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Inhalt

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Titel

Widmung

Vor der Abreise

Überfahrt und erste Tage auf der Insel

Vierter und fünfter Tag auf der Insel

Sechster Tag

Siebter und achter Tag

Neunter Tag

Zehnter Tag

Elfter Tag

Zwölfter Tag

Dreizehnter Tag

Vierzehnter Tag

Fünfzehnter bis siebzehnter Tag

Siebzehnte Nacht

Achtzehnter Tag

Neunzehnter Tag

Zwanzigster Tag

Einundzwanzigster Tag

Zweiundzwanzigster Tag

Dreiundzwanzigster Tag

Vierundzwanzigster und fünfundzwanzigster Tag

Fünfundzwanzigster bis achtundzwanzigster Tag

Nur noch drei Tage, noch zwei Tage

Neunundzwanzigster und letzter Tag

Dreißigster Tag, wieder zurück

Ein halbes Jahr später, Nachschrift

Autorenporträt

Über das Buch

Impressum

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Ich habe keinen Kontakt mehr zu Sarah, seit sie nach unserem gemeinsamen Inselaufenthalt im September 2013 über Nacht verschwunden ist. Ich weiß nicht einmal, ob sie nach Israel zurückgekehrt ist. Ich habe nur ihr Tagebuch, das sie zurückgelassen hat. Noch wage ich nicht, die letzten Eintragungen zu lesen.

Das menschliche Gleichgewicht

Vor der Abreise

Wahrscheinlich ist der Mensch von Natur aus ungeeignet für die Natur. Findet er nämlich ungestörte Natur vor, ist ihm das Leben in der ungestörten Natur zu mühsam, also zerstört er sie, um sie zu verbessern. Hat er sie verbessert, also zerstört, sehnt er sich nach unzerstörter Natur. Das Gleiche gilt für unsere Gefühle. Wir sind unfähig, damit umzugehen. Passiert nichts, ist uns langweilig, passiert etwas, sind wir gleich überfordert. Nehmen wir zum Beispiel die über Sechzigjährigen.

Sie sind in der Regel froh, wenn die Kinder aus dem Haus sind, kein unangemeldeter Besuch erscheint und sie ihre Ruhe haben. Einerseits. Andererseits beklagen sie sich schnell über Langeweile. Sie wollen etwas erleben. Erleben sie etwas, ist es ihnen aber gleich zu anstrengend. Manche Sechzigjährige täuschen die unter Sechzigjährigen, indem sie mit einer Aktentasche unter dem Arm oder, wenn es sich um fortschrittliche und intelligente Sechzigjährige handelt, mit einem Rucksack auf dem Rücken durch die Stadt hetzen, was den Eindruck vermitteln soll, dass sie viel zu erledigen haben. Obwohl sie meistens nicht mehr arbeiten oder zumindest in Altersteilzeit gegangen sind, haben sie es ständig eilig und drängen sich grundsätzlich überall vor: beim Arzt, in der Straßenbahn, im Supermarkt. Sollen sie sich aber einmal an der Supermarktkasse beeilen, weil sich hinter ihnen bereits eine Schlange gebildet hat, ermahnen sie die hinter ihnen Wartenden zu mehr Gelassenheit im Alltag. Gelassenheit ist es aber gerade, was ihnen selbst am meisten fehlt. Sie jammern unentwegt über alles Mögliche: über Hüftgelenkschmerzen, Rückenschmerzen, Rheuma oder Gicht. Haben sie weder Kalkschultern, Arthritis, Arthrose, Arteriosklerose oder Osteoporose noch grauen oder grünen Star, so fürchten sie entweder ständig, dass sie kurz davor sind, daran zu erkranken, oder bereits längst unerkannt daran erkrankt sind. Den Arzt besuchen sie so oft wie möglich und begründen dies mit der Angst vor steigender Schlaganfall- und Herzinfarktgefahr aufgrund mannigfaltiger Verkalkungen und Verstopfungen. Wobei sie dem Arzt stets ankreiden, entweder eine falsche Diagnose zu erstellen oder ihren Zustand zu verharmlosen. Die Ärzte stöhnen, wenn die Sechzigjährigen ihre Wartezimmer verstopfen, weil sie an Blasenschwäche, Schwindel, Schwerhörigkeit leiden oder zu leiden glauben. Sind sie familiär vorbelastet, überhören sie geflissentlich die Warnung des Arztes, dass in nicht allzu weiter Ferne eventuell Alzheimer oder Parkinson droht. Sie ignorieren konsequent jedes Symptom. Sagt man ihnen, dass es schon nicht so schlimm werden wird, fühlen sie sich nicht ernst genommen, pflichtet man ihnen bei, fühlen sie sich bemitleidet. Man kann ihnen grundsätzlich nichts recht machen: Ein Besuch erfolgt nie zur rechten Zeit. Sie wollten gerade aufs Amt gehen, ein Mittagsschläfchen halten oder etwas Wichtiges erledigen. Besucht man sie nicht, beklagen sie sich über zunehmende Einsamkeit. Sie pochen immer darauf, respektiert zu werden, sie selbst respektieren aber niemanden. Und schon gar nicht Menschen mit Tattoos, Ringen in der Nase oder der Zunge und zerrissenen Jeans, Leute, die auf der Straße mit dem Handy telefonieren oder MP3-Stöpsel in den Ohren tragen sowie Punks mit großen Hunden. Sie wissen grundsätzlich immer alles besser, sind dabei aber ständig unzufrieden: Sie hassen den Lärm und fürchten die Stille.

Bruno und ich waren zwar auch über sechzig, fühlten uns aber noch immer relativ jung, dynamisch, neugierig, aufgeschlossen. Die Jugend war für uns keine Bedrohung, sondern eine Bereicherung, von der wir uns neue Impulse erhofften. Der Umgang mit Jüngeren hält uns selbst jünger und flexibler. Dennoch nahmen wir die Mitteilung unserer Kinder, dieses Jahr nicht auf die Insel mitzufahren, sondern eigene Ferienpläne zu verfolgen, insgeheim erleichtert auf. Keine Lärmbelästigungen durch laute Musik, keine Streitereien beim Kochen und vor allem Platz. Wir würden das kleinere der beiden Fischerhäuschen alleine beziehen. Ich würde allein im Geräteschuppen am Fenster mit Ausblick aufs Meer sitzen, täglich eine Stunde oder zwei Stunden in aller Stille konzentriert an meinem Roman schreiben und mich ansonsten erholen.

Wir fahren seit mittlerweile sechs Jahren jeden September mit unseren Freunden und unseren Kindern auf eine einsame Insel in Kroatien. Es gibt keine Autos auf unserer Insel, keine bewohnten Häuser, keine Bars oder lauten Cafés, keine Geschäfte, geschweige denn einen Supermarkt. Es gibt auch keinen Strom, kein Radio und keinen Fernseher. Nicht einmal fließendes Wasser. Die spärliche Beleuchtung nachts wird von einem Windrad erzeugt. Es gibt nur zwei nebeneinanderstehende ehemalige Fischerhäuser – eins für die befreundete Familie, eins für uns –, viel Meer, viele Felsen, Steine, wenig Bewuchs. In beiden Häusern zieht man in der Küche mit einem Eimer, der an einer Leine befestigt ist, Wasser aus den tief gelegenen Zisternen. Um unsere Häuser herum haben die Besitzer vor vielen Jahren einen Limetten- und einen Zitronenbaum, mehrere Rosmarinsträucher, einen Feigenbaum und zwei Palmen gepflanzt. Im September wuchert wilder Rucola hinter dem Haus. Wildkräuter wie Thymian, Majoran, Salbei etc. wachsen immer überall. Viel mehr Sinnesreize gibt es nicht. Die vorhandenen reichen völlig aus. Es gibt ja den sich immer verändernden Himmel, das immer im Wandel befindliche Meer, den Wind und sein Spiel. Vögel, Fische, Mäuse, Spinnen, Geckos, Schmetterlinge, Gottesanbeterinnen. Der nervlich zerrüttete Sechzigjährige findet hier in der technikfernen Abgeschiedenheit seine Ruhe.

Ruhe und Abgeschiedenheit haben natürlich ihren Preis. Wir müssen sowohl Nahrung als auch Trinkwasser, Alkohol, Zigaretten, Zündhölzer, Abfallsäcke, Abwaschschwämmchen, Klopapier und so weiter zuerst beschaffen und dann auf die Insel mitnehmen. Und das alles für einen Monat Aufenthaltsdauer. Das kostet Jahr für Jahr mehr Kraft. Das meiste karren wir aus Österreich an. Bestimmte Grundnahrungsmittel sind in Österreich billiger. Vor allem guter Wein. Anfangs hatten wir nur ein paar Flaschen mit, inzwischen sind es um die siebzig. Und drei Paletten Bierdosen, fünf Stangen Zigaretten. Auch die Sportausrüstung wird jedes Jahr mehr. Auf dem Dach unseres Autos befestigte Bruno nach einem ausgeklügelten System in stundenlanger Arbeit nicht nur einen Dachkoffer, vollgestopft mit Neoprenanzügen, Taucherbrillen, Schnorcheln, Badeschuhen, Paddeln, Schwimmflossen, sondern auch einen neuen, zusätzlichen Thule-Koffer, in dem ein Zweier-Faltboot, aufgeteilt in drei Säcken, verstaut ist. Außerdem wie in den Vorjahren ein Schlauchboot, ein Surfbrett mit zwei Segeln unterschiedlicher Segelfläche und passenden Masten, fünf Schwimmschlangen und, ein Neuerwerb von vor zwei Jahren, drei Solarpaneele, die Strom für den Laptop, das Handy für den Notfall und seit Neuestem auch für einen Mixer, einen Pürierstab und Föhn liefern sollen. Denn die Einfachheit des Lebens auf der technikfreien Insel ist die eine Sache, Bequemlichkeit, sportliche Betätigung und zeitgemäße Arbeitsbedingungen die andere. Bruno hat beim mühsamen Beladen des Autos sogar davon gesprochen, nächstes Jahr eventuell einen Anhänger anzuschaffen. Alles ist von langer Hand vorbereitet. Die Logistik der Einkäufe für einen vierwöchigen Aufenthalt auf einer unbewohnten Insel, von der wir auch mit dem lediglich mit vier PS ausgestatteten klapprigen Holzboot, das am Steg für uns bereitliegt, nicht das Festland erreichen können, ist kompliziert. Wer kocht wann welche Speisen, wer kauft welche Nahrungsmittel ein, welches Gemüse, welches Obst ist haltbar? Ist genug Mehl und Hefe zum Brotbacken da? Welche Gewürze sind nötig? Wie viel Kaffee, wie viel Salz, wie viel Milch, wie viel Öl und Essig verbrauchen acht Personen in einem Monat? Es darf auch nichts Gefährliches passieren. Kein Hornissenstich, kein Beinbruch, kein Schlaganfall, kein Herzinfarkt. Die Insel ist felsig und steinig. Niemand darf auf den Hinterkopf fallen oder auf das Gesicht. Im Meer gibt es Seeigel, deren Stacheln bekanntlich umgehend gezogen werden müssen, wenn sie nicht wochenlang von selbst herauseitern sollen. Für fast alles, was sonst noch passieren kann, sind wir gerüstet: Tabletten gegen Kopfschmerzen und grippale Infekte, Salben gegen Hautaufschürfungen, Bindehautentzündungen, Rheumaanfälle, Breitbandantibiotika gegen Magen-Darm-Infektionen oder Lungenentzündungen. Alles schon da gewesen. Sind die anstrengenden Vorbereitungen, der Einkauf, das Bepacken des Autos, die nächtliche Anreise und die anschließende morgendliche Überfahrt mit einem schwer beladenen Fischerboot erst einmal geschafft und alle Vorräte in den beiden Häusern untergebracht, gibt es endlich keine Telefonanrufe, E-Mails, überraschende Besuche oder brandneue Tatorte im Fernsehen mehr. Paradiesische Bedingungen, sollte man meinen, um den Stress eines ganzen Jahres abzulegen, den ganzen Tag zu schwimmen, zu surfen oder zu paddeln und am Abend, zur weiteren Entspannung, gemeinsam zu kochen, zu essen, zu trinken und zu spielen. Und hin und wieder ganz entspannt ein paar Zeilen zu schreiben.

Ehrlicherweise muss ich aber zugeben, dass es mit dem entspannten Schreiben bisher noch nie so richtig geklappt hat. Was unter anderem an dem vielen Essen, dem vielen Alkohol und dem vielen Rauchen liegt. Übermäßiges Essen, Trinken und Rauchen erschöpfen. Und Ablenkungen gibt es überall. Kaum hatte ich in den vergangenen Jahren begonnen, ein paar Zeilen zu schreiben, kamen plötzlich entweder Delfine vorbeigeschwommen, oder ein Segelboot kreuzte in unserer Bucht auf, eine merkwürdige, gelb-schwarz gestreifte Spinne saß unter der Dusche im Freien, ein Gecko fiel von der Zimmerdecke aufs Bett – und schon war ich aus der Arbeit gerissen, die ganze Konzentration war beim Teufel, und ich spielte statt zu schreiben stundenlang mit den Kindern auf der Meeresterrasse Mensch ärgere Dich nicht.

Bruno sagt, der ältere Schriftsteller sei ganz offensichtlich leichter ablenkbar als der junge. Auch fauler. Denn während der junge Mensch sich ja erst beweisen müsse, habe der ältere Mensch sein Bestes bereits hinter sich. Er glaube vernünftigerweise nicht mehr jedes Mal, dass ausgerechnet sein neuestes Werk der Menschheit die Augen öffnen werde. Das Schreiben werde dadurch laut Bruno naturgemäß schwieriger, mühsamer, kraftraubender. Außer man sei der ausgeglichene Typ für ein reifes Alterswerk. Was ich mit Sicherheit nicht sei. Bis jetzt. Sagt Bruno.

Kurz vor unserem siebten Inselaufenthalt im September vorigen Jahres, ohne Kinder und aller Erwartung nach mit Bruno allein in einem eigenen Haus, war ich zuversichtlich wie noch nie, dass ich es diesmal schaffen würde: täglich zwei Seiten Text und quasi Rundumerneuerung, Kraft für den anstrengendsten Teil des Lebens, nämlich den über sechzig. Bruno war seit drei Monaten im Ruhestand, und ich erhoffte mir, dass er im Gegensatz zu den vergangenen Jahren nicht täglich vierzehn Stunden schlafen und ansonsten ausschließlich surfen, sondern auch ein wenig am geselligen Inselleben teilnehmen würde.

Aber oft platzt das gänzlich Unerwartete ja mitten in unsere schönsten Vorstellungen. In meinem Fall eines Arbeitsurlaubes ohne erzieherische Verpflichtungen, ohne räumliche Einschränkungen und ohne seelische Belastungen. Ausgerechnet am Tag vor unserer Abreise läutete es, und Sarah und ein Hund standen plötzlich vor unserer Tür. Ich hatte Sarah nicht mehr gesehen, seit sie mit ihrer Familie vor acht Jahren nach Israel ausgewandert war. Damals war sie zwölf Jahre alt gewesen. Davor hatten wir alle in Berlin gelebt, und Sarah und unsere Kinder waren eng miteinander befreundet gewesen. Unser jüngster Sohn Paul hatte sogar mit Sarah zusammen denselben Kinderladen und Hort besucht. Jetzt musste sie zwanzig Jahre alt sein.

Ihre Augen waren es, an denen ich sie wiedererkannte, der klare, direkte Blick, den sie schon als Kind gehabt hatte. Die dichten schwarzen Haare, die damals glatt gewesen waren, waren jetzt zu Rastalocken aufgefilzt, was ihre immer schon markanten Gesichtszüge aber seltsamerweise noch stärker hervorhob. Die Haut schien sich fast zum Zerreißen um die Backenknochen zu spannen. Sie war noch größer und noch schlanker geworden. Mir kam es so vor, als hätte ich mich viel stärker verändert als sie. Als wäre ich geschrumpft. Ich fühlte mich alt und dick angesichts ihrer jugendlichen Makellosigkeit. Sarah ließ sich aber nichts anmerken, jedenfalls hatte ich nicht das Gefühl, dass sie mich nicht wiedererkannt hätte oder unsicher gewesen wäre, ob wirklich ich es war, die vor ihr stand. Hätte ja sein können. Der Zeitpunkt ihres Besuchs war äußerst ungünstig. Überall in unserer Wohnung lagen Kleider, Nahrungsmittel, Getränke, Verbandszeug, Küchengeräte, Handtücher, Koffer, Kisten und Taschen für den Inselaufenthalt. Spätestens um zehn Uhr des folgenden Tages mussten wir am Fischerhafen von Solinje sein, von dem aus uns die Vermieter der beiden Häuser wie jeden September seit sechs Jahren mit dem Fischerboot auf die Insel bringen würden. Die fünfstündige Überfahrt sollte wegen des da zu erwartenden ruhigeren Seegangs wie in den Jahren zuvor unbedingt vormittags stattfinden.

Hallo, sagte Sarah, als ob wir uns zuletzt erst gestern gesehen hätten, und deutete auf den Hund neben ihr: Das ist Habibi. Wir kommen gerade aus Israel. Können wir eine Weile bei euch bleiben?

Ich muss zugeben, im ersten Moment war ich konsterniert. Zuerst mehr als fünf Jahre lang kein Wort, dann plötzlich unangemeldet mit einem derartigen Ansinnen vor der Tür. Und: Was heißt schon eine Weile? Ein paar Tage, ein paar Wochen, Monate? Jeden anderen Menschen außer Sarah hätte ich sofort mit dem Hinweis auf den lange geplanten Urlaub weggeschickt oder zumindest auf unsere Rückkehr vertröstet. Aber bei ihr erschien mir das unmöglich. Sarah ist ein Mensch mit einem furchtbaren Schicksal. Ihre Eltern, Jakob und Marieluise, sind vor fünf Jahren in Israel ermordet worden. Ihr Halbbruder Daniel tot. So einen Menschen schickt man nicht weg. Ich hatte damals eine Woche nach dem Begräbnis schockiert in der Zeitung über den Mord gelesen und Sarah und ihrem leiblichen Bruder Noah sofort einen Brief geschrieben, den sie aber nie beantwortet hatten. Ich bat Sarah also erst einmal herein und rang um Fassung. Dann klärte ich sie über den Sachverhalt unserer unmittelbar bevorstehenden Abreise auf. Sie sehe ja selbst das Chaos in unserer Wohnung. Sie sah sich wie vor den Kopf gestoßen um. Sofort tat sie mir leid. Ich fühlte mich verantwortlich. Verschiedene Möglichkeiten, die Verantwortung abzuschieben, gingen mir durch den Kopf: Sarah allein in unserer Wohnung zurückzulassen, sie unseren Kindern in deren Urlaub hinterherzuschicken, eine Freundin zu bitten, sich um sie zu kümmern. Alles feige Ausweichmanöver! Schließlich schlug ich Sarah trotz meiner Bedenken vor, wenn sie wolle, doch einfach auf die Insel mitzukommen. Und auch Habibi mitzunehmen.

Sarah schien erleichtert. Sie war sofort einverstanden. Eine einsame Insel, sagte sie, sei im Moment genau das Richtige für sie. Sie müsse dringend in Ruhe darüber nachdenken, wie ihr Leben nun weitergehen sollte. Ob sie sich bis zur Abreise noch ein wenig ausruhen dürfe, Habibi und sie seien gestern aus Israel nach Wien geflogen, dort den ganzen Tag unterwegs gewesen und die letzte Nacht mit dem Zug von Wien hierhergefahren. Ich führte sie in mein Arbeitszimmer, wo sie sich aufs Sofa legte und auf der Stelle einschlief. Habibi auch.

Ich hingegen war hellwach. Wie war das mit dem Arbeitsurlaub ohne Verantwortung, ohne räumliche Einschränkung und ohne seelische Belastungen? Wie geht man mit einer Zwanzigjährigen um, deren Eltern ermordet worden sind? Darf oder soll man darüber sprechen, oder brechen dann schreckliche Wunden auf? Wie hat sie all das verarbeitet? Hat sie es überhaupt verarbeitet? Kann man so etwas verarbeiten als junger Mensch? Wie sollen wir uns verhalten? Wir werden auf einer einsamen Insel sein, was, wenn sie plötzlich durchdreht? Könnte ja sein.

Andererseits war das Ganze immerhin fünf Jahre her. Ich rief Josefine an, der ich den Fall in aller Kürze schilderte. Josefine arbeitet als Psychologin in der forensischen Psychiatrie. Auch sie hatte Bedenken. Willi, sagte sie, sei total ausgebrannt und brauche dringend Erholung. Für ihre Tochter Maya mit ihren Panikattacken sei eine traumatisierte Jugendliche mit Sicherheit auch nicht gerade die beste Urlaubsgesellschaft, und sie selbst habe gehofft, sich auf der Insel endlich einmal ein paar Wochen ohne jeden forensischen, psychologischen oder psychiatrischen Fall erholen zu können. Ich fuhr zu ihr nach Hause. Nach einem zweistündigen Gespräch inmitten halb gepackter Koffer und Taschen war Josefine ebenfalls davon überzeugt, dass man einen so jungen Menschen mit einem so schweren Schicksal, der offenbar extra aus Israel angereist war, um in der alten Heimat wichtige Entscheidungen zu treffen, nicht einfach wegschicken oder auf ein andermal vertrösten könne. Ich bot an, Sarah während des Inselaufenthaltes in unser Haus aufzunehmen und, sollte es Schwierigkeiten geben, das Mädchen so gut es ginge von ihrer Familie abzuschotten.

Okay, sagte Josefine schließlich, wir nehmen sie mit. Wir werden das schon schaffen. Für den Notfall riet sie zu Temesta, Lexotanil und Rohypnol. Bruno fuhr sofort los, um bei einem befreundeten Arzt unbürokratisch die entsprechenden Rezepte und dann gleich die Medikamente zu besorgen.

Vier Stunden später brachen wir auf. Sarah und Habibi lagen auf dem Rücksitz unseres Autos auf verschiedenen Decken, Schlafsäcken, Handtüchern und schliefen, während Bruno und ich uns die ganze Fahrt über Sorgen machten. Bruno sorgte sich vor allem wegen des im Notfall von der Insel aus nicht erreichbaren Krankenhauses. Meine Sorge galt nicht nur Sarah, sondern auch mir selbst. Würde es mir gelingen, mich mit dem Wissen um Sarahs Geschichte überhaupt zu erholen? Würde ich auch nur eine einzige Zeile schreiben können? In deinem Alter fällst du schneller aus dem Literaturbetrieb, als du schauen kannst, warnte Bruno damals täglich.

Ich beschloss, mich so gut ich konnte abzugrenzen und mich wenigstens am Vormittag meiner Arbeit an dem anstehenden Romanprojekt zu widmen. Im Notfall waren ja zur Beruhigung immer noch die Lexotanil vorhanden.

Überfahrt und erste Tage auf der Insel

Wir trafen Josefine und Willi, ihre Tochter Maya, und Filippa, die Freundin ihres Sohnes Florian, der im letzten Moment keinen Urlaub bekommen hatte und zu Hause geblieben war, morgens vor der regulären Öffnungszeit in dem Hafencafé Boskin Skver im Zentrum von Solinje. Wir alle, mit Ausnahme von Sarah, sahen nach der langen Nachtfahrt irgendwie zerknittert aus. Nur Maya und Filippa waren gleich begeistert: Sarah aus Israel!

Wieso sprichst du so gut Deutsch? (Maya)
Was bedeutet Habibi auf Deutsch? (Filippa. Sarah: Liebling.)
Was machst du in Israel? (Filippa. Sarah: Ich studiere Zoologie.)
Ist das Zoologiestudium schwierig? (Maya)
Cool, die Rastalocken! (Filippa)

Als das Hafencafé längst geöffnet hatte und wir alle schon den zweiten Kaffee tranken und frische Croissants aßen, die Bruno von dem Bäcker gegenüber geholt hatte, gehörte Sarah bereits zu unserer Gruppe, als wären wir seit sechs Jahren eine eingeschworene Gemeinschaft.

Das Ausladen des Autos und das Einladen der schweren Koffer und Kisten ins Fischerboot, das uns auf die Insel bringen würde, dauerte wieder Stunden. Wie immer fragten wir uns, wie lange wir solche Anstrengungen noch aushalten würden. Zehn Jahre, fünf Jahre? Es war um acht Uhr morgens bereits sehr heiß. Wir schwitzten beim Beladen des Fischerbootes, das an der Mole sanft in der Dünung schaukelte. Manchmal wusste ich nicht, ob das Boot schwankte oder ich. Eine Palette Bier fiel ins Wasser und versank. Kresimir, unser Vermieter, kniete im Inneren des Bootes und verteilte sorgfältig die Ladung. Habibi, der sofort ins Boot gesprungen war, rührte sich nicht von seinem Platz vor Sarahs rotem Rucksack. Ab und zu bellte er. Wir tranken trotzdem vor dem Ablegen noch Kaffee in der nahe gelegenen Hafenbar. Willi und Bruno außerdem je ein Bier. Sarah schluckte eine kleine rosa Pille gegen Seekrankheit.

Die dreistündige Überfahrt auf unsere Insel führte uns auf genau einzuhaltenden Wasserwegen zwischen den der Stadt vorgelagerten kleinen Inseln und Untiefen hinaus aufs offene Meer. Angeblich sollen sich auf den Inseln schon während des Neolithikums Menschen aufgehalten haben. Nachweisbare Spuren gibt es allerdings erst seit den Illyrern und Griechen. Nicht nur während der Völkerwanderung dienten sie vielen Festlandbewohnern als Fluchtort und Versteck.

Wir saßen auf dem Deck des Bootes und schauten in die Sonne. Wahrscheinlich verwechselten die Möwen unsere Überfahrt mit der Fahrt eines Fischerbootes auf Fang. Sie blieben in der Luft über uns stehen, starrten uns aus kleinen roten Augen an, ließen sich vom Wind zu uns herabgleiten und drehten knapp über unseren Köpfen seitlich ab. Habibi saß aufrecht am Bug, spitzte die Ohren und knurrte. In der Ferne tauchte allmählich die größte, langgestreckte Insel unseres Archipels verschwommen auf. Wir sahen am Horizont, dass die Erde wirklich rund ist. Die Zeit begann sich zu verändern. Sie würde sich ab jetzt verlangsamen, fast stehenbleiben und erst wieder Tempo aufnehmen, wenn wir die Insel nach einem Monat verließen.

Je näher wir zum Inselarchipel kamen, desto mehr entfaltete sich die Landschaft. Was vorher eine einzige diesige Fläche war, zerfiel in Einzelteile, die sich vor- und hintereinander schoben. Allmählich waren größere und kleinere Inselgruppen wahrzunehmen. Einzelne Inseln hoben sich voneinander ab. Dazwischen das Meer. Blitzblau, smaragdgrün, silbrig. Die neunundachtzig kleineren und größeren Inseln des Archipels sind die Gipfel eines im Meer versunkenen Gebirges. Die Römer und danach die Venezianer haben sie für den Schiffsbau abgeholzt. Bestehend aus porösem Kalkgestein, speichern sie jetzt kaum noch Regenwasser. Es gibt weder Quellen noch Wasserläufe. Überall Fels und etwas struppige Macchie. Der Himmel saugt vor uns, den Augenzeugen, das Meer und die Inseln auf. Die abgelegenen Inseln des Archipels, zum Horizont hin plötzlich zur Gänze zerstäubt, hinterlassen eine verblasste, schwache Kontur. Je näher die Inselausläufer auf uns zukommen und je mehr sich das Festland entfernt, desto deutlicher offenbaren sie ihre Sande und ihre Schotter. Dünenstreifen, Steinmosaike und Buchten, triefende Schotterbänke, bis zum Bersten erhitzte Kalkfelsen überblenden einander. Die Verkarstung schreitet seit Jahrtausenden fort, dauert unaufhaltsam an. Platten mit glattgeschliffenen Felsmassiven wechseln mit schroffen Steinblöcken, Schären und Klippen werden durch zerbröselnde Eingänge von Meeresgrotten und Schluchten gegliedert, sanfte Hügelrücken täuschen über die messerscharfen Felszähne hinweg, die sich mit spärlicher Vegetation tarnen. Meer, Gewächs, Stein und Licht gewinnen, je näher wir an unser Ziel gelangen, an Präsenz, Küstenstreifen bilden Reliefs, hin und wieder zeugen Steinmauern von über Generationen hin andauerndem menschlichen Eingriff. Meerbusen und ausgetrocknete Fjorde lassen die Schatten den Tag über pulsieren, auf Hochflächen kauen Schafe das dürre Gestrüpp, das nur morgens durch den Tau genetzt wird. Unwegsame Schluchten alternieren mit Grotten, die nur Tauchern zugänglich sind. Ebbe und Flut waschen die Platten an der Wasseroberfläche rein und fügen dem Stein Verwundungen zu.

Das wellenschlagende Fischerboot pflügt durch das Meer. Das Weiße und das Grüne wechseln mit dem Blauen und Grauen, das Echo erwidert spottend den tuckernden Dieselmotor. Die Schatten lassen die einzelnen Inselchen je nach Lichteinfall wachsen oder in sich zusammensinken, jeder spärliche Rest von Humus und Erde wird ausgewässert. Die Inseln treiben je nach Kurs auseinander oder zusammen, ganz wie es Kresimir an seinem Steuerrad beliebt.

Vom Meer aus gesehen kleben die beiden ehemaligen Fischerhäuschen, die wir seit sechs Jahren im September mieten, an einem auslaufenden Inselrücken. Darüber ragt ein felsiger Hügel mit stacheligen Gewächsen auf. Die vor Langem gepflanzten und bewässerten Palmen, Zitronen- und Feigenbäume und die violett blühenden Rosmarinsträucher zwischen Häusern und Meer verwandeln unsere Bucht in eine üppige subtropische Miniaturlandschaft.

Wir sind angekommen.

Bruno und ich werden wie jedes Jahr, früher mit unseren Kindern, diesmal mit Sarah, das kleinere, ältere der beiden Häuser bewohnen, die befreundete Familie das durch eine Steinmauer abgetrennte Haupthaus. Die Häuser sind an der Vorderseite durch einen schmalen Weg entlang von Rosmarinsträuchern miteinander verbunden. Beide Häuser liegen nur wenige Meter über dem Meer. Der Vorteil des Haupthauses ist eine dem Meer zugewandte Sonnenterrasse und das mit Propangas betriebene Backrohr in der Küche. Beides ist zugleich auch sein Nachteil, wenn man sich zurückziehen will. Naturgemäß spielt sich in der größeren Küche des Haupthauses die Essenszubereitung ab, und zum Sundowner versammelt sich alles auf der Sonnenterrasse. Josefine und Willi macht das nichts aus. Josefine sagt, das liege daran, dass sie zu Hause auf dem Land leben. Da seien sie zurückgezogen genug. Außerdem könne ja jeder in sein Zimmer gehen, wenn er wirklich einmal allein sein wolle. Was sie aber anscheinend nie wollen. Sie sind eigentlich immer zusammen. Meistens halten sie einander an der Hand wie frisch Verliebte. Dabei sind die beiden seit vierzig Jahren verheiratet. Josefine war damals achtzehn Jahre alt, Willi fünfundzwanzig.

Beide Häuser haben auf der dem Meer abgewandten Ostseite eine geschützte, schattige Terrasse unter einer Weinpergola. Dort sitzen an den weiß getünchten Hausmauern nachts reglos die Geckos, um plötzlich loszusprinten und Mücken und kleine Fliegen zu fangen, die von dem fahlen Licht über der Eingangstür angezogen werden. Die vorderen Fenster der Häuser öffnen den Blick übers Meer bis zu dem Inselarchipel im Süden, ungefähr drei Seemeilen entfernt.