Cover.jpg

Inhalt

[Cover]

Titel

Zitat

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Autorenporträt

Über das Buch

Impressum

Titel.jpg

Weißt du’s noch nicht? Wirf aus den Armen die Leere zu den Räumen hinzu, die wir atmen; vielleicht daß die Vögel die erweiterte Luft fühlen mit innigerm Flug.

Rainer Maria Rilke: Duineser Elegien

1

Marie-Thérèse ist ja kein Name. Wenn schon, dann Therese. Heute nennen sie ihre Kinder ja alle Marlon oder Yvonne oder Sarah. Weil sie etwas Besonderes sein wollen. Aber davon wird so ein Kind auch nichts Besonderes, daß die Mutter in der Schwangerschaft eine Fernsehserie gesehen hat, in der die Hauptdarstellerin Yvonne heißt. Im Gegenteil! So etwas hängt den Kindern doch ihr Leben lang nach. Besonders den Mädchen. Da haben sie wer weiß wie exotische Namen, und dann paßt nichts zusammen: Die Yvonne spricht den letzten Tiroler Dialekt, die Carmen ist blond und blaß, die Brunhilde heult schon los, wenn du sie nur einmal schief anschaust. Und wenn du jetzt auf Marie-Thérèse bestehst, Resi, bleibst du trotzdem Kassiererin an der Supermarktkasse oder meinetwegen Schneiderin. Marie-Thérèse! Zwanzig Jahre habe ich Resi gesagt und auf einmal sollte ich Marie-Thérèse sagen. Glaubst du, das ändert etwas? Glaubst du, daß du davon selbständiger wirst, wenn ich dich Marie-Thérèse nenne? Deine Vorgängerin, die Elfi, habe ich ja auch nie Elfriede genannt, obwohl das wenigstens ein normaler Name gewesen wäre. Da wollt ihr alle etwas ganz Besonderes sein, sensibel, emanzipiert, Persönlichkeitsentfaltung undsoweiter und dann wißt ihr nicht einmal, was zu tun ist, wenn der eigene Sohn eine Sonnenfinsternis beobachten will. Ohne mich hättet ihr das gigantische Schauspiel damals doch gar nicht genießen können! Auf die Idee mit dem Fernglas, dem Karton und dem großen Blatt Packpapier wärst du nie gekommen. Weil ihr kein physikalisches Vorstellungsvermögen habt. Wenn man in den Karton ein Loch schneidet und eine Seite vom Fernglas durchsteckt, und wenn man den Karton mit dem Fernglas darin dann so am Gitter des Stadtplatzbrunnens befestigt, daß die Sonne von schräg oben durch das Fernglas fällt, und wenn das Blatt Packpapier auf dem Boden im Schatten des Kartons liegt, dann muß die Sonne als leuchtender Kreis scharf umrissen auf dem Papier zu sehen sein. Das Fernglas dient natürlich zur Vergrößerung. Mein Sohn hat das Prinzip damals sofort begriffen, während du nur wieder dein Glänzen in den Augen gehabt hast, als ob das alles ein Wunder wäre und nicht von Anfang bis Ende durchdacht. Solche Ideen fallen nicht vom Himmel. Und wenn man schon keine technische Begabung hat, dann muß man beobachten, wie andere die Probleme lösen. Das tut ihr aber nicht. Ihr gebt euch keine Mühe. Schaut mit glänzenden Augen mitten hinein in die Sonne. Aber darum habe ich den Karton, das Fernglas und das Papier ja auf den Stadtplatz mitgenommen, damit ihr nicht in die Sonne schauen müßt und trotzdem seht, wie sie langsam verdeckt wird vom Mondschatten; zuerst nur ein Fleck und dann mehr und mehr, bis sie am Ende fast verdeckt ist, ein dunkler Kreis mit einem Heiligenschein rundherum. Nie direkt in die Sonne schauen, das habe ich auch meinem Sohn gesagt, schau auf den Karton, habe ich gesagt, und er hat den Stand der Sonne und wieviel schon vom Mondschatten verdeckt war eingezeichnet, und dann hat er die Uhrzeit daneben geschrieben, damit er sich später erinnert, wie die Sonne gewandert ist und wie lange es gedauert hat, bis die maximale Finsternis erreicht war. Alle, die damals auf dem Stadtplatz versammelt waren, haben durch irgendwelche verrußten Gläser geschaut oder durch Filmrollen, aber ich habe euch gleich gesagt: Das nützt nichts! Die Sonne, die hat so eine Kraft, die verbrennt euch die Netzhaut in den Augen, auch wenn ihr durch ein verrußtes Glas schaut. Das habe ich euch ersparen wollen, weil sofort merkt man ja nichts, außer, daß man vielleicht grüne Flecken sieht oder schwarze Flecken, grüne Sonnen oder schwarze. Daß die Strahlen die Netzhaut verätzen, das merkt man erst später, wenn es zu spät ist, manchmal erst Jahre später. Die meisten Menschen denken dann gar nicht mehr an den Tag, als der Fleck auf der Sonne immer größer geworden ist und der Stadtplatz sich fast unmerklich verändert hat. Zuerst waren wir ja noch fast alleine, weil die meisten Menschen haben nur die Uhrzeit der Sonnenfinsternis selbst im Kopf gehabt, die haben sich ja nicht klargemacht, daß nichts auf einmal da ist, sondern alles sich vorbereitet, nach und nach. Nichts kommt von nichts, alles geht seinen Weg, ist Gesetz und Notwendigkeit. Es gibt keine Zufälle, keine Überraschungen. Jedenfalls, mit der Zeit sind immer mehr Menschen auf den Stadtplatz gekommen. Da war die Sonne schon ein Drittel vom Mond verdeckt. Die Menschen sind zu uns gekommen und haben sich um uns herum aufgestellt und geschaut, was ich da gebastelt habe, damit ihr, ohne euch die Netzhaut zu verätzen, alles beobachten könnt. Es war eine seltsame Stimmung; gar nicht wie sonst, wenn so viele Menschen zusammenkommen. Irgendwie war es stiller als sonst. Dabei war nicht viel zu sehen. Ich habe zuerst gedacht: Der Himmel schaut ein bißchen anders aus als sonst, die Häuser schauen ein bißchen anders aus, die Berge ringsum schauen ein wenig anders aus, aber ich hätte nicht sagen können inwiefern. Höchstens hätte ich sagen können: Der Himmel, die Häuser und die Berge schauen fremd aus. Und ich selbst war mir auch fremd. So, als stünde ich gar nicht auf dem Stadtplatz und wartete auf die Sonnenfinsternis, sondern als säße ich in Wirklichkeit vor einer Leinwand und sähe einen Film, in dem ich mit anderen auf dem Stadtplatz stünde und auf die Sonnenfinsternis wartete. So ähnlich war es auch bei meiner Ohnmacht vor ein paar Jahren. Erinnerst du dich daran? Ich habe den ganzen Tag gesagt: Mir ist so seltsam, und dann auf einmal am Pichlingersee, nach dem Baden, bin ich umgefallen. Alles ist fremd gewesen und weiter weg als sonst. Die Menschen, der Himmel, der See. Die Geräusche waren gedämpft. Wenn die Farben und die Laute von den Gegenständen und den Lebewesen zurücktreten, wenn die Welt einen im Grunde nichts mehr angeht, dann ist das einerseits eine Erleichterung und andererseits fühlst du eine Fremdheit, die schon etwas Unheimliches hat. Weil der Mensch will ja Teil sein und teilhaben am Leben, er will dazugehören und nicht abseits stehen mit wohligweichen Gliedern. Damals habe ich zum ersten Mal das Gefühl gehabt, ich könnte sterben und würde niemandem fehlen. So ein Gefühl war das auch bei der Sonnenfinsternis voriges Jahr, als ich geglaubt habe, daß zwischen uns noch alles in Ordnung ist, obwohl schon längst nichts mehr in Ordnung war, wie ich heute weiß. Ich war so froh damals, daß ich euch den Karton mit dem Fernglas gebastelt habe, weil da habt ihr auf das Papier schauen können, und mein Sohn hat den Stand der Sonnenfinsternis eingezeichnet, und ihr habt nicht sehen müssen, wie sich die Welt um uns herum entzieht. Gelacht habt ihr sogar, weil die Sonne so schnell war auf dem Papier auf dem Boden, daß ihr gar nicht nachgekommen seid mit dem Einzeichnen des Schattens. Achtzig Prozent Sonnenfinsternis haben wir gehabt, von hundert Prozent hat sowieso niemand gesprochen. Trotzdem waren die Menschen enttäuscht, weil sie immer nur an spektakuläre Ereignisse denken, an völlige Finsternis mitten am Tag, an einen schwarzen Nachthimmel mit Sternen, an eine Art Stromausfall. Aber es war keine völlige Finsternis, es war immer noch hell damals, es war nur ein anderes Licht. Ein kaltes Licht war das. Das haben sogar die Tiere bemerkt. Als die Sonnenfinsternis auf ihrem Höhepunkt war, da war es ganz still. Kein Hund hat gebellt, und kein Vogel hat gezwitschert. Kein Tier ist über den Stadtplatz gelaufen oder geflogen. Die Tiere waren still und die Menschen auch. Mir ist direkt schwindlig geworden von dieser Stille und der Undurchdringlichkeit der Welt. Das kalte Licht, das da entstanden ist, hat nicht nur die Farbe der Häuser auf unserem Stadtplatz verändert und die Gesichter der Menschen und die Bäume und die Pflastersteine. Es hat alles verändert. Als ob die Welt von innen heraus eine andere geworden wäre. Und das, obwohl fast alles so geblieben ist, wie es immer war. Da war auch kein Wind, kein Windstoß, wie ich eigentlich erwartet hätte, alles war reglos, still, fahl, stumm. Alles war einfach nur da. Und es war unerträglich, daß alles einfach nur da war. Dann ist der Streifen Sonnenlicht wieder breiter geworden, schnell ist das gegangen, unheimlich schnell, und da habe ich hineingeschaut in das Licht. Es war wie eine Schneeschmelze. Als ob die Eisberge am Südpol abschmelzten. Wohin, habe ich noch gedacht, wohin soll all das Wasser abfließen? Und dann habe ich mir die Bäche im Gebirge vorgestellt, die im Sommer Rinnsale sind und zu Sturzbächen werden im Frühling, während der Schneeschmelze, wenn sie braun und mit Getöse hinunterstürzen ins Tal, so daß du dein eigenes Wort nicht mehr verstehst, wenn du daneben stehst, und das hat keinen Anfang und kein Ende, sondern ist endlose Wassermasse, immer nur tosend und rauschend kopfüber in das Tal, und wälzt sich dahin und reißt alles mit, was sie auf ihrem Weg findet: Steine, Baumstämme, Kinder und Frauen, wälzt sich fort und fort, vom Berg ins Tal und tobt und rauscht und brüllt, und du hältst dir die Ohren zu, du erträgst es nicht mehr, aber es nützt dir nichts, du mußt es ertragen, du mußt es hören, es rauscht durch dich hindurch, es reißt dich mit, du stürzt kopfüber in enge, matschige Täler, wälzt dich breit und braun durch Ebenen auf ein Meer zu, das du nicht kennst.

2

Niemand hätte gedacht, daß das alles einmal so ausgeht. Alle haben uns doch bewundert. Zwanzig Jahre, so eine lange Zeit, und das soll jetzt auf einmal nicht mehr zählen? Zwanzig Jahre und der große Umzug in das neue Haus im letzten Jahr, und vorher haben wir gespart und alles vorbereitet – und dann ist alles fertig und so schön geworden – da gehst du weg! Kaum im Haus, schon wieder hinaus aus dem Haus, kaum den Garten umgestochen, die Bäume und Blumen gepflanzt, schon wieder weg. Du kannst nicht mehr mit mir zusammenleben! Das ist doch verrückt! Endlich ist das große Haus fertig, endlich hast du Platz, kannst machen, was du willst, da ziehst du aus. Hat dir ein Zimmer nicht genügt? Von mir aus hättest du auch zwei Zimmer haben können, ich hätte dir meines gegeben, weil ich brauche kein eigenes Zimmer, ich habe meine Werkstatt im Keller, und du hättest doch außerdem das Atelier auf dem Dachboden oben gehabt. Ein eigenes Atelier, immer hast du das gewollt, dann hast du es endlich bekommen – und da gehst du weg! Was wirst du denn jetzt haben? Du kannst dir doch alleine nichts leisten. Eine kleine Wohnung ohne Atelier wirst du haben. Ich darf sie ja nicht sehen. Du läßt mich nicht hinein. Ich darf nicht einmal sehen, wo du jetzt wohnst mit meinem Sohn! Unten im Flur habe ich einen Steinboden gelegt. Das hast du dir doch gewünscht. Immer schon. Einen Flur, hast du gesagt, mit einem roten Steinboden möchte ich haben, wenn ich mir so etwas einmal leisten kann. Weil du nämlich einen Onkel gehabt hast, der Pfarrer in Meggenhofen war, und der hat in einem gelben Pfarrhaus gewohnt mit einem großen Flur, und der Flur hat einen roten Steinboden gehabt. Siehst du, wie ich mir alles gemerkt hab, was du mir erzählt hast aus deinem Leben. Immer habe ich gedacht: Eines Tages bau ich der Resi ein Haus mit einem roten Steinboden im Flur. Weißt du überhaupt, was das für eine Arbeit war, den Steinboden zu verlegen? Du weißt es nicht, weil du ja nie darauf geachtet hast, was ich alles für euch tue. Denk an den Wohnzimmerschrank vor sieben Jahren, den ich selbst im Keller getischlert habe. Und damals war ich noch in der Firma! Jeden Abend bin ich hinunter gegangen in den Keller und habe an dem Schrank gebaut, und jedes Wochenende auch. Aber das war für dich immer nur selbstverständlich. Manchmal hast du sogar gesagt: Warum arbeitest du denn Tag und Nacht im Keller? Laß es bleiben, wenn es so eine Arbeit ist. Wir können uns doch einen fertigen Schrank kaufen, und wenn der zu teuer ist, dann gehen wir zum Flohmarkt, da bekommen wir immer etwas Preiswertes. Aber ich wollte deinen Wohnzimmerschrank nicht auf dem Flohmarkt kaufen. Ich habe gedacht, daß das für dich ein Wert ist, wenn ich ihn selber tischlere und wenn er nicht fertig gekauft ist. Aber dafür habt ihr ja keinen Sinn. Du hast uns ja auch nie eine Hose genäht oder ein Hemd, obwohl du eine Nähmaschine gehabt hast. Nicht einmal gekauft hast du sie für uns. Kauft euch eure Hosen und Hemden selbst, hast du gesagt, mir liegt das nicht. Ja, das hat dir noch nie gelegen, für uns etwas zu schneidern oder zu kochen oder die Wohnung schön zu putzen. Immer nur für andere, da könnt ihr arbeiten. So schöne Kleider hast du genäht, aber nie für uns. Kommt ihr denn nicht einmal auf die Idee, daß wir uns freuen würden, wenn ihr uns selbst eine Hose näht oder ein Hemd, und daß eure Kinder dann für später eine Erinnerung hätten an ihre Mutter. Daß sie später sagen könnten: Meine Mutter, die hat jede Hose und jedes Hemd, das ich in meiner Kindheit getragen habe, selbst genäht. An so etwas erinnert man sich doch ein Leben lang! Aber ihr schickt uns ins Kaufhaus, damit wir uns die Hosen und Hemden selbst kaufen. Kommt euch das nicht lieblos vor? Wir kaufen für euch Seidenschals zum Geburtstag oder zu Weihnachten oder zum Muttertag, die wickeln wir ein in Geschenkpapier und binden schöne Schleifen drum herum, damit ihr eine Freude habt. Aber die könnt ihr ja nicht zeigen. Keine Freude, kein Glück, nichts. Eine wie die andere. Ihr wickelt die Geschenke aus und streicht unseren Söhnen über den Kopf. Uns seht ihr nicht einmal an dabei. Ihr sagt höchstens: Schön ist das. Und dann legt ihr unsere Geschenke zur Seite und tragt sie kein einziges Mal. Du hast nie etwas annehmen können, weder die Geschenke zu Weihnachten oder zum Geburtstag oder zum Muttertag noch den selbstgetischlerten Wohnzimmerschrank noch das schöne neue Haus, das ich für dich gebaut habe. Marie-Thérèse! Ich habe dich ja förmlich zwingen müssen, die Pläne für das Haus überhaupt anzuschauen. Komm, schau dir das an, habe ich sagen müssen, möchtest du die Küche nach hinten hinaus oder nach vorne hinaus, willst du ein Fenster im Bad oder nicht, reichen zwei Toiletten, eine oben und eine unten, habe ich sagen müssen, oder brauchen wir drei? Du hast mich verwundert angeschaut, als ob du noch nie gehört hättest, daß wir bauen, meistens hast du geseufzt, wenn du die Pläne angeschaut hast, und dann hast du gesagt: Mach, was du willst, Franz, mir ist es egal. So eine Gleichgültigkeit, weißt du, die nimmt einem alle Freude am Hausbau. Du hast es mir nicht leicht gemacht mit deiner Freudlosigkeit, deiner Gleichgültigkeit, deiner Herzlosigkeit. Und wenn ich nur ein Wort gesagt habe, dann bist du gleich ganz starr geworden und hast den schmalen Mund bekommen, den du immer bekommen hast, wenn man einmal anderer Meinung gewesen ist als du, weil das wäre euch am liebsten: immer der gleichen Meinung sein wie ihr, nur nicht abweichen, alles soll genau so geschehen, wie ihr das wollt. Das ist nämlich eure Tyrannei, und uns wollt ihr hinstellen als die großen Unterdrücker! Jedenfalls hast du den schmalen, verkniffenen Mund gehabt, genau wie deine Mutter, bevor sie zu keifen angefangen hat, und dann hast du gesagt: Ich wollte nie ein Haus bauen, Franz. Daß ihr das nicht merkt, was für eine Kälte da dahinter steckt, uns und unseren Kindern gegenüber, was für eine Kälte und Gleichgültigkeit. Ich entwerfe den Plan für das Haus, ich wähle den Baumeister aus, ich tue und mache und suche aus, und alles, was euch einfällt, ist: Ich will kein Haus. Und mein Sohn? An meinen Sohn hast du nicht gedacht. Was glaubst du, was das später für ein Wert für ihn ist, wenn er ein eigenes Haus hat. Abgesehen davon, daß es auch jetzt schon ein Wert für ihn wäre, weil so etwas zählt nämlich in den Augen der Lehrer, der Mitschüler undsoweiter, ob einer im eigenen Haus wohnt oder in einer Mietwohnung. Wenn er seine Freunde eingeladen hätte, und die hätten gesehen, daß er ein großes eigenes Zimmer mit Tür zum Garten hinaus hat, dann hätten sie ihn aber gleich viel lieber besucht. Vor seiner Gartentür habe ich selbst ein Stück Wiese zubetoniert, damit er seine eigene kleine Terrasse hat, und wenn dann einmal ein Freund bei ihm übernachtet hätte, dann hätten die beiden am nächsten Morgen draußen frühstücken können. So etwas kannst du heute aber lange suchen, einen Freund, bei dem du auf der eigenen Terrasse im Garten frühstückst, mit Blick auf den Bioteich, den ich auch selbst angelegt habe. Das bestimmt ein ganzes Lebensgefühl, so ein Haus mit Garten. Dein Sohn wäre bestimmt besser geworden in der Schule, weil er gespürt hätte, daß er etwas ist und daß seine Eltern etwas sind und daß er auch etwas erreichen muß im Leben. Wie soll denn einer, der in einer Mietwohnung lebt, das Gefühl dafür bekommen, daß es sich lohnt, im Leben etwas zu lernen und fleißig zu sein und etwas zu leisten. In einer Mietwohnung muß doch so ein Kind das Gefühl bekommen, daß es ganz gleichgültig ist, wo man wohnt, weil man kann jederzeit umziehen und woanders wohnen. Wenn man gerade Geld hat, hat man eine große Wohnung, hat man keines, zieht man in eine kleine. Und wenn etwas kaputtgeht, dann ruft man bei der Hausverwaltung an, und die schicken dann jemanden, der repariert es wieder. Aber so ein Haus, das ist etwas ganz anderes. Da bist du selbst verantwortlich, da mußt du selbst dafür sorgen, daß alles erhalten bleibt und nichts kaputtgeht. Aber genau das ist es ja, was euch nicht paßt. Ihr müßtet ein bißchen arbeiten im Haus und im Garten. Wir können ja nicht alles alleine machen. Es reicht schließlich, wenn wir den Bioteich anlegen, wir können ihn nicht auch noch pflegen; alles hat seine Grenzen! Vor allem, weil wir ja die schweren Arbeiten machen müssen, das Umgraben, das Streichen, das Ausbessern und Reparieren, alles, was ihr gar nicht könntet, selbst, wenn ihr wolltet. Da werden wir uns nicht auch noch um die Rosenstöcke kümmern. Ein bißchen müßt ihr schon selbst tun, Marie-Thérèse! So ist das Leben, das kann euch niemand ersparen. Und bevor ihr für andere Leute arbeitet, könnt ihr ja wohl euer eigenes Haus in Ordnung halten. Du hättest ja einmal ein Kissen für das Wohnzimmer nähen können oder die Vorhänge. Du hättest alles selbst aussuchen dürfen, niemand hätte dir da reingeredet. Vorhänge, Polsterbezüge, Tagesdecken: Alles ganz nach deinem Geschmack! Aber du wolltest ja nicht. Dir sind ja die Fremden lieber, die dich bezahlen wie einen Sklaven. Und komme mir nicht mit dem Argument, daß einer ja das Geld verdienen muß. Ich habe es satt, mir das dauernd anzuhören. Tag und Nacht habe ich dieses Argument in den Ohren: Einer muß ja. Wer soll denn sonst, wenn nicht ich? Wer soll das Haus denn bezahlen? Alles deine Worte, alles deine Ungeheuerlichkeiten. Da arbeitet man ein Leben lang, und keineswegs aus Lust und Laune, meine Liebe, da hätte ich etwas Besseres gewußt, als Außenlifte zu bauen, das kannst du mir glauben, dann gehen die Aufträge zurück, die Firma muß radikal abspecken, siebzig Prozent Entlassungen, man steht da: siebenundvierzig Jahre alt! Wer kriegt denn da noch einen neuen Job, das ist ja so gut wie unmöglich, und dann muß man sich zu allem Überfluß noch von der eigenen Frau sagen lassen, daß man das Haus, das man schon lange geplant und entworfen hat, gar nicht selbst bezahlt. Aber all die Jahre war es recht, daß ich bezahlt habe? Vor zwanzig Jahren, als wir uns kennengelernt haben, da hast du überhaupt nichts gehabt, weder Geld noch eine ordentliche Arbeit, nichts hast du gehabt, und gekonnt hast du auch nichts, aber ich habe dich trotzdem genommen, weil das nämlich Liebe war. Du hast als Kassiererin in einem Supermarkt gearbeitet, da hast du kaum etwas verdient. Ich habe zu dir gesagt: So bleib doch daheim, das ist sinnlos, daß du dich um den Hungerlohn im Supermarkt aufreibst, aber nein, stur bist du ja auch, ich habe es nicht verstanden, aber bitte, so ein Ehemann war ich nie, der seiner Frau verbietet zu arbeiten. Wenn sie es für ihr Selbstbewußtsein braucht, habe ich mir immer gedacht, dann soll sie es machen. Aber den Preis dafür habe natürlich ich bezahlt. Ich habe keine Frau gehabt, die auf mich wartet, wenn ich abends müde heimkomme, die die Wohnung hübsch herrichtet, die etwas Schönes kocht und die ausgeruht ist, sondern ich habe eine Frau gehabt, die sich für einen Hungerlohn auslaugen hat lassen an einer blödsinnigen Supermarktkasse, nur weil sie nicht genug Selbstbewußtsein gehabt hat, einfach daheim zu bleiben. Auf den Hungerlohn hätten wir leicht verzichten können. Was du dort verdient hast, das habe ich damals in einem Monat an Benzin für meinen BMW