr Bengels, rief die alte Pazia von der gegenüberliegenden Straßenseite. Wir standen stocksteif und hielten uns an den Händen.

Pap hatte noch den Mopedhelm auf, als er vor der Veranda auftauchte. Als er im Haus war und die Kinderzimmertür aufriss, zog der Rauch aus dem wieder offenen Fenster, durch das der Soldat uns gerade hineinhob. Sein Gesicht staubig und nass unter dem Helm, den er immer noch trug. Er hatte eine breite Nase und die dunkelsten Augen unserer Vorstellungskraft, aus denen heraus er uns anlachte. Mit einer großen, blassen Hand fuhr er sich übers Gesicht und hustete. Pap starrte ihn an. Spassibo, murmelte er. Spassibo bolschoje. Im nächsten Moment hörten wir die Panzer.

Sie schoben sich langsam die Hauptstraße herunter wie Urzeittiere, und der Soldat rannte los, rief uns noch ein Tschort wosmi zu, dessen Bedeutung sich uns direkt erschloss, so wie er die Beine in die Hand nahm. Er polterte durchs Treppenhaus, jagte über unseren Hof, den Vorgarten, die Panzer schoben sich auf ihren Ketten über die Hauptstraße, die Nachbarn tauchten in den Fenstern auf, die alte Pazia trat vom Zaun zurück, als der erste Panzer sich vor uns entlangschob. Als der Soldat auf der Kreuzung anlangte, hatten die ersten zwei die Abbiegung bereits verpasst.

Eine Stunde hat’s gebraucht, erzählte Pap abends Mutter in der Küche, um die Maschinen zurück und in die Straße zur Kaserne zu lenken. Er saß mit übergeschlagenen Beinen am Abendbrottisch und zündete sich eine Pfeife an. Das Feuerzeug war ein anderes als jenes, das Fly ihm geklaut hatte. Logisch. Mutter stapelte die benutzten Teller im Spülkasten. Und der Russe?, fragte sie. Na, Kopfnüsse ohne Ende!, sagte Pap und paffte, dass der Tabak knisternd aufglühte. Schläge hat er gekriegt. Der wird bestimmt strafversetzt.

Mutter drehte sich um. Aber der hat doch die Kinder gerettet!

Natürlich hat er das, aber er hatte Anweisung, sich nicht vom Platz zu bewegen. Pap klang, als müsste er mal wieder eine Tatsache erklären, die Mutter nicht wüsste. Die knüllte den Abwaschlappen zusammen und drehte sich um. Das wird er nicht, sagte sie. Morgen fährst du dahin und bringst seinem Vorgesetzten was. Pralinen, Korn, mir ganz egal.

Pap schwieg und zog an seiner Pfeife. Der Rauch verteilte sich über dem halb abgeräumten Abendbrottisch und spannte eine undurchsichtige Decke über Paps zurückgelehntem Kopf. Bringt doch nichts, sagte er. Die haben ihre eigenen Regeln.

Als Mutter mit langen Schritten die Küche durchmaß und sich vor ihm aufbaute, stieb die Pfeifenrauchdecke auf und formte feine Kringel in der stickigen Küchenluft. Feige bist du, sagte Mutter. Schöner Pfarrer.

Die Ohrfeige hörten wir bis ins Esszimmer, in dem wir auf einem improvisieren Matratzenlager hockten und konzentriert in Liederbücher (ich) und Karl May (Fly) starrten, um nichts zu verpassen. Die Tür war angelehnt. Fly und ich waren ausquartiert worden, bis der Kinderzimmerboden neu verlegt wäre. In der ganzen Wohnung roch es nach verbranntem Kunststoff.

Das ist die erste Ohrfeige in dieser Geschichte, Voitto. Keine Ahnung, wer, Mutter oder Pap, sie austeilte und wer, Pap oder Mutter, sie erhielt. Aber nach so einigen Umrundungen dieses Planeten um das Hämatom der Sonne kann ich dir zumindest sagen: Alles beginnt damit, eine Ohrfeige für das natürliche Ende eines Gespräches zu halten. Fly und ich drehten uns auf die Seite und rollten uns unter unseren Federbetten ein. Und dann knipste Fly das Licht aus.

2.

Ich war ein Kind, so glücklich und unglücklich, so geborgen und von allen guten Geistern verlassen, wie ein Mensch nur sein kann. Was warst du für eins? Ach, ist doch egal, wie wir waren, Voitto. Wo steckst du eigentlich? Auf dem Mond hat man weniger Überblick, als der erste Eindruck vermuten lässt. Groß und schön und unwahrscheinlich blau ist die Erde von hier aus gesehen, noch dazu fast vollkommen rund, die perfekte Simulation einer Phoenix-Doku. Aber vielleicht bin ich einfach zu weit weg, um dich zu finden oder von dir gefunden zu werden.

Sonnabendmorgens kam Pap im gestreiften Pyjama ins Zimmer und legte sich zu meinem Bruder ins Bett. Sie lagen nebeneinander auf dem Rücken, Pap mit hinter dem Kopf verschränkten Armen und Fly mit zerlegener Igelfrisur auf seinem Oberarm. Sie betrachteten die Risse in der Kinderzimmerdecke und führten leise Gespräche, von denen ich nicht viel verstand, weil ich auf meiner Matratze herumhopste und Mutter die kalte Asche des Vortags aus dem Kinderzimmerofen schabte. Ich kann mich nicht erinnern, je gefroren zu haben.

Ein einziges Mal habe ich doch gefroren, nach dem Schlittschuhlaufen. Mutter hatte weiße Schlittschuhe für mich aufgetrieben, darin stand ich aufrecht wie auf Messers Schneide, nicht wie in den abgetragenen Eishockeyschuhen von Fly, deren Kufen immer schief auf dem Eis lagen. Kerzengerade hatte ich auf dem Fischteich gestanden und die aufrechte Haltung genossen, während meine Mutter mit einer Nachbarin sprach. Der Schnee der letzten Nacht war auf den Bäumen am Ufer verblieben, in der Mitte des Teiches spielte die Dorfjugend Eishockey. Gelächter und Gejohle, sie schoben den Puck von einem zum anderen und bedienten sich zwischendurch aus dem Bierkasten im Kofferraum eines Trabis, den sie auf die Mitte des Teiches gefahren hatten. Die Kofferraumtür war hochgeklappt, und trotz der Kälte drang Benzingestank bis zu meiner Mutter und mir, wahrscheinlich lag in der Wärme des laufenden Motors ein knutschendes Pärchen auf der Rückbank.

Der Puck machte ein Geräusch, das mir erst viel später wieder einfiel, im Sydney Opera House, als ein Klarinettist ein vertracktes Solo spielte, aber das tonlos und nur vom Klacken seiner Tasten strukturiert, und dadurch ein Geräusch erzeugte, das genauso trocken durch die dunklen Innenwände seines Instrumentes schliff wie damals der Puck übers weißliche Eis. Seitdem fallen mir immer Holzblasinstrumente ein, wenn ich an Eishockey denken will.

Als meine Mutter ihr Gespräch beendet hatte, nahm sie mich am Fausthandschuh und endlich, endlich ging es los. Es wurde eine große Runde. Mit hölzernen Bewegungen, mehr laufend als gleitend, lief ich neben ihr her. Dampf stieg aus unseren Mündern auf. Meine Mutter drehte und kreiste geschmeidig um mich herum und sprach dabei pausenlos. Wollte ich nicht die Sätze verpassen, die an mich gerichtet waren, musste ich die ganze Zeit zuhören. Nein, das konnte ich früher viel besser, sagte sie, aber in deinem Alter noch nicht. Ist doch gar nicht so schlecht, Ruth! Aber schau mal, hier gehen wir nicht hin, hier sind letztes Jahr zwei Mädchen ertrunken. Das wusstest du nicht? Pass auf, eine Pirouette, so – und so! Als wir wieder am Rande des Teiches ankamen, hatten die Jugendlichen ihr Spiel beendet, der Trabi fuhr gerade an, gefolgt vom Gelächter der Gruppe, die hinter ihm vom Eis trottete. Als meine Mutter mir die Schlittschuhe auszog, heulte ich auf. Füße und Hände waren steif und schmerzten, als lägen sie wirklich auf Messers Schneide. Mechanisch lief ich meiner Mutter nach, über die große Weide, die Kuhbrücke, am Fußballplatz vorbei und die Straße der Jugend hinunter. Ich heulte. Als wir zu Hause waren, schob sie mich ins Bad und ließ lauwarmes Wasser im Waschbecken ein. Aua, heiß, du verbrühst mich!, jammerte ich, als ich die Hände hineingleiten ließ. Es kommt dir nur so vor, beruhigte mich Mutter. Eine Frage der Temperaturdifferenz. Fly und ich waren die Einzigen in der Familie, mit denen sie wie mit Erwachsenen sprach. Mit Pap dagegen sprach sie, als wäre sie selbst ein Kind. So war das bei uns, Voitto.

Die Heizarbeit war nach Alter aufgeteilt. Ich holte Holz, mein großer Bruder holte Kohlen. Einmal im Jahr kam das Kohleauto und schüttete mit Gepolter einen schwarzen Berg in unseren Hof, höher, viel höher als Flys Segelohren. Er brauchte drei Nachmittage, um ihn in den Schuppen zu schaufeln, während meine Mutter immer wieder ans Fenster trat und murmelte: Das schafft er nicht, er ist doch viel zu klein. Und Pap erklärte: Das ist ein Junge. Der schafft das. Ruth, geh doch mal Holz holen.

Die Scheite lagen neben dem Waschhaus in einem Verschlag ohne Beleuchtung. Im Türrahmen hingen Spinnennetze. Je größer ich wurde, umso tiefer bückte ich mich, um sie nicht in die Haare zu bekommen. Wenn ich in der Dunkelheit die Holzscheite aufsammelte, hörte ich von draußen die regemäßigen Geräusche der Kohle, die von Fly in den Kohleschuppen geworfen wurde. Später würde er am Abendbrottisch sitzen, mit kohleverschmiertem Gesicht, das seinen ernsten Blick nur noch stärker strahlen ließ. Ich wollte auch gern Kohle schippen.

In den unendlichen Abenden meiner Kindheit saß meine Mutter mit uns abends am Bett und musste sich kurz überwinden. Aber dann spielte sie uns Lieder auf ihrer Blockflöte vor. Noch eins, noch eins, riefen mein Bruder und ich, und meine Mutter lächelte etwas gequält und fand, sie könne doch gar nicht spielen. Wenn sie dann aus dem Zimmer heraus war, spürte ich ihrer weichen Haut auf meiner Stirn und meinen Wangen nach, und in den Ohren behielt ich ihre schwerfällige Blockflötenmelodie.

Einmal träumte ich, meine Mutter hätte eine Glatze wie Pap. Glatze mit Geländer, hätte Fly wegen des schütteren Haarkranzes am Hinterkopf und an den Seiten gesagt, aber in diesem Traum kam er nicht vor. Unsere Eltern sahen einander so ähnlich, dass ich sie kaum unterscheiden konnte. Mutter saß mitten im Kinderzimmer und hielt den Kopf gesenkt, während Pap auf sie einsprach. Ich schaute eine Weile zu und dachte, sie wäre mürrisch, weil Pap so viel redete, was eigentlich ihr Privileg war. Dann schaute ich auf seine Hände. Pap stand neben meiner Mutter und schlug mit einem Meißel auf die Ränder ihrer Glatze ein. Die knackte wie eine Kokosnuss zu Weihnachten, und meine Mutter hielt ihren Schädel gesenkt, und weinte und weinte.

Aber manchmal wurde schlagartig Sommer, von einem Schlaf auf den anderen. Dann fütterten mein Bruder und ich die Hühner vom Nachbarn mit den überreifen Johannisbeeren aus unserem hinteren Garten. Wir standen hinter den Büschen, warfen die roten Perlen durch den Maschendrahtzaun und schauten zu, wie die Hühner gierig danach pickten. Nach einer Weile fingen sie an, in Zeitlupe zu taumeln und zu gackern, ihre langgezogenen Geräusche hatten etwas von den alten Weibern in der halb leeren Kirche am Sonntag an sich, wenn sie sich durch die Gesangbuchlieder arbeiteten. Wir hielten uns vor Lachen die Bäuche, in denen sich ebenso viele Johannisbeeren befanden wie in Nachbars Hühnern.

Oder Pap machte ein Lagerfeuer unter den großen Apfelbäumen. Ihre Kronen waren so hoch, dass das Feuer darunter noch Platz hatte, fand Pap. Ab und zu öffnete sich ein Fenster des Pfarrhauses, und meine Mutter lehnte sich heraus und rief: Du brennst den ganzen Garten an! Pap lachte dann und warf noch einen Ast ins Feuer, während Fly und ich daneben hockten und Kartoffeln in die Glut legten. Wenn wir sie später herausholten und mit spitzen Fingern schälten, waren die Kartoffeln entweder verkohlt oder noch roh. Manchmal fiel ein Apfel in die Glut. Den holten wir auch heraus. Er schmeckte süß. Pap stand daneben, hatte die Arme über dem Bauch verschränkt und zog an seiner Pfeife, aus der dünner Rauch aufstieg, als befände sich in ihr ein zweites Lagerfeuer, nur kleiner.

Oder Mutter setzte uns ins Auto und fuhr mit uns an den Baggersee. Im Trabi war es stickig und brüllend laut, aber sie kurbelte die Fenster herunter, dass ihre blonden Haare im Fahrtwind flatterten, und sang laute Lieder mit uns. Was müssen das für Bäume sein, wo die großen Elefanten spazieren gehn, ohne sich zu stoßen? Wir sangen im Kanon und möglichst falsch, während sie mit Karacho durch die Kiefernwälder donnerte, von einem Dorf zum nächsten. Die Männer in ihren Arbeitsanzügen, auf dem Weg zu irgendeinem Tauschhandel, einer Mauschelei oder nur auf dem Heimweg von der LPG, drehten sich nach ihr um.

Am Seeufer stiegen wir unter dem Transportband hindurch, das quer über den Strand verlief wie der Schwanz eines urzeitlichen Tieres. Manchmal gingen wir auch ins Freibad am gegenüberliegenden Ufer. Aber da war man auch nicht gefeit vor den Wasserstrudeln, wenn tief unten der Sand ins Rutschen kam. Außerdem war es Mutter zu voll.

Sie trug dunkle Badeanzüge, in denen man so wenig wie möglich von ihrem Körper sah. Wie ich aussehe!, schimpfte sie. Vollkommen aufgedunsen. Wie eine Wasserleiche. Ophelia am Baggersee, es ist zum Heulen, Kinder, oder? Hoffentlich sieht mich keiner. Wenn sie im Wasser war, glänzte ihr nasses Haar im Abendlicht und kringelte sich bis zum Kinn. Los, du schaffst das, lachte sie und hielt mich am Bauch, während ich, Kopf in den Nacken geworfen, panisch um sie herumpaddelte. Wunderbar, Ruth, nicht weinen, du kannst das! Komm, ich zeig dir mal Toter Mann.

Man legte sich auf den Rücken, Gesicht zum Spätnachmittagshimmel, und rührte sich nicht. Wenn ihr mal nicht weiterkönnt, sagte sie, legt euch einfach auf den Rücken und atmet tief ein. Dann könnt ihr gar nicht untergehen, mit so viel Luft im Körper.

In der Mitte des Baggersees befand sich eine kleine, bewaldete Insel. Wenn Mutter und Fly im aufkommenden Abendlicht da hinausschwammen, legten auch sie sich auf den Rücken und verschnauften, damit Fly die weite Strecke schaffte. Gegen Abend wurde der stillgelegte Kiestransporter am Strand zu einem Dinosaurier, mit dem ich mich unterhielt, um die Zeit bis zu Flys und Mutters Rückkehr zu überbrücken.

Stehst hier auch schon länger, oder? Wie heißt du eigentlich?

Nö, ich bin hier nur zu Besuch.

Aber wir sind anders, Voitto. So viel steht fest.