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Inhalt

[Cover]

Titel

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

Autorenporträt

Kurzbeschreibung

Impressum

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Das Meer in meinem Zimmer

1.

»Guten Tag, Jolanda Jellerich mein Name, ist mein Vater heute Morgen hier gestorben?

Nein, so kann ich es nicht sagen. Den Wagen anlassen, vorsichtig von der Fähre abfahren, über diese holprige Schwelle zwischen Meer und Land, und noch mal nachdenken. Die Möwen schreien, als wüssten sie die Antwort. Aber sie sprechen zu undeutlich. Ich verstehe kein Wort. Strahlend weiß setzen sie sich vom hellblauen Meereshimmel ab. Als hätte der Fremdenverkehrsverein sie bestellt.

Besuchen Sie uns bald wieder auf der Insel der Glückseligen, steht auf dem Schild am Fähranleger.

Guten Tag, mein Vater ist heute Morgen hier auf der Station gestorben, und jetzt soll ich für meine Mutter nachfragen, ob er wirklich tot ist. Sein Name ist Pax Jellerich.

So geht es auch nicht. Sogar der grüne Wunderbaum am Spiegel schüttelt missbilligend die Zweige. Oder aber er zeigt so seine Erschütterung darüber, dass sein Besitzer nicht mehr wiederkommen wird. Armer Wunderbaum, jahrelang hast du angestunken gegen seinen Pfeifenrauch, und jetzt bist du arbeitslos. Obwohl die Mischung aus Wunderbaumgeruch und Pfeifenrauch dieses Auto wahrscheinlich nie verlassen wird.

Hoffentlich nie verlassen wird.

Habe ich das gesagt? Oder wer? Der Wunderbaum? Da hängt er und dreht sich und tut so, als wäre nichts. Wie wild dreht er sich, immer um die eigene Achse. Und verbreitet dabei seinen widerlichen Wunderbaumgeruch.

Frühling steht da unten auf ihm drauf.

Aber gegen den echten Frühling da draußen kommst du nicht an, Wunderbaum. Der Frühling wuchert durch die Windschutzscheibe, er strotzt und protzt rum, mit seinen tiefgrünen Deichen, seinen grellgrünen Bäumen und seinen zartgrünen Gräsern.

Hupen.

Quietschen.

Im Rückspiegel hebt ein Mann die Hand, fährt den Zeigefinger aus, führt die Hand zum Kopf und tippt sich an die Stirn. So als würde er das extra langsam machen, um mir das Einen-Vogel-zeigen beizubringen, so als würde ich das zum ersten Mal sehen. Aber da muss ich Sie enttäuschen, mein Herr: In den elf Monaten, seit ich Auto fahren darf, wurden mir so viele Vögel gezeigt wie in den achtzehn Jahren davor zusammen nicht.

Guten Tag, mein Name ist Jolanda Jellerich. Mein Vater ist heute Morgen gestorben und jetzt möchte ich seine Sachen abholen.

Bingo. Genauso werde ich es sagen. Und wenn die Schwester dann antwortet: »Wieso denn gestorben? Der hängt doch auf Zimmer 342 quicklebendig an seinem Tropf! Oder so lebendig, wie er eben gerade noch ist, Sie wissen ja«, dann kann ich zurück nach Hause fahren und Constanze sagen, dass Pax lebt. Constanze, die auf dem Sofa liegt und es nicht glaubt. Obwohl sie heute Morgen doch selbst den Anruf aus dem Krankenhaus entgegengenommen hat, obwohl sie doch selbst gesagt hat, dass Pax um drei Uhr dreiundzwanzig gestorben ist. Leise und mit fester Stimme hat sie gesprochen, ruhig.

Und dann, eine Viertelstunde später: »Jolanda, ich glaube, ich hab da am Telefon was falsch verstanden. Ich glaube, er ist gar nicht tot. Kannst du anrufen und nachfragen, ob er wirklich gestorben ist?« Aus der Starre aufzuwachen, in die mich die Nachricht versetzt hatte, war schwer. Ich habe meine Schädeldecke angehoben, in meinen Kopf gefasst und mein Gehirn in Constanzes Richtung gedreht. Eigentlich sah sie nicht verrückt aus, nur sehr blass, aber auch sehr ruhig. Und kurz, sehr kurz war da der Gedanke, dass es vielleicht keine komplett verrückte Idee ist, dass sie vielleicht wirklich was falsch verstanden hat, dass ich Pax in seinem Bett finden würde, am Tropf und an Geräten. Am Leben. »Am besten fährst du direkt ins Krankenhaus, Jolanda, das ist am einfachsten.« Constanze sprach wie immer mit der Stimme der Vernunft. »Wenn du gleich losfährst, bekommst du noch die nächste Fähre.«

Ich hätte sagen können: »Aber du hast doch selbst mit dem Krankenhaus telefoniert!« Ich hätte sagen können: »Wie soll ich denn da fragen, ob er wirklich tot ist? Wie stellst du dir das vor, Mama?«

Vor drei Uhr dreiundzwanzig wären das sinnvolle Sätze gewesen.

Ich habe meinen Mantel angezogen, den weißen mit den roten Punkten, den fröhlichsten, den ich besitze, bin ins Auto gestiegen und losgefahren.

Einparken, Motor aus, Schlüssel abziehen.

Aussteigen.

Aussteigen ist schwer. Am besten, ich springe mit einem Ruck hinaus, sodass ich nicht zögern und einfach sitzen bleiben kann. Der Wunderbaum soll mitkommen. Er ist zu groß für meine Manteltasche, die Spitze schaut heraus. Hoffentlich verliere ich ihn nicht unterwegs.

Tür aufreißen, raus, Tür zuschlagen.

Geschafft.

Etwas hält mich zurück.

Mein Mantel steckt in der Tür fest. Komm schon!

Ratsch.

Ich bin frei.

Frei bist du noch lange nicht, sag mir erst, wie alt du bist. Eins, zwei … neunzehn.

Pax ist dreiundfünfzig.

Pax war dreiundfünfzig.

Nein: Pax ist dreiundfünfzig Jahre alt geworden.

Über den Parkplatz, an den Blumenrabatten vorbei und durch die gläserne Drehtür.

Mir kommt nichts, rein gar nichts bekannt vor.

Das richtige Stockwerk, den richtigen Flur, das richtige Zimmer: Das würde ich doch alles im Schlaf finden. Vielleicht bin ich zu wach. Ist das der richtige Gummibaum? Ist das der richtige Getränkeautomat? Nein, aus der Nähe sehen sie genauso fremd aus wie der graue Gummiboden und die roten Türrahmen. Oder genauso bekannt. So bekannt, dass es nichts mehr zu erkennen gibt.

Das kalte Nasse am Rücken ist Schweiß. Hoffentlich sieht man das nicht.

»… helfen?«

Ein grün gekleideter Mann. Grün wie der Gummibaum und der Wunderbaum und der verdammte Frühling. Er schaut mich müde über seinen Mundschutz hinweg an.

… weil mein Schatz ein Jägermeister ist.

»… in Ordnung bei Ihnen?«

… da-ru-hum lieb ich alles, was so grün ist …

Der soll meine Schulter loslassen.

… weil mein Schatz ein …

»… Sie Hilfe?«

Die Hälfte vom dem, was er sagt, bleibt in seinem weißen Mundschutz hängen. Jetzt nimmt er den Mundschutz ab und wirft ihn mitsamt den Wortresten in den Müll.

Schade drum.

Ich muss wohl auch was sagen.

Aber was.

Und wenn ich mir den Mundschutz aus dem Mülleimer fische? Wenn ich ihn auffalte und … kann-ich-Ihnen-ist-alles-brauchen?

»Wie bitte? Sind Sie orientiert?«

Der erkennt seine eigenen Wortreste nicht. Den Mundschutz zurück in den Müll. »Ja, total orientiert. Vollkommen orientiert. Orientierter als ich geht gar nicht.«

… grün, grün, grün …

Er lässt meine Schulter nicht los. Seine Armbanduhr tickt in mein Ohr.

Was sagen. Was sagen. Einen Satz, der ihn erlöst.

»Ich brauche keine Hilfe.«

Endlich lässt er los. Endlich geht er weiter. Rennt weiter. Hier rennen immer alle. So, dass ihre Gummischuhe auf dem Gummiboden quietschen. Am Quietschen müssen sie sich messen lassen. Wer nicht quietscht, ist zu langsam.

Ich muss mich setzen, nur einen Moment. Da zwischen Gummibaum und Getränkeautomat: ein Plastikstuhl. Schmutzig weiß. Wie auf der Terrasse vor dem Eiscafé Winter. Dort waren wir an dem Tag, als Pax das erste Mal mit seiner weichen Babyglatze aus dem Krankenhaus gekommen ist. Obwohl ich schon so oft auf den weißen Stühlen vor dem Eiscafé gesessen hatte, schien es mir damals, als stünden da plötzlich die Plastikstühle aus dem Krankenhaus. Natürlich war das nicht so. Aber die weißen Plastikstühle hatten für uns ihre Unschuld verloren. Oder für mich. Ich weiß nicht, was die anderen damals gedacht haben. Wir diskutierten die Eiskarte, als hinge unser Leben davon ab. Pax hat schließlich eine Eisschokolade bestellt und dazu ein Spaghettieis. Und als Nachtisch eine Kugel Waldmeister.

… grün, grün, grün …

Der Automat brummt mir warme Luft ins Gesicht.

… alle meine …

Er pustet mir das verdammte Lied aus dem Kopf. Danke, lieber Automat. Gefällt dir das, wenn ich deine Metallhaut streichele? Sie vibriert unter meiner Handfläche.

»Hallo, Jolanda!«

Die Rollstuhl- und Rollatorkolonne. Auf dem Weg zur Dachterrasse.

»Hallo, Jolanda, guten Morgen!«

Wie heißt der mit dem blauen Bademantel und den Adiletten, der da winkt? In dem Beutel an seinem Gestell ist Kochsalzlösung. Ich mag die Leute mit den Kochsalzlösungsbeuteln. Das ist so viel appetitlicher als Blutplasma.

Die Hand von der Automatenhaut lösen.

Und winken.

Und winken.

Und winken!

O nein, er kommt zu mir. Das Gestell mit dem Tropfbeutel schiebt er vor sich her wie ein ausgelagertes Körperteil. Er lächelt. »Sehen wir uns gleich? Kommt ihr hoch? Oder habt ihr wieder Porträtsession? Bin ich heute endlich mal dran? Hast du deinen Block gar nicht dabei?«

So viele Fragen.

An seiner Bademanteltasche zeichnen sich die Umrisse einer Zigarettenschachtel ab. Die geht genau da rein. Als würden Bademanteltaschen extra passend für Zigarettenschachteln produziert. Oder umgekehrt.

»Na, wir gehen jetzt jedenfalls hoch, Lungenbrötchen frühstücken!«

Mit der Hand, aus der keine Kanüle ragt, klopft er auf die Bademanteltasche.

Er hat recht, ich wollte das immer mal zeichnen: Wie sie alle auf der Dachterrasse rauchen, in Jogginghosen und Bademänteln. Wie sie sich Feuer geben, wie sie abaschen, inhalieren, Rauchringe blasen, Kippen ausdrücken. Die wenigen Handlungen, die ihnen aus der Nicht-Krankenhaus-Welt geblieben sind, die draußen genauso vollzogen werden wie hier drin. Die Raucher zelebrieren diese Gesten, sie dehnen sie aus, sie dienen sich gegenseitig als Zeugen für die Alltäglichkeit ihrer Bewegungen. Von der Dachterrasse sieht man das Wattenmeer, aber die Raucher wenden ihm immer den Rücken zu.

Der Kochsalzlösungsmann geht weiter und winkt. Er muss sich beeilen. Er verliert den Anschluss an die Rollatorkolonne. Sie sammelt sich schon im Fahrstuhl.

Nur Pax hat die Raucher manchmal dazu bekommen, sich zur Seeseite zu drehen. Wenn er mit seiner Pfeife auf das Meer gezeigt hat. Oft war da gar kein Meer zu sehen, sondern nur eine schwarze Schlickwüste. »Da draußen im Sand liegt das Wrack der Jolande. Bald kommt es hoch. Bald! Und ich werde es finden.« Der Pfeifenrauch ist hinausgezogen, als ob er den Blicken den Weg weisen wollte. Die Raucher haben Pax nicht für verrückt gehalten. Ich konnte sehen, wie seine Begeisterung auf sie übersprang. Es hätte mich nicht gewundert, wenn die Rollatorkolonne eines Tages nicht auf die Dachterrasse gezogen wäre, sondern ins Watt, angeführt von Pax, einem Rattenfänger, der statt einer Flöte eine Pfeife im Mund hat.

Aber ins Watt ist er am Ende dann alleine gegangen.

Der Kochsalzlösungsmann hebt sein Gestell mit dem Tropf über die Schwelle in den Fahrstuhl.

»Nein, wir kommen heute nicht, mein Vater ist um drei Uhr dreiundzwanzig gestorben!«

Ich sollte nicht so schreien.

Der Mann hört mich nicht mehr. Die Türen schließen sich.

Ich werde jetzt zurück nach Hause fahren und einfach behaupten, dass ich gefragt habe und dass Pax wirklich tot ist. Das hätte ich von vornherein machen sollen, keine Ahnung, warum ich überhaupt hierhergefahren bin. Irgendwie muss mir entgangen sein, dass Constanze vorübergehend durchgedreht ist. Hoffentlich vorübergehend.

Der Automat vibriert noch stärker, dann rumpelt es. Eine Frau holt eine grüne Flasche aus dem Ausgabefach.

Bluna.

Bluna gibt es nur in dem Automaten ein Stockwerk unter der Station, auf der Pax liegt. Da bin ich ganz sicher, schließlich habe ich ihm bei jedem Besuch eine Flasche Bluna mitgebracht. Obwohl ich gar nicht weiß, ob er Bluna besonders mag. Aber ich wollte, dass er lacht und sagt: Sind wir nicht alle ein bisschen Bluna?

Der Automat ist frei.

Plopp.

Der Plastikstuhl hat sich dann doch noch von meinem Hintern trennen können, danke, lieber Plastikstuhl, für dein Verständnis. Bluna ist die Null Fünf. Für zwei Euro bekommt man erst ein Rumpeln und dann eine grüne Flasche.

Das Rumpeln des Automaten mit dem Klang einer Münze bezahlen: Das ist etwas, das Pax sagen würde.

Und wenn Constanze recht hat? Wenn es doch ein Missverständnis war mit dem Sterben?

Also jetzt treppauf.

Es fühlt sich nur so an, als würde man keine Luft bekommen.

Die rote Drei. Das ist sein Stockwerk.

Und sein Flur: 3.4.

Und sein Zimmer: 3.4.2.

Und sein Bett: 3.4.2.1.

Die Tür ist zu. Meine linke Hand hält in der Manteltasche den Wunderbaum fest, meine rechte Hand hält die Bluna. Um zu klopfen, muss eine Hand loslassen. Nur welche?

Die Tür geht auf.

»Frau Jellerich, hallo!«

Die Schwester zieht die Tür schnell wieder hinter sich zu und stellt sich davor. Wie ein Kind, das da drin was ausgefressen hat. Sie legt ihre Hand auf meine Schulter, sehr sanft. So sanft, dass ich die Berührung nur spüren kann, weil ich weiß, dass ihre Hand da liegt. So sanft, als könnte man meiner Schulter nicht trauen. Als wäre sie nicht solide genug, um eine Hand darauf abzulegen.

»Guten Tag, mein Name ist Jolanda Jellerich. Mein Vater …«

Ist etwas zu hören? Bewegen sich meine Lippen? Die Krankenschwester nickt und verschwindet in den Glaskasten, in dem man sich anmelden muss, wenn man jemanden besuchen will. Vielleicht geht das Rauschen in den Ohren weg, wenn ich die Backen aufblase und meine Trommelfelle unter Druck setze.

Sie kommt wieder heraus, mit Pax’ kleinem karierten Rollkoffer.

»Das haben wir noch für Sie.«

Wohin jetzt mit der Luft? Nach innen. Nach innen ablassen. Und schlucken.

Schlucken ist schwer.

Den Koffer stellt sie vor meine Füße. Ihre rechte Hand hält sie flach ausgestreckt, so als würde sie ein Tablett darauf balancieren. Aber da ist kein Tablett. Da ist: rechts und links ein schief gebogener schwarzer Bügel, zwei verschmierte dicke Gläser, ein silberfarbener Steg, grüner Belag an den Stellen, an denen die Brille auf Pax’ Nase gesessen hat.

Sie schiebt mir ihre Hand noch weiter entgegen.

Nicht zurückweichen.

Mit ihrer freien Hand zeigt sie auf die Brille. Als würde sie mir seine Nase hinhalten oder eines seiner Ohren oder einen Augapfel, zur Erinnerung – und dann: mein herzliches Beileid. Auf Wiedersehen.

Beileid ist unnötig.

Vielleicht habe ich das gesagt.

»Wollen Sie ihn noch mal sehen?«

Was denn jetzt: Auf Wiedersehen oder noch mal sehen?

»Wir haben ihn schon zum Abschiednehmen hergerichtet und ins Abschiedszimmer verlegt. Sein Bettnachbar ist präfinal.« Sie zeigt auf die Zimmertür.

Präfinal.

»Ist mein Vater postfinal?«

»Leider, ja. Ex um drei Uhr dreiundzwanzig.«

Die Bluna auf den Boden, die Brille in die Hand. Vorsichtig, den Steg zwischen Daumen und Zeigefinger. Einer der Bügel klappt aus.

»Wenn Sie Abschied nehmen wollen, führe ich Sie zu ihm.«

Ich habe Pax versprochen, ihn noch einmal zu zeichnen, wenn er gestorben ist.

In der Manteltasche quetscht meine linke Hand den Wunderbaum. Die Verkrampfung lösen, Finger für Finger.

Den Griff des Koffers fassen.

Und rennen.

2.

Der Tag, an dem wir erfahren haben, dass Pax Leukämie hat: Lillis Einschulung. Obwohl es eine Grundschule auf der Insel gab, hatte Constanze sie auf dem Festland angemeldet. Wegen des reformpädagogischen Ansatzes der Schule dort.

»Heute beginnt der Ernst des Lebens«, sagte bei der Einschulungsfeier der Schuldirektor. Alle Eltern lachten. Und alle Großeltern, Tanten und Onkel ebenfalls. Wir lachten auch, obwohl es mir im Nachhinein so vorkommt, als hätte der Direktor nur zu uns gesprochen: »Heute beginnt der Ernst des Lebens.« Aber das wussten wir in diesem Moment noch nicht. Lilli hatte einen Platz in unserer Reihe am Rand. Weil sie ihren Ranzen nicht abnehmen wollte, saß sie ganz vorne auf der Stuhlkante. Die Hände hatte sie auf den Knien abgelegt, die Fußspitzen berührten den Boden. Sie saß da, als wäre der Stuhl ein Startblock. Aber sie rannte nicht los, als der Direktor schließlich »Lilli Jellerich« sagte, sondern ging langsam nach vorne und nahm ihre Schultüte entgegen, als wäre sie ein Universitätsdiplom. Dann stand Lilli mit den anderen Erstklässlern auf der Bühne. Alle hielten ihre bunt bemalten Papierschultüten fest. Die Tüten hatten die dritten Klassen gebastelt und sie mit Äpfeln, Nüssen und je zwei Buntstiften aus unbehandeltem Holz gefüllt. Das wusste ich aus dem Brief, den wir ein paar Wochen vorher von der Schule bekommen hatten und der seitdem bei uns am Kühlschrank hing. Bitte kaufen Sie keine individuellen Schultüten stand darin, denn wir versuchen, die soziale Heterogenität unserer SchülerInnenschaft in der Schule nicht sichtbar werden zu lassen. Für eine fröhliche Gestaltung und gesunde Füllung der Schultüte wird gesorgt.

Als Lilli schließlich mit ihrer Klasse von der Bühne und aus der Aula ging, sah ich, wie Constanze Tränen in die Augen stiegen. Pax nahm ihre Hand und Constanze ließ es zu. Dieses Bild, wie meine Eltern sich an den Händen hielten, habe ich später oft versucht zu zeichnen. Leider habe ich es nie richtig hinbekommen. Immer geriet mir Pax zu groß.

Wir holten Lilli in ihrer Klasse ab. Die Tische waren zu einem Hufeisen gestellt, an den Fenstern hingen bunte Girlanden. Am liebsten hätte ich mich sofort auf einen der kleinen Stühle gesetzt und das ABC gelernt. Obwohl ich es besser wusste, kam es mir in diesem Moment so vor, als würden kleine Möbel auch kleine Sorgen bedeuten.

Lilli kam zu uns. Sie hatte ein weißes Pappschild dabei, auf dem zwischen den blassen Umrissen von Luftballons und Blumen in Großbuchstaben LILLI stand.

»Schaut mal, mein Namensschild!«

Pax strich Lilli über den Kopf. »Das ist aber ein schönes Schild!«

Lilli nickte. »Bloß den Nachnamen haben sie blöderweise vergessen, den müssen wir gleich noch dazuschreiben.«

Lillis Lehrerin stellte sich zu uns und legte ihr eine Hand auf den Kopf. »Das haben wir nicht vergessen, das ist ganz richtig so, wir sagen hier ja schließlich Lilli zu dir und nicht Frau Jellerich, oder?«

Ich wartete darauf, dass Lilli so etwas antworten würde wie »ich würde eigentlich Frau Jellerich bevorzugen«, aber da redete die Lehrerin schon weiter. »Die anderen Kinder haben ihre Schilder bunt ausgemalt. Lilli meinte, das wäre Kinderkram

»Da hat sie recht«, sagte Pax, »die Form frei zu finden, schult das Auge. Nur so kann man den Zusammenhang zwischen Sehen und Zeichnen wirklich begreifen.«

»Ich muss mich mal setzen«, murmelte Constanze und hockte sich auf einen der winzigen Stühle – gerade rechtzeitig, um unter dem gelächelten Seufzen der Lehrerin wegzutauchen, das so nur Pax und mich traf. Ich bewunderte, was die Lehrerin in der Lage war, mit nur einem Lächeln und einem Seufzen auszudrücken, nämlich dass Pax zu der Sorte zugleich leistungsmäßig überambitionierter und pädagogisch unterbelichteter Erziehungsberechtigter gehörte, die leider unbelehrbar war.

»Auf Wiedersehen«, sagte die Lehrerin.

Vor der Schule liefen die Kinder zu den Autos ihrer Eltern und stellten sich an die Kofferräume. Während ich noch überlegte, um welches reformpädagogische Ritual es sich dabei handeln könnte, kamen die Eltern an den Autos an, öffneten die Kofferräume und holten riesige bunt glänzende Schultüten heraus, die sie ihren Kindern reichten. Die Kinder gaben ihnen dafür ihre umwelt- und sozialverträglichen Papierschultüten, die in den Kofferräumen verstaut wurden. Einen Moment später fanden wir uns in einer Horde wieder, die sich gegenseitig »Smarties, Snickers« und »Mario Brothers!« zurief. Lilli stand still in dem Gewühl und umklammerte ihre Papiertüte.

»Snickers?«, fragte ein Junge und hielt ihr seine grün glitzernde Schultüte hin.

Lilli sah ihn wütend an. »Das ist verboten!«, sagte sie, »wegen der sozialen Hetogät.«

Der Junge zeigte ihr einen Vogel.

Pax strich Lilli über den Kopf. »Sei nicht traurig, wir kaufen dir gleich die größte und glänzendste Schultüte, die es gibt, mit extra vielen Süßigkeiten drin.«

Lilli zog ihren Kopf unter seiner Hand weg. »Das ist verboten! Verboten!« Sie haute mit ihrer Papierschultüte auf Pax’ Beine ein.

Er sackte zusammen.

Das Wort Leukämie fiel nur ein einziges Mal: Als Constanze nach Stunden aus der Notaufnahme kam, in die Pax mit dem Krankenwagen gebracht worden war. »Eine Form von Blutkrebs, vermutlich Leukämie«, sagte sie.

Lilli hielt ihre Schultüte fest. Tränen liefen über ihre Wangen und tropften auf das Papier, wo sie die aufgemalten Blumen und Schmetterlinge in gelbe und rote Flecken auflösten.