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Inhalt

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Titel

Zitat

Erster Akt: DIE PHASE DES AUFBRUCHS

1. Die Reise des Helden beginnt mit der Vorstellung seiner gewohnten Welt. Ein initialer Auslöser setzt die Handlung in Gang

2. Wuppke zögert, dem Ruf des Abenteuers zu folgen. Allerdings zögert er nicht besonders lange und überschreitet gleich die erste Schwelle

3. Wuppke stößt auf einen wichtigen Hinweis, der für seine Reise von größter Bedeutung sein wird

4. Feinde und Verbündete verstellen oder ebnen Wuppke den Weg in den zweiten Akt

Zweiter Akt: DIE PHASE DER PRÜFUNGEN

5. Die Probleme, die Wuppke begegnen, drohen ihn zu überwältigen. Beim Überschreiten der zweiten Schwelle wird ihm das volle Ausmaß der Aufgabe bewusst

6. Wuppke wird die gegengeschlechtliche Macht offenbar, in seinem Fall also die der Frauen

7. Es treten Probleme auf, die als weitere Prüfungen, wenn nicht sogar als Rückschläge gedeutet werden können

8. Noch mehr Probleme

9. Zentraler Wendepunkt. Wuppke beginnt zu ahnen, dass das, was er will, nicht das ist, was er braucht

10. Ein böser Junge taucht auf

11. Es scheint nun unmöglich, das ursprüngliche Ziel noch zu erreichen. Eine Hoffnung stirbt. Aber ihr Tod macht Platz für etwas Neues

12. Wuppke gelangt an den tiefsten Punkt, er scheint geschlagen. Doch nur wer stürzt, kann wieder aufstehen

Dritter Akt: DIE PHASE DER ANKUNFT

13. Wuppke bekommt eine letzte Chance, die feindlichen Mächte zu überwinden und sich als Held auszuzeichnen

14. Wuppke überschreitet die dritte Schwelle und erlebt seine Auferstehung

15. Die Reise des Helden ist zu Ende. Wuppke erhält sein Elixier und kehrt in seine gewöhnliche Welt zurück

Danksagung

Autorenporträt

Kurzbeschreibung

Impressum

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»Es ist ohne Weiteres möglich, eine gute Story zu schreiben, ohne die Einzelheiten der Reise des Helden zu beachten. Ehrlich gesagt, ist dies sogar der bessere Weg.«

Christopher Vogler,
Die Odyssee des Drehbuchschreibers

»Tony hat dem alten Mann gesagt, er soll mir sagen, ich soll dir sagen: Es ist, wie es ist.«

Robert de Niro zu Al Pacino
in Martin Scorseses The Irishman

Erster Akt

DIE PHASE
DES AUFBRUCHS

1. Die Reise des Helden beginnt mit der Vorstellung seiner gewohnten Welt. Ein initialer Auslöser setzt die Handlung in Gang

Wie üblich bei dieser Art von Geschichten wird diese hier mit den Bullen enden, wobei zunächst wohl interessanter ist, wie sie anfängt, nämlich auch mit den Bullen. Das heißt: Geschichten fangen eigentlich nicht an. Sie ereignen sich und hören nicht auf. Aber das führt fürs Erste zu weit.

Was sich ereignete, war Folgendes. Wuppke machte einen späten Einkauf beim Rewe, Joghurt, oder was ihm sonst so fehlte in seinem kleinen Junggesellenhaushalt mit Balkonblick auf die Stadtautobahn, vielleicht kaufte er auch Bier, letztlich ist das ja seine Sache. Kam also ein Bulle in einer dieser blauen Sommeruniformen rein, kurzärmliges Hemd, schusssichere Weste, und ging wutentbrannt auf die Kassiererin los. Die scheiß Düse sei platt! Er fuchtelte mit einer Dose vor ihrem Gesicht herum, Wuppke dachte, es sei Kampfgas, dann sah er die Aufschrift: »ja! Sprühsahne«.

Es war Hauptsaison und dementsprechend warm, sogar hier im vollklimatisierten Untergeschoss des neuen Einkaufszentrums, das sie an die Karl-Marx hingestellt hatten, und vor Wuppke standen noch sechs Leute mit vollen Einkaufswagen, Quinoamüsli und Fair-Trade-Schokolade mit Chiligeschmack, oder was die jungen Leute neuerdings nicht alles essen. Wuppke wollte nur nach Hause und sich seinen Joghurt reinziehen.

Der Bulle, ein offenbar übermotivierter junger Typ mit imposantem Bizepsumfang und überholter Tribal-Tätowierung, beschwerte sich bei der Kassiererin schwallartig über die Sache mit der Dose. Und obwohl Wuppke keine Ahnung hatte, worin die Sache mit der Dose bestand, und sich auch nicht dafür interessierte, fand er es nicht richtig, dass ein Bulle, der ja irgendwo doch ein Vorbild sein sollte und so weiter, derart überheblich mit einer höchstwahrscheinlich unterbezahlten Kassiererin umsprang, fast schon wie mit einem gewöhnlichen Halunken oder Strolch, und alles nur wegen seiner Sprühsahne. Also konnte Wuppke – nicht zum ersten Mal in seinem Leben übrigens – sein Maul nicht halten und rief zu dem Bullen rüber: »Ey, kannst du mal nicht so ne Welle machen da vorne?«

Damit nahm die Geschichte beträchtlich an Fahrt auf. Die Sache war nämlich die, dass Wuppke vorbestraft war und sich solche Sprüche eigentlich nicht leisten konnte, schon gar nicht gegenüber einem Bullen mit Bizeps. Wuppke war nicht schlimm vorbestraft, nur ein bisschen, aber es würde ausreichen, um den Joghurt für heute Abend aus dem Programm zu streichen, und morgen wahrscheinlich auch.

Wuppke hatte eine Bewährungsstrafe wegen notdürftiger Tötung am Hals. Jedenfalls nannte er es seinem Bewährungshelfer Herrn Gottschild gegenüber so, weil er das witziger fand als Nötigung, und Humor wird umso wichtiger, je weniger man zu lachen hat. Letzten Dienstag hätte er zu seinem Herrn Gottschild in den Wedding fahren sollen, was am anderen Ende der Stadt liegt, aber Wuppke hatte verpennt, dann war seine Prepaidkarte leer gewesen, und als er sich doch noch in die U-Bahn gequält hatte, waren am Hermannplatz Kontrolleure von der Sorte gescheiterte Gerüstbauer zugestiegen. Da hatte er die Krise gekriegt und war wieder nach Hause.

Das war, wie sich noch zeigen wird, Wuppkes größtes Problem, dass er nämlich manchmal von jetzt auf gleich bockig werden konnte und dann aus der Rolle fiel. Außerdem ließ er sich in letzter Zeit ein bisschen hängen.

Jedenfalls war heute schon Donnerstag, und er hatte sich vorgenommen, Gottschild gleich morgen früh anzurufen und ihm die ganze Sache zu erklären. Oder vielleicht nicht die Sache an sich, sondern etwas, das noch ein bisschen überzeugender klang. Wuppke war sicher, dass er es schaffen würde, alles wieder hinzubiegen, Gottschild war ein netter Kerl, und er selbst konnte, wenn er wollte, ganz charmant sein, oder wenigstens das Hemd in die Hose stecken. Außerdem wusste Wuppke, wie man Leute wie Gottschild anpacken musste, er war nämlich früher selbst einer von der Sorte gewesen, aber dazu bei Gelegenheit mehr.

Jetzt im Moment war er jedenfalls nicht charmant, sondern gerade dabei, zu einem Ärgernis für den Bizepspolizisten zu werden, der inzwischen auf Betriebstemperatur war. Ein Blinder konnte sehen, dass es ihm nicht um die Sprühsahne ging, sondern dass er bloß einen Idioten suchte, an dem er sein überschüssiges Testosteron abreagieren konnte, und natürlich war er insgeheim froh, dass sich mit Wuppke jemand freiwillig dafür meldete. Wuppke hätte das eigentlich wissen müssen, schließlich kannte er sich mit Bullen ein bisschen aus. Hilft aber nichts. Er schloss die Augen und atmete tief durch, als der Bulle sich durch die Schlange zu ihm durchkämpfte.

Wie vorher auf die Kassiererin, redete er nun schwallartig auf Wuppke ein. Er spuckte beim Sprechen. Natürlich hörte Wuppke nicht zu, außer am Ende, wo die Frage kam: »Kann ich jetzt mal Ihren Ausweis sehen?«

Wuppke bemühte sich, wenn schon nicht höflich zu bleiben, dann wenigstens frech zu werden. »Wieso wollen Sie denn jetzt auf einmal meinen Ausweis sehen, Herr Wachtmeister?«, wobei seine Entgeisterung natürlich betont schlecht gespielt war.

»Hören Sie mal, junger Mann«, sagte der Bulle ernsthaft, und an der Stelle flogen bei Wuppke endgültig die Sicherungen raus, denn dass ein Bulle, der mindestens fünf Jahre jünger war als er, ihn »junger Mann« nannte – wobei Wuppke mit Anfang 40 auf eine langsam bedrückend werdende Weise eben kein junger Mann mehr war –, konnte man nur als vorsätzliche Provokation verstehen. Wuppke war es schon immer schwergefallen, seinen Ärger einfach wegzuatmen, in diesem Fall versuchte er es gar nicht erst. Er schubste den Bullen weg, sprang in Ermangelung anderweitigen Bewegungsspielraums auf das Warenband und am Ende wieder runter, und im nächsten Moment war er raus aus dem Supermarkt und drinnen im Parkhaus. Wo er zwar nicht hinwollte, aber egal.

Der Bulle natürlich hinter ihm her.

In seiner Hand hielt Wuppke immer noch den Joghurt. Tja, Scheiße, Widerstand gegen die Staatsgewalt in Tateinheit mit Ladendiebstahl, überschlug Wuppke und schüttelte den Kopf über seine Blödheit, zuckte dann aber gedankenschnell die Achseln, stolperte über eine Fahrbahnbegrenzung und sah den Becher auf einen vorüberfahrenden Vespafahrer zufliegen, wo er am Visier des Fahrers zur Explosion kam.

»Tschuldigung!«, rief Wuppke.

Die Maschine schlingerte noch ein Stückchen ohne den Fahrer weiter und knallte dann in einen geparkten Mercedes. Der Fahrer lag wie ein Käfer auf dem Rücken und schrie irgendwas. Wuppke bekam Schiss, dass er seine Zunge verschluckt hatte, aber dann begriff er, dass der Fahrer bloß auf Arabisch fluchte. Er rappelte sich auf, klappte das verschmierte Visier hoch und ging sofort auf Wuppke los. Wuppke richtete eilig die immer noch knatternde Maschine auf und setzte sich drauf. Im Umdrehen sah er, dass der Bulle inzwischen ebenfalls am Set war und den Rollerfahrer wegschubste, wie wenn ein Tyrannosaurus Rex einem Diplodocus das Essen streitig macht oder so was. Wuppke kannte sich aber mit der Kreidezeit nicht so aus. Er gab Gas und fuhr auf dem schmalen Fußgängerstreifen an der Schranke vorbei, raus aus dem Parkhaus und dann auch vorsichtshalber raus aus Neukölln Richtung Süden, bis er irgendwann in Schöneweide neben einer Pferdekoppel im Sonnenuntergang anhielt, den Roller abstellte und den Bus zurück nahm.

Zu Wuppkes Biografie wäre schon das Wichtigste gesagt, wenn man den Mantel des Schweigens darüber breiten wollte. Wuppke hatte immer versucht, irgendwie sein Ding zu machen, aber, na ja: Fortuna trägt ihren Schopf nun mal vorne, und wenn man immer erst danach greift, wenn sie schon vorbei ist, muss man sich nicht wundern.

Wuppke rief auch am nächsten Morgen nicht seinen Bewährungshelfer Herrn Gottschild an, denn seine Karte war immer noch leer. Außerdem schlief er freitags gern etwas länger und schaute sich nach dem Aufwachen die besten Szenen aus Blues Brothers auf DVD an. Dafür machte jemand von der Möglichkeit Gebrauch, ihn anzurufen, und zwar mehrfach, beziehungsweise minütlich. Wuppke hatte ein schlechtes Gefühl im Bauch, ebenso schlecht wie der Geschmack im Mund von dem Bier, das er getrunken hatte, um den beklagenswerten Verlauf des gestrigen Abends zu verwinden.

Es hilft alles nichts: Wenn das Telefon klingelt, muss man irgendwann rangehen, schon allein der Neugier wegen. In diesem Fall war es der Chinese beziehungsweise einer seiner Handlanger.

Der Chinese ist jetzt ein Thema für sich. Keiner weiß so genau, warum man ihn den Chinesen nennt. Er hat keine mandelförmigen Augen, er ist nicht klein, und er verbeugt sich auch nicht bei der Begrüßung. Die Haare sind schwarz, klar, aber nicht glatt und glänzend, sondern stumpf und wellig. Schon dem Aussehen nach ist der Chinese leicht als Araber zu erkennen. Er ist groß und hat einen Schmerbauch, und in seiner Freizeit liebt er es, arabische Schlager per Karaoke nachzusingen. Kein echter Chinese würde so etwas tun. Das mit dem Spitznamen hat vielleicht damit zu tun, dass er in der Import-Export-Branche tätig ist. In der Migrantengemeinde Neuköllns scheint das eine durchaus beliebte Tätigkeit zu sein, jedenfalls wenn man dieser Einschätzung die Zahl der weißen Porsche Panamera oder sogar Bentley Continental GT zugrunde legt, die man bei Einbruch der Dunkelheit so zu Gesicht bekommt. Auch der Chinese fuhr so einen, und zwar immer gegen Mitternacht mit maximaler Drehzahl unter Wuppkes offenem Fenster vorbei, was nur deswegen nicht so sehr ins Gewicht fiel, weil da ja eh auch die Stadtautobahn vorbeiführt.

Wuppke wollte sich eigentlich vom Chinesen fernhalten. Ein bisschen was für seine Work-life-balance tun. Er hatte das jetzt auch schon eine ganze Weile prima hinbekommen. Seine Bewährung hatte dabei ungemein geholfen: Man ließ ihn in Ruhe, niemand versuchte, ihm einen Job anzudrehen, der Umgang war respektvoll. So respektvoll, dass Wuppke noch nicht hatte erwägen müssen, ein für alle Mal aus Neukölln zu verschwinden.

Jetzt hieß es aber: »Chinese will dich sehen.«

»Was? Jetzt?«, murmelte Wuppke ins Telefon. »Wieso?«

»Hat was mit dir zu sprechen.«

»Das geht jetzt nicht«, sagte er, stand aber vorsichtshalber schon mal auf und begann damit, sich anzuziehen.

»Wieso nicht?«

»Hab meinen bad-hair-day.«

»Was für Scheiß?«

Geschichten funktionieren ja meistens so, dass der Held oder die Heldin eine hervorstechende Eigenschaft hat, oder gleich mehrere davon. Von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet, handelt es sich bei Wuppke erst mal um eine gewagte Wahl. Zum einen ist ihm als weißem Mann auch ohne besondere Eigenschaften bislang immer der Arsch nachgetragen worden, ohne dass er sich groß hätte anstrengen müssen. Zum anderen lebt er jetzt schon eine ganze Weile von der Stütze, nachdem er aufgedeckt hat, dass das gesamte System des Lohnerwerbs erpresserisch organisiert ist.

Spaß beiseite, auf eine Art war seine Existenz wirklich tragisch, denn Wuppke hatte immer etwas Besonderes sein wollen. Dabei wäre er bezüglich des spezifischen Charakters dieser Besonderheit nicht einmal besonders wählerisch gewesen. Er hätte zum Beispiel gern vier Fremdsprachen gelernt, darunter Kastilisch, Farsi, Esperanto und eine dieser Khoisansprachen aus Südwestafrika, wo die Leute immer so tolle Klicklaute machen. Aber die werden an Volkshochschulen nicht unterrichtet. Er hätte außerdem gern mit der einen Hand Klavier und mit der anderen Trompete gespielt oder Flickflacks treppaufwärts beherrscht. Und er hätte sehr gerne überraschende und heilsame politische Ideen gehabt. Überhaupt wäre er gern von irgendetwas überzeugt gewesen, und sei es nur von der absoluten Notwendigkeit, Marvel-Comics in Erstausgaben zu sammeln.

Aber Wuppke war in all diesen und noch viel mehr Hinsichten kein besonderer Mensch, und er hatte tatsächlich sein gesamtes bisheriges Leben dafür gebraucht, sich an diese Erkenntnis zu gewöhnen. Eine Zeit lang hatte er sich mit dem Mantra der Mittelmäßigen getröstet, demzufolge jeder Mensch etwas Besonderes sei. Aber schon Robert »Flash« Parr, ein zehnjähriger Junge aus dem computeranimierten Film The Incredibles, der das besondere Talent hat, unglaublich schnell laufen zu können, hat durchschaut, dass, wenn jeder etwas Besonderes zu sein meint, es in Wahrheit niemand ist.

Einen Kaffee aus dem Backshop in der Hand, saß Wuppke etwas später beim Antichambrieren im Vorzimmer des Chinesen. Genau genommen war es ein Hinterzimmer. Es roch nach abwegigen Shishaaromen und profanem Zigarettenrauch. Das Hinterzimmer war katastrophal eingerichtet mit einem kitschigen Wandteppich und überall Gold und Glitzer an den Möbeln, die Araber haben ja teilweise einen kontroversen Einrichtungsgeschmack. Außerdem war in jeder freien Ecke mehr oder weniger originalverpackte Unterhaltungselektronik gestapelt, mengenmäßig noch nicht ganz auf Großhandelsniveau, aber dann doch so viel, dass man sich fragte, ob damit wirklich nur der persönliche Bedarf der – wenn auch großen – chinesischen Großfamilie gedeckt werden sollte.

Der Chinese kam rein und strahlte. Er strahlte immer, wahrscheinlich, um seine mächtigen Zähne zur Schau zu stellen. Er hatte Zähne so massiv wie polierte Marmorgrabsteine auf einem Soldatenfriedhof, völlig ebenmäßig und gleißend weiß. Es war ausgeschlossen, dass sie echt waren.

»Carsten, mein Lieber, warum du trink diese Scheise?«, fragte er zur Begrüßung und setzte sich auf ein purpurnes Sofa mit Goldtroddeln. Der Chinese hieß mit richtigem Namen Ali al-Safa, und Wuppke wusste, dass man ihn auch so anreden sollte. »Schön du wieder arbeitest.«

»Eigentlich bin ich noch auf Bewährung«, sagte Wuppke vorsichtig.

»Jaja«, machte der Chinese und summte eine Melodie aus dem Werbefernsehen von Al Dschasira.

»Was mache ich hier, Ali?«

»Ah, willst du sofort Sache reden, gutgut. Freu ich mich, dich sehen, mein Lieber, wirklisch, escht. Aber hab ich Problem.«

Wuppke wusste schon, was jetzt kam.

»Sache mit Motorrad, mein Lieber. Das Scheise.« Er trug einen Zahnstocher im Mundwinkel, wie andere Leute Fliegerjacken mit hohem Pelzkragen tragen.

»Was fürn Motorrad?«

»Hast du Salid Dose Bier an Kopf geworf«, sagte der Chinese unbeirrt und mit bedauerndem Kopschütteln. »Das nich nett.«

»Ich hab nicht …«, versuchte Wuppke.

»Weiß du, Salid ist, äh …« Der Chinese wandte sich fingerschnippend an einen stiernackigen Mann bei der Tür, der gerade versuchte, auf einer Setar bestimmte Töne zu treffen, ohne zu wissen, welche. Wuppke kannte ihn nicht, glaubte wegen der Finsterkeit seines Mienenspiels aber, dass er vorne im Laden arbeitete. Es war nämlich das Hinterzimmer von einem Laden, der auch vorne aussieht wie ein Hinterzimmer.

»Was ist noch mal Salid?«, fragte der Chinese den Mann. Der antwortete, ohne aufzusehen: »Cousin. Oder Schwager.«

»Weißt du«, dies der Chinese wieder zu Wuppke, »Salid ist Cousin. Oder Schwager.«

»Wer ist Salid?«, fragte Wuppke.

»Cousin«, sagte der Chinese geduldig, als sei Wuppke ein bisschen behindert.

»Oder Schwager«, sagte der Mann an der Tür über seine Laute hinweg. Das ging eine Weile so hin und her, aber wir spulen mal vor zu der Stelle, wo der Chinese sagte: »Jetzt, was soll ich machen? Salid sagt zu mir, soll ich dich Eier abhängen, aber kann ich nicht machen das. Andere Seite: ist Familie, verstehst du.«

Wuppke sagte nichts.

»Wieso du sag nichts, mein Lieber.«

Das war eine gute Frage, und die Antwort war wohl, dass Wuppke sich vollkommen klar darüber war, Mist gebaut zu haben, noch dazu, wo der Chinese nicht dafür bekannt war, solche Sachen auf sich beruhen zu lassen, schon gar nicht, wenn sie seine Familie betrafen. Die Araber machen um die Familie ja ein Wahnsinnsgewese, mit Fatwa und Blutrache und diesem ganzen Unsinn, damit ist nicht zu spaßen. Andererseits wusste Wuppke, dass er beim Chinesen noch einen Stein im Brett hatte wegen der Geschichte von damals.

Die Geschichte von damals geht so. Wuppke hatte eine Zeit lang als Sozialarbeiter gewirkt, richtig mit Studium und Steuerkarte und allem. Das ist vielleicht schwer zu glauben, aber andererseits kann das ein Außenstehender gar nicht beurteilen, und wie schon Shakespeare gesagt hat: Niemand kennt irgendjemanden wirklich. Vielleicht war es auch Goethe oder Gérard Depardieu gewesen, der das gesagt hat, spielt ja keine Rolle, solche Sätze werden alle naselang gesagt, sogar wenn gerade keiner mitschreibt. Jedenfalls war Wuppke mal Sozialarbeiter gewesen, das ist so. Er hat mit Jugendlichen gearbeitet, die frühzeitig von zu Hause weg sind, weil sie was von der Welt sehen wollten und dann ziemlich schnell gemerkt haben, dass das nicht unbedingt auf Gegenseitigkeit beruht. Woraufhin die Jugendlichen meistens aggressiv wurden, klar, da waren sie wenigstens gut drin. Wuppke hat also versucht, die Jugendlichen ein bisschen auf nettere Gedanken zu bringen, zum Beispiel so mit Wehrsport im Wald oder S-Bahn-Surfen. Kleiner Scherz, natürlich hat er lauter pädagogisch wertvolles Zeug mit den Jugendlichen veranstaltet, Bewerbungstraining, biovitales Qigong und Grundlagen der Verhütung.

Wuppke hatte auch jungen Müttern Beziehungsangebote gemacht. Dass das jetzt nicht missverständlich rüberkommt: Wuppke hat ihnen bei den alltäglichen Dingen des Lebens unter die Arme gegriffen, also hauptsächlich das Jobcenter verarscht und gescheit dahergeschwätzt. Im Grunde kein großer Unterschied zu dem, was er dann später für den Chinesen machte, nur eben fast legal.

Einmal hatte er mit einer jungen Mutter zu tun gehabt, die eine Art Syndrom hatte. Bei den kleinsten Anzeichen von Stress schaltete sie erst auf Burn-out und dann auf Psychoterror, Wuppke begann dann sofort im Kopf zu überschlagen, was er sich dafür am Monatsende extra in die Rechnung schreiben konnte.

Den einen Tag kam also die junge Mutter an, die ja schon ein kleines Kind hatte (logisch), und meinte, sie sei jetzt wieder schwanger. Das Kind sei von irgendeinem Typen, mit dem sie nichts mehr zu tun habe, auch die befruchtete Eizelle wolle sie schnell loswerden, und deswegen sei die ganze Sache eigentlich kein großer Aufreger. Allerdings hatte sie ziemlich lange damit gewartet, zu dieser Einschätzung zu kommen, und war mittlerweile im vierten Monat.

Wenig später rief Wuppke der werdende oder eben vielleicht auch nicht werdende Vater an und druckste rum. Die Sache sei sehr delikat (der Mann, der natürlich der Chinese war, sagte nicht »delikat«, sondern nur sinngemäß), aber ob es stimme, dass Wuppke die Frau betreue, sie dürfe nämlich auf keinen Fall abtreiben, er habe Geld. Wuppke verstand kein Wort und musste ziemlich oft nachfragen, bis er begriff, dass der Chinese sich mit der Frau auf eine kurze Nacht unterm Sternenzelt eingelassen hatte, die aber keinesfalls herauskommen dürfe, wegen Religion und so. Andererseits müsse das Kind unbedingt zur Welt kommen, auch wegen Religion. Ein echtes Dilemma also. Der Chinese bot Wuppke Geld, damit der die Frau überzeugte, das Kind zu bekommen und großzuziehen. Wuppke, der sich bei der Annahme von Aufträgen gern mehr oder weniger am Machbaren orientierte, hatte gesagt, er werde sehen, was sich machen ließe.

Als die Frau dann beim Frauenarzt gewesen war und der Frauenarzt ihr angesichts der nicht unbeträchtlichen Fristüberschreitung einen Vogel gezeigt hatte, war das Thema Abtreibung eh vom Tisch, was der Chinese wiederum für das Verdienst Wuppkes hielt, weswegen er von da an eine Art Vaterfigur für Wuppke werden wollte.

Der Twist oder auch Clou an der Geschichte ist jetzt der, dass Wuppke wenig später unehrenhaft aus seinem Sozialarbeiterjob entlassen wurde und also ohne Einkommen dastand. Warum er unehrenhaft entlassen wurde, mag für die einen oder anderen jetzt durchaus interessant sein, aber wenn man Wuppke danach fragt, kriegt man meistens so was zu hören wie: »Da möchte ich jetzt nicht drüber reden.« Und auch wenn das keine vertrauensstiftende Antwort darstellt, ist es Wuppkes gutes Recht, zu schweigen, also Schwamm drüber.

Viel wichtiger ist, dass der Chinese, der seine Augen und Ohren überall hatte, großen Anteil an Wuppkes Situation nahm und sich fortan für Wuppke auf geradezu rührende Weise verantwortlich fühlte, weil er seinem Sohn (für ihn hatte von Anfang an festgestanden, dass das uterale Kind ein Sohn werden würde, was dann auch tatsächlich der Fall war) das Leben gerettet habe, wie er sich dramatisch ausdrückte. Wuppke versuchte zwar wiederholt, dem Chinesen den wahren Hergang begreiflich zu machen, war aber gegen dessen Enthusiasmus machtlos und ließ es geschehen, dass der Chinese ihm nach dem Rauswurf mit ein, zwei kleineren Jobs über die Runden half. Eigentlich waren es keine richtigen Jobs, sondern mehr Gefälligkeiten. Angaben über den genauen Charakter der Gefälligkeiten würde Wuppke auf Nachfrage ähnlich beantworten wie oben, aber man tritt Wuppke sicher nicht zu nah, wenn man durchblicken ließe, dass der Chinese ihn für Zwecke des Rechnungsbetrugs in Dienst nahm, indem er ihn beispielsweise für Coaching-Aufträge buchte.

»Kannst du gut reden«, hatte er eines Abends gesagt, nachdem Wuppke einige der Sorgerechts- und Pflegschaftsstreitigkeiten für den Chinesen hingebogen hatte, die anfallen, wenn man ein Kind am Hals hat, das man als mittelständischer Unternehmer ohne Eintrag im Handelsregister nicht eigenhändig großziehen will.

Der Chinese schien berufliche Probleme zu haben. Wuppke hatte zwischen den Zeilen verstanden, dass er mit seinen »Jungs«, wie er seine Jungs nannte, in letzter Zeit vermehrt defizitäre Sprechakte durchgeführt hatte, die die Teameffizienz negativ zu beeinflussen begannen. Der Chinese wollte das dringend geändert haben, und da er unbeirrbar von Wuppkes rhetorischen und empathischen Fähigkeiten überzeugt war, verstieg er sich zu der Idee, Wuppke solle eine der monatlichen Geschäftsbesprechungen supervidieren. Diese fanden, wie aus einschlägigen Filmen bekannt, entweder in einer leeren Fabriketage oder dem Nebenzimmer einer Großküche statt, wobei diesmal die Fabriketage dran war.

Auf ein paar unmotiviert drapierten Stühlen, die vage einen Kreis beschrieben, hatten sich etwa zwei Hände voll arabischdeutscher Adoleszenten versammelt bzw. gelümmelt, die derartig mit Wachstumshormonen vollgepumpt waren, dass man sie hätte auf Flaschen ziehen können. Auch Salid war dabei gewesen und hatte Wuppke, wie alle anderen, misstrauisch beäugt. Alle rauchten, die Luft war dementsprechend zum Schneiden.

Wuppke fragte nicht, wie es bei einer regulären Organisationsberatung üblich gewesen wäre, in welchen Geschäften der Chinese mit den umsitzenden Herren verbunden war, weil sich manche Fragen von selbst beantworten. Halb herablassend und zur anderen Hälfte spöttisch wurde er als des Chinesen neuer Schoßhund begrüßt und dann auch weiterhin so behandelt, bis der Chinese den jungen Männern auf Arabisch (mit deutschen Untertiteln) auseinandersetzte, dass Wuppke ein wichtiger Mann sei und so etwas wie eine Gehirnwäsche an ihnen vornehmen werde, die ihre Benutzerfreundlichkeit beträchtlich verbessern würde. Das Plenum lachte herzlich, bis Wuppke seinen Power Pointer anwarf und begann, Begriffe wie »Gefühle«, »Wertschätzung« und »Ich-Botschaften« an die mit Tags über und über beschmierte Wand zu projizieren.

»Bist du schwul oder was los, Alter?«, wollte darauf Salid wissen. Wuppke, der natürlich wusste, dass es zum männlichen Dominanzverhalten wesentlich dazugehört, andere Männer dominieren zu wollen, verneinte die Frage sachlich und legte weiterhin dar, dass zu einer harmonischen Unternehmenskultur unbedingt allseitige Fehlerfreundlichkeit gehöre, nur so könne ein Klima leistungsorientierter Angstfreiheit entstehen.

»Ey Mann, was laberst du eigentlich, Alter? Willst du sagen, ich hab Fehler gemacht? Pass auf, dass du kein Fehler machst, du Arsch!«

Der Chinese, dem nicht entging, dass Wuppkes Supervisionsangebot schon früh auf Skepsis stieß, lächelte nachsichtig. »Sind wie junge Stiere«, raunte er Wuppke aufmunternd zu. »Müssen Eier bissken schleifen in Sand.«

Wuppke hatte sich in tristen Zeiten mal eine Liste gemacht, was er vor seinem Tod unbedingt noch alles erledigt haben wollte, und erwischte sich jetzt dabei, wie er die Liste drastisch zusammenstrich. Einer der Jungs wirbelte bereits sein Butterflymesser zwischen den Fingern, als sei es ein schöner bunter, nun ja: Schmetterling.

»Marshall Rosenbergs Ansatz der gewaltfreien Kommunikation zielt darauf ab«, stieß Wuppke mit bemüht fester Stimme hervor, »die Kommunikation von ihren negativen Wertungen zu befreien und diese in Wünsche zu übersetzen. Denn die Welt, die wir durch unsere Sprache erzeugen, ist die Welt, in der wir leben müssen. Ich zum Beispiel«, fügte er so gut wie unhörbar hinzu, »freue mich darüber, dass Ihr mir im Moment so aufmerksam zugewandt seid, und möchte euch einladen, mit mir zusammen einige Übungen zur Gewaltfreiheit zu versuchen.«

Der Chinese nickte zustimmend, klatschte in die Hände und hielt mit unbewegter Miene einen kleinen arabischen Monolog (ohne Untertitel), in dessen Anschluss sämtliche Teilnehmer des Workshops wie auf einen Zauberspruch hin ihre Zigaretten löschten, sich gerade auf ihre Stühle setzten und unter Wuppkes Anleitung höchst beflissen die Vorzüge von Rosenbergs Giraffensprache anhand lebensnaher Beispiele durchspielten. Nach fünfundvierzig Minuten war einer der Jungs – es war ausgerechnet Salid – so weit, dass er seinen Vernichtungswunsch in Richtung eines Marktkonkurrenten überaus konstruktiv reframen konnte, indem er im Rollenspiel erklärte: »Hab ich gesehen, hast du schon wieder neue Sonderlackierung, und weissu, bin ich Stück weit frustriert, weil hab ich auch viel Arbeit und alles, aber hey, ist gute Anreiz für mich jetzt, danke Kumpel.«

Wuppke hielt das angesichts der Startschwierigkeiten für ein beachtliches Ergebnis. So beachtlich, dass er hinterher den Chinesen fragte, was er da eigentlich zu seinen Jungs gesagt hatte.

»Siehst du«, sagte der Chinese und fasste Wuppke herzlich bei den Schultern, »hast du gute Job gemacht, bin ich stolz auf dich, mein Lieber.«

»Ali, ich bin nicht blöd, du hast denen doch gedroht. Das ist nicht der Sinn …«

»Hab ich nicht gedroht, mein Lieber. Manche Sache meine Jungs versteh besser in Muttersprach. Hab ich gesagt, kann auch gewaltfrei Sprach lernen in Schiffcontainer. Schön ruhig. Und kann sich gut konzentrier in Afrika, mit Giraffe und alles.«

Immerhin muss man sagen, dass Wuppke den Chinesen halblaut gefragt hatte, wie er die Gefälligkeiten mit der Finanzbehörde verrechnen solle, aber die Frage war dann im Sande verlaufen, sodass Wuppke rasch aufgehört hatte, sie zu stellen.

Jetzt sind wir ziemlich weit von der Haupthandlung abgekommen. Die Haupthandlung spielt ja da, wo der Chinese seine Goldtroddeln ordnete und sagte, indem er sich eine neue Zigarette anzündete: »Weißt du, Carsten, will ich Land kaufen.«

»Was willst du kaufen?«

»Land.«

»Wie jetzt? Deutschland?«

»Ahahaha, Carsten, alte Carsten«, sagte der Chinese liebenswürdig und paffte an seiner Zigarette. »Nein Mann, Ernst, musst du was regeln für mich, mein Lieber. War ich im Solt letztens.«

»Wo warst du?«

»Im Solt. Hast du was mit Ohren, oder was los?«

Wuppke sah fragend den Mann an, der inzwischen über seine Laute hinweg auf den Fernseher im Verkaufsraum blickte. Der Mann sagte, ohne Wuppke anzusehen: »Auf Sylt.«

»Was hab ich denn gesagt?«, fragte der Chinese in Richtung Tür und machte eine »Was hab ich denn gesagt?«-Geste.

»Was machst du auf Sylt?«, fragte Wuppke.

»Hab ich Urlaub gemacht, mein Lieber. Schön Insel. Viel Wind.«

Wuppke hielt es für ratsam, das erst mal nicht zu kommentieren, beim Chinesen wusste man nie so genau. Dann überlegte er sich’s aber anders und sagte: »Und jetzt willst du Sylt kaufen.«

»Ahahahaha. Wenn du noch mal unter mich brichst, Rezul bricht dir Beine.«

Der Mann an der Tür sah Wuppke an und verdrehte die Augen so, dass für einen Augenblick nur das Weiße zu sehen war, dann sah er wieder zum Fernseher.

»Pass auf«, sagte der Chinese, »will ich Land kaufen. Für Häuser bauen, wie Monopoly. Typ sag, geht alle klar, aber jetzt meldet sich nicht mehr. Will mich verarschen, oder weiß ich nicht. Ich geh rauf und runter, was da los, frag mich in mein Kopf, verstehst du, mein Lieber?«

Wuppke verstand kein Wort.

»Jetzt du musst hinfahr und sprech mit ihm. Hat geschwör mit Ehre.«

»Habt ihr einen Kaufvertrag?«, fragte Wuppke.

»Was Vertrag«, fragte der Chinese verächtlich zurück.

»Einen Vertrag.« Wuppke tat so, als schriebe er etwas auf.

Der Chinese schnaubte und winkte ab. »War spät Nacht«, sagte er.

»Und wie soll ich den Typ dazu bringen, dass er dir Sylt verkauft?«

»NICHT SOLT«, schrie der Chinese explosionsartig und stampfte mit dem Fuß auf, seine Augen traten hervor wie bei jemandem, der im ZDF hundert Wärmflaschen aufpustet. Überhaupt zeigte der Chinese jetzt kurz, warum er gefürchtet und nicht belächelt wurde. »Muss ich dich nicht erinner Sache mit Salid. Hast du Motorrad weggenommen. Motorrad gehört mir, weißt du, mein Lieber.«

»Was heißt hier weggenommen«, sagte Wuppke bockig. »Ich hab’s ihm nicht weggenommen. Höchstens ausgeliehen.«

»Ist Gleiche«, sagte der Chinese streng.

»Das stimmt nicht. Wegnehmen heißt klauen. Ausleihen heißt ausleihen.«

Daraufhin entspann sich sinngemäß folgender rechtstheoretischer Dialog zwischen den beiden:

CHINESE: Wegnahme bedeutet den Bruch fremden und die Begründung neuen Besitzes im Sinne der Ausübung von Gewahrsam.

WUPPKE: Selbst wenn ich kurzzeitig Gewahrsam über die Sache ausgeübt haben mag, wollte ich zu keinem Zeitpunkt deren Besitzer sein. Also muss man hier doch eher von Besitzdienerschaft sprechen.

CHINESE: Besitz liegt immer dann vor, wenn ein Rechtssubjekt über eine Sache willentlich getragene Sachherrschaft begründet, unabhängig davon, ob der Gegenstand sein Eigentum ist oder nicht. Also beispielsweise und ausdrücklich auch dann, wenn der Gegenstand gestohlen ist.

WUPPKE: Zur Begründung der tatsächlichen Sachherrschaft bedarf es aber doch einer engen räumlichen Beziehung zwischen Person und Sache.

CHINESE: Nicht unbedingt. Im Sinne des gelockerten Gewahrsams besteht Gewahrsam auch an einer etwa im öffentlichen Straßenverkehr abgestellten Sache. Der Bruch und die Begründung eines neuen, vom Eigentümer nicht gebilligten Gewahrsams bleibt somit als Tatbestand erhalten.

WUPPKE: Aber es besteht doch ein wesentliches Hindernis zur Begründung und Aufrechterhaltung neuen Gewahrsams (an dem Motorrad) (im Sinne eines Diebstahls) darin, dass die Sache nicht in einen räumlich umgrenzten Herrschaftsbereich verbracht, sondern außerhalb jeglicher Gewahrsamssphäre abgestellt wurde.

Der Chinese stellte sich angesichts dieser gedanklich nicht unscharfen Einlassungen Wuppkes stur und frischte sein Angebot auf, ihm die Beine zu brechen.

»Okay«, sagte Wuppke. »Von was für einem Typ da auf Sylt sprichst du denn eigentlich?«