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Inhalt

[Cover]

Titel

Kaiserhofstraße 12

Mama

Der Revolutionär

Die Tarnung

Die Beschneidung

Unsere Straße

Leben und Tod eines Don Juan

Ein Schatten an der Hauswand

Die närrische Modistin

Aus der Clique ausgestoßen

Der Weltreisende

Kaiserhofstraße 12

30. Januar 1933

Mama macht sich Vorwürfe

Denkmalsturz

Zwei Träume

Polizeimeister Kaspar

»Haben wir nicht schon genug Zores?«

Der deutsche Gruß

Der Stammbaum

Der Koffer

Rivalitäten

Max Himmelreich

Kristallnacht

Besuch beim Arzt

Nichts tun ist das beste

Als die Isenburger Lis die Juden roch

Die Dirne Rosa

Mimi – eine Liebe auf Zeit

Ionka

Sie nannten ihn Papitschka

Von den Toten auferstanden

Bomben auf Sachsenhausen

Die Frau des Bäckers

Mamas letzte Fahrt

Der Herzfehler

Die Jagdhausgesellschaft

Ist das die Befreiung?

Mit der Axt unterm Kopfkissen

Der amerikanische Kommandant

Am Fenster stand Papa

Bildteil

Bildnachweise

Peter Härtling – Nachwort

Anmerkungen

Autorenporträt

Über das Buch

Impressum

Titel.jpg

Kaiserhofstraße 12

Unsere Straße

Ich hatte die Absicht und habe sie auch jetzt noch, die Geschichte unserer Familie und ihrer wundersamen Errettung zu erzählen, und ich merke, wie meine Gedanken immer weiter und weiter zurücklaufen und nicht bei der Jahreszahl 1933 stehenbleiben. Es ist, als hätte ich mit meiner Erinnerung ein schweres Schwungrad angeworfen, das, wenn es einmal in Gang gekommen ist, sich nicht mehr so schnell abbremsen läßt. Aber bedenke ich es recht, besteht auch kein Grund, es abzubremsen, vielleicht ist es sogar besser, wenn es sich weiterdreht. Denn vieles, was während der Hitlerzeit mit mir, meinen Eltern und Geschwistern geschah, ist schwer zu verstehen, wenn man nicht die Umstände kennt, unter denen wir damals lebten.

Seit 1917 wohnten meine Eltern im Hinterhaus der Kaiserhofstraße 12, einer kleinen Straße zwischen Hauptwache und Opernplatz. Dort kam ich auch zur Welt. Die Kaiserhofstraße ging nur bis Nummer 20 und verband die Hochstraße mit der fast parallel verlaufenden Freßgasse, die in Wirklichkeit Große Bockenheimer Straße heißt, aber von jedermann nur Freßgasse genannt wird. Viele kennen ihren richtigen Namen gar nicht.

Der vornehmste Frankfurter Delikatessenhändler, Rollenhagen, hatte in der Freßgasse sein Geschäft. Oft habe ich mir an seinen Schaufenstern die Nase plattgedrückt, um die wie phantastische Kunstwerke dekorierten Leckerbissen, die ich nicht mal dem Namen nach kannte, und im Ladeninnern die feinen Damen und Herren, die sich solche Genüsse leisten konnten, so lange anzustarren, bis mein Atem die Scheibe blind machte.

Doch Rollenhagen war nur einer von vielen Läden, durch die diese Straße zur Freßgasse wurde. Da waren der Käs-Petri im Eckhaus der Kaiserhofstraße, der in seinem Schaufenster die in Hälften zerschnittenen Riesenräder von Schweizerkäse zu Pyramiden auftürmte; der Fisch-Kremser, dessen Schaufensterfront ein einziges großes Fischbassin war, in dem Fische aus allen Weltmeeren herumschwammen; der vornehme Pralinenladen von Wörner-Simmer, wo ich mir jedesmal, wenn ich vorbeiging, wünschte, einmal eine der köstlichen Pralinen aus der wundervoll drapierten Auslage zu bekommen; das Delikatessengeschäft Plöger, das damals viel kleiner als Rollenhagen war, aber noch heute existiert, während der große Rollenhagen bald nach dem Zweiten Weltkrieg schließen mußte, woraus man den Wahrheitsgehalt des alten Sprichworts erkennt, daß die Bäume nicht in den Himmel wachsen, auch dann nicht, wenn sie mit den köstlichsten Delikatessen aus aller Herren Länder behängt sind; ferner war da der Obst-Weinschrod, den ich nicht leiden konnte, weil ich dort immer »für zehn Pfennig angestoßenes Obst« holen mußte; aus dem gleichen Grund war mir auch der Metzger Emmerich verleidet, denn da gab es für mich selten etwas anderes zu kaufen als »für zwanzig Pfennig Wurststückchen«; ich erinnere mich auch noch sehr gut an die Bäckerei von Fritz Lochner, den heute weit über die Stadtgrenze hinaus bekannten Bäcker, und an den Metzger Stephan Weiß, der gerade zur rechten Zeit, als nämlich das Luftschiff »Graf Zeppelin« zum ersten Mal in Frankfurt landete, eine neue Wurstmischung zusammenstellte, sie in einen meterlangen, drei Zoll dicken Darm preßte, die Riesenwurst der Luftschiffbesatzung schenkte und damit die Erlaubnis erhielt, diese Wurstsorte »Zeppelinwurst« zu nennen. Er dürfte bis heute viele Kilometer davon verkauft haben.

Zurück zur Kaiserhofstraße. So kurz sie auch war, schien sie dennoch eine vornehme Straße gewesen zu sein. Leider konnte ich unsere Familie nicht in diese Vornehmheit mit einbeziehen, denn wir wohnten im Hinterhaus, und Papa war Arbeiter. Auf jeden Fall aber war unsere Straße vornehmer als die beiden Parallelstraßen links und rechts von uns, die Meisengasse und die Kleine Hochstraße, die etwa gleichlang waren.

Die aus der Gründerzeit stammenden Häuser unserer Straße hatten größtenteils imposante, gut erhaltene und gepflegte Fassaden mit Balustraden, Fenstereinfassungen und anderen ornamentalen Verkleidungen aus rotem Sandstein, hinter denen Angestellte, städtische Beamte, Handwerker und Geschäftsleute wohnten. Sogar mehrere Lebensmittelladenbesitzer aus der Freßgasse zählten zu unseren Mitbewohnern.

Nicht weniger stolz konnten wir aus der Kaiserhofstraße auf den exklusiven Fechtclub »Hermannia« sein, dem die damals weltberühmte jüdische Fechterin Helene Mayer angehörte. Er war im Haus Nummer 11 untergebracht, und wenn die Fechtmeisterin wieder einmal mit neuem Sportlerruhm nach Hause kam, gab es jedesmal einen festlichen Empfang für sie, an dem die ganze Straße teilnahm. Nach 1933 zog die »Hermannia« aus und überließ das Haus der NS-Gemeinschaft »Kraft durch Freude«. Zehn Jahre später war es das erste Haus unserer Straße, das ausgebombt wurde.

Auch die studentische Burschenschaft »Rhenania« hielt unsere Straße für würdig genug, um im Haus Nummer 19 Quartier zu beziehen und dort einen Paukboden einzurichten, wo auch richtige Mensuren geschlagen wurden. Dieses Haus hatte an der Straßenfront, in einer Nische eingelassen, eine große, nicht zu übersehende griechische Statue aus Sandstein. Wenn ich mich an der Fensterbank hochzog und auf die Kante des eisernen Kellerlochdeckels stellte, konnte ich die sich schlagenden und blutenden Studenten sehen.

Das Besondere unserer Straße aber war, daß dort einige Maler und Schauspieler wohnten, vor allem Sänger aus dem Ensemble des nahen Opernhauses. Durch sie erhielt die Straße etwas Weltoffenes, vielleicht sogar Frivoles. Dies wurde noch betont durch zwei exklusive Weinlokale, die nur am Abend und in der Nacht geöffnet waren und hinter deren gläsernen Eingangstüren schwere rote Plüschvorhänge die Sicht ins Innere verwehrten. Das eine war zeitweise ein stadtbekanntes Schwulenlokal.

Trotzdem war die Kaiserhofstraße eine gesellschaftsfähige, vom Kleinbürgertum und dem Mittelstand durchaus bewohnbare Straße.

Auch die zwei Nutten aus Nummer 4, eine andere wohnte später sogar in unserem Haus, konnten dem Ansehen unserer Straße nichts anhaben, sie wohnten ja nur dort und bezahlten pünktlich die Miete. Auf den Strich gingen die beiden zwischen Goethestraße und Hauptwache, im seriösen Steinweg, oder gleich in der Kleinen Bockenheimer Straße, wo sie zwei Häuser neben der Roten Katze ihre Absteige hatten. Es stimmt, daß sie sich jeden Tag beim Friseur Jung in Nummer 2 die Haare machen ließen, so viel Geld hatten sie. Für den ansonsten braven Friseur war das nichts Anrüchiges. Da die beiden gesundheitsbehördlich überwachten Damen weder ihn noch seine Gesellen zu verführen trachteten und da auch die Friseurmeistersgattin keine Bedenken hatte – was sollte es?

Von den beiden Damen mit den Wackelpopos profitierte ich insofern, als mir meine eineinhalb Jahre ältere Schwester Paula an ihnen zeigen konnte, woran man todsicher Nutten erkennt: daß sie nämlich auffallend starke Strumpfnähte haben, viel stärkere als bei anderen Frauen, und sich damit den Männern bemerkbar machen. Paula mußte es wissen, sie war bereits sieben Jahre alt und schon sehr klug. Seit der Zeit wußte ich Bescheid, mir konnte niemand mehr etwas vormachen. Von da an entlarvte ich aufgrund dieser Intimkenntnisse unheimlich viele Nutten, die sich in der Menge des Freßgassenpublikums ganz harmlos gaben, so als wäre überhaupt nichts mit ihnen, und die sich durch nichts anderes verrieten als durch ihre markanten Strumpfnähte. Das waren aufregende Stunden. Wohlweislich behielt ich meine Entdekkungen für mich.

Arbeiter und andere Leute aus dem einfachen Volk wohnten selbstverständlich auch in unserer Straße; schließlich gab es genug Hinterhäuser – hinter jedem Vorderhaus eines. Dort waren auch die Mieten billiger. Man hörte schon mal Beschwerden darüber, daß nie die Sonne in die Hinterhäuser komme, daß es dort immer stinke und daß dafür die Mieten ganz schön hoch seien, wie zum Beispiel in Nummer 10, unserem Nachbarhaus. Dieses Haus, dessen Hinterhof von dem unsrigen nur durch eine gut zwei Meter hohe Mauer mit einer eingelassenen Teppichstange, die das Darüberklettern sehr erleichterte, abgeteilt war, gehörte einer Brauereibesitzerstochter, die im zweiten Stock des Vorderhauses wohnte. Ihr Mann, der eingeheiratete Schlossermeister August Walther, hatte im Hof seine Werkstatt. Sie lebten in Gütertrennung, und die Bierbrauerstochter versäumte im Gespräch mit den Nachbarn keine Gelegenheit, um zu betonen, daß das ihr Haus sei; ihm gehörte nichts weiter als das schmiedeeiserne Schild draußen an der Hauswand mit der Aufschrift »Kunst- und Bauschlosserei«, seinem Namen und zwei gekreuzten goldenen Schlüsseln, die man von der Freßgasse aus sehen konnte. Frau Walther – die uns wegjagte, wann immer wir uns ihrem Haus näherten, die Wutanfälle bekam, wenn sie Kritzeleien an der Hauswand oder im Treppenhaus entdeckte, und arme Leute nicht ausstehen konnte, weil die ja immer nur selbst an ihrer Armut schuld seien – reagierte auf Beschwerden über zu hohe Mieten mit dem schnippischen Hinweis, wem es nicht passe, der könne ja ausziehen, ihretwegen in die Meisengasse, sie halte niemanden. Das rief sie vom Vorderhaus über den Hof laut den beschwerdeführenden Hinterhausmietern zu, so daß es die ganze Nachbarschaft mitbekam und die Angesprochenen beschämt ihre Fenster schlossen.

Unsere Straße steckte voller Merkwürdigkeiten, und es wundert mich, daß es damals und auch später keinem auffiel. Ich meine, die Kaiserhofstraße, von der ohnehin niemand recht weiß, warum sie so heißt, hätte es verdient, daß ihre Geschichte in die städtischen Annalen einginge. Allein schon das, was in meiner Erinnerung zurückgeblieben ist – und es sind doch nur kärgliche Reste von Erinnerung –, macht sie bemerkenswert.

In Nummer 6 zum Beispiel wohnte ein Kunstmaler mit dem klangvollen Namen Lino Salini. Ich habe seitdem keinen Menschen mehr kennengelernt, bei dem Name und Habitus so zueinander paßten. Das war ein Auftritt, wenn der stattliche Mann mit dem runden schwarzen Künstlerhut, dessen Krempe breit wie ein Wagenrad war und den er sommers wie winters auf dem Kopf hatte, einen weiten Pelerinenmantel umgehängt, die Kaiserhofstraße hinunterging, nein, -schritt, die Zeichenmappe unter den linken Arm geklemmt, den rechten Arm in einem weiten Bogen pendelnd und immer wieder den von den Schultern gleitenden Wollschal mit lässigem Schwung nach hinten werfend!

Der im gleichen Haus wohnende Transvestit Didi gab sich da unauffälliger. Tagsüber war er in einem vornehmen Damensalon in der Schillerstraße ein begehrter Friseur; abends, wenn er geschminkt und mit hellblonder Perücke entweder in einem eleganten knöchellangen Abendkleid oder einem enganliegenden Damenkostüm mit Pelzstola, Seidenstrümpfen und hochhackigen Pumps ausging, war es ihm am liebsten, wenn er unerkannt blieb. Aber die Leute in der Kaiserhofstraße wußten es natürlich und hänselten ihn. Er nahm das schweigend und lächelnd hin. Als männlichen Didi kannte auch ich ihn gut und war von der Verwandlung am Abend tief beeindruckt, da sich mit den Kleidern auch sein Gang und sein ganzes Gehabe veränderte, sogar seine Stimme. Hätten mich die größeren Buben nicht auf ihn aufmerksam gemacht, allein würde ich ihn bestimmt nicht erkannt haben.

Als Didi schon längst nicht mehr wagte, sich in Frauenkleidern sehen zu lassen, holten ihn eines Tages SA-Leute von seiner Arbeitsstelle ab und schafften ihn in ein Konzentrationslager. Dort ging Didi, der außerhalb seines Frisiersalons niemandem ein Haar krümmen konnte, elend zugrunde.

Einige Häuser weiter, dort, wo sich Mohrhards Weinstuben befanden, war ein sehr originelles Paar zu Hause, die Eheleute Kummernuß. Zwei kleine Emailschilder neben der Haustür, akkurat untereinander, zeigten an, daß sich das Ehepaar in einer geradezu idealen beruflichen Konstellation befand: er war Detektiv, sie war Astrologin. Beide hatten ihren Arbeitsplatz in der gleichen Dreizimmerwohnung. So konnte sich die Klientel frei entscheiden, ob sie sich im vorderen Zimmer etwas auskundschaften oder im Hinterzimmer, bei etwas ungünstigeren Licht-, aber entsprechend günstigeren Honorarverhältnissen und möglicherweise gleichen Erfolgschancen, aus den Sternen weissagen lassen wollte. Ich kann mir vorstellen, daß sich beider Arbeitsbereiche hervorragend ergänzten.

Ein einziges Mal nur versagte die Astrologin Kummernuß, als der Detektiv Kummernuß eines Tages über seine reichlich unkonventionellen Arbeitsmethoden stolperte, zu denen Aktendiebstahl, Versicherungsbetrug, Beamtenbestechung und in einem Fall sogar Brandstiftung gehörten; da konnte die Astrologin leider nicht beizeiten aus der Konstellation der Sterne voraussagen, daß der berufliche Übereifer des Detektivs im Gefängnis enden werde.

Im gleichen Haus im Mansardenstock wohnte noch der Bäckergeselle Peter Weckesser. Er war aktiver Kommunist, ich glaube Stadtteilkassierer, und mit Mama in der gleichen Straßenzelle der KPD. Er wußte einiges von Papas illegaler Zeit und von unserer jüdischen Herkunft, ahnte aber nichts von Mamas verzweifeltem Bemühen, unsere Vergangenheit unsichtbar zu machen. Auch nach dem Parteiverbot brachte er meiner Mutter noch regelmäßig illegale Flugschriften. Bereits im Sommer 1933 wurde er verhaftet und zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt. 1937 – er war nach seiner Entlassung aus dem Zuchthaus in einen anderen Stadtteil gezogen – begegnete ich ihm auf der Straße. Er fragte mich, ob unserer Familie nach seiner damaligen Verhaftung nichts passiert sei. Er erzählte mir, Geheimpolizisten hätten ihn vor seiner Festnahme längere Zeit überwacht, und viele Parteifreunde, die er in diesen Wochen aufgesucht habe, seien ebenfalls verhaftet worden. Außerdem sei im Bericht eines Polizeispitzels, der während des Prozesses verlesen wurde, auch der Name meiner Mutter erwähnt gewesen. Er war höchst erstaunt, als ich ihm sagte, daß es bei uns nicht einmal eine Haussuchung gegeben habe.

Ich erwähne diese Episode eigentlich nur, weil es eine der ersten gefährlichen Situationen während der Hitlerzeit war, in die wir geraten waren und von denen jede das Schicksal unserer Familie hätte besiegeln können.

In Nummer 14 wohnte ein richtiger Weltmeister. Er hieß Walter Lütgehetmann und hatte sich seinen Titel im Billardspielen, und zwar in Cadre 47/2, was immer das heißen mag, verdient. Mehr ist über ihn nicht zu sagen, denn er war für einen Weltmeister auffallend unauffällig, und man sah ihn nur selten, denn er mußte ja, um in Form zu bleiben, den ganzen Tag in seinem Billardkasino hinter dem Säuplätzchen an der Freßgasse üben.

Im gleichen Haus wohnte einer in Untermiete im Mansardenstock, der Klauer hieß und auch einer war und deswegen einmal für ein ganzes Jahr in die Strafanstalt Preungesheim umziehen mußte. Er hatte das Pech, bei einem Kellereinbruch geschnappt zu werden, als er sich mit dem Eingemachten fremder Leute versorgen wollte. Zu seiner Entlastung ist zu sagen – was kein Staatsanwalt beim Strafantrag und kein Richter bei der Strafbemessung berücksichtigte –, daß er zum Zeitpunkt seiner Straftat bereits zwei Jahre stempeln ging, von zwölf Mark Arbeitslosenunterstützung in der Woche leben mußte und von dem wenigen, was er hatte, regelmäßig noch ein bis zwei Mark für seine Mutter abzweigte, obwohl diese, als sie noch auf den Strich ging, sich nie um ihn gekümmert und ihn in einer Erziehungsanstalt seinem Schicksal überlassen hatte. Jetzt lebte sie in einem Siechenhaus und bekam keinen Pfennig Taschengeld.

Klauer war ein Genie im Basteln von Radiogeräten. Eines Tages baute er auch eines für unsere Familie, mit dem man sogar ausländische Sender empfangen konnte. Er wollte keinen Pfennig dafür haben. »Ihr habt ja auch nicht mehr als ich«, sagte er nur. Noch zehn Jahre später, im Zweiten Weltkrieg, hörten wir mit diesem selbstgebastelten Gerät heimlich Radio Moskau und Radio London.

Eingraviert in ein blinkendes Messingschild machte Joseph Walcker in Nummer 18 darauf aufmerksam, daß er »Hühneraugenoperateur« mit »Behandlung nach vorheriger Anmeldung« sei. Ich hatte schon ein paarmal mit großer Neugierde zugeschaut, wie die junge Frau Schwab in unserem Hinterhaus ihrem dicken, ewig nörgelnden Mann, während ich mit ihrem Stiefsohn »Sechsundsechzig« spielte, die Füße in einer kleinen Zinkwanne mit heißem Wasser einweichte, sie abtrocknete und ihm dann mit einem Rasiermesser, das er selbst vorher an einem Lederriemen abgezogen hatte, die Hühneraugen auf den haarigen Zehen beschnitt. Ich stellte mir vor, was das für ein Leben sei, den ganzen Tag Füße einzuweichen und Hühneraugen zu beschneiden, da änderte auch das klangvolle »Operateur« nichts dran, und Herr Walcker tat mir ein bißchen leid.

Bei der jungen Frau Schwab mit dem unfreundlichen Mann, der gut zwanzig Jahre älter war als sie, fällt mir ein, daß sie mir zum ersten Mal in meinem Leben die Möglichkeit bot, eine nackte Frau von allen Seiten zu betrachten.

Das kam so: Durch das Hinterhaus zog sich ein großer Lichtschacht; auf ihn gingen das Küchenfenster und auf der gegenüberliegenden Seite das Fenster einer Kammer hinaus. So konnte man von der Küche aus bequem in die Kammer hinüberschauen. Diese hatte sich die Familie Schwab zu einem Bad ausgebaut, das aber höchstwahrscheinlich von Herrn Schwab noch nie benutzt worden war.

Eines Tages, als ich wieder einmal mit ihrem Stiefsohn Karten spielte, sagte Frau Schwab, sie gehe jetzt ins Bad. Kaum hatte sie die Kammertür hinter sich verschlossen, zog mich ihr Sohn in die Küche und wies mir einen Platz seitlich zwischen Wasserstein und Fensterrahmen zu. »So kann sie dich nicht sehen«, sagte er leise und stellte sich an die andere Seite des Fensters. Von hier konnte man durch die Spanngardine ungehindert in die erleuchtete Badekammer schauen, wo sich Frau Schwab zu schaffen machte. Sie ließ Wasser in die Wanne ein und begann sich auszuziehen. Mir mit meinen zwölf oder dreizehn Jahren wurde abwechselnd heiß und kalt, als sie sich Kleid und Unterrock über den Kopf streifte, dann am Büstenhalter herumnestelte und mit einem Ruck ihre vollen Brüste hervorquellen ließ, sie in beide Hände nahm, drückte und ein wenig massierte, und schließlich den weißen Schlüpfer auszog und ein dunkelhaariges Dreieck freilegte, riesig groß und regelmäßig wie mit einem Lineal gezogen. Später konnte sie anhaben, was sie wollte, Hose, Rock oder Mantel, geblümt, gestreift oder einfarbig, ich sah immer nur, wenn ich ihr begegnete, das große schwarze Dreieck.

Sie stand in ihrer ganzen Üppigkeit so günstig zum Fenster, daß ich sie von Kopf bis Fuß genau betrachten konnte, jede Einzelheit, jedes Härchen, jeden Pickel, jede Falte. Trotz der roten Striemen des Schlüpfergummis an Bauch und Schenkeln und, wo die Träger des Büstenhalters gesessen hatten, an den Schultern, war sie für mich makellos, schön wie die Venus von Milo und erregend wie die Fotos an der Nachtbar. Jede ihrer Bewegungen löste ein Zucken in meinem Kopf aus, im Bauch und in den Knien. Sie hatte es gar nicht eilig, in die Wanne zu steigen, bückte sich nur einmal und drehte, während die schweren Brüste im Rhythmus der Bewegungen pendelten, die Wasserhähne zu. Dann wandte sie sich wieder zu uns um. Sie spreizte ein wenig die Beine, reckte sich und zeigte dabei ihre dunklen Haare in den Achselhöhlen, knetete Bauch und Schenkel, rieb sich mit beiden Händen zwischen den Beinen – und dann erst bequemte sie sich, das Bad zu beginnen. Ganz langsam stieg sie über den Wannenrand, wobei sie uns noch einmal die pralle Rundung ihres Hinterns entgegenstreckte, und versank bis zum Hals im Wasser. Ein solches Schauspiel hatte ich noch nie erlebt und war vor Erregung einer Ohnmacht nahe. Das gleiche passierte noch zwei- oder dreimal und lief immer ähnlich ab, und ich zitterte, Frau Schwab könne uns irgendwann einmal entdecken. Erst viel später kam mir der Gedanke, ihr Badeeifer am hellichten Tag sei kein Zufall gewesen, sondern ein geschicktes Arrangement. Vielleicht hatte ihr unbefriedigtes Sexualleben sie zu diesen exhibitionistischen Spielen veranlaßt. Jedenfalls verschaffte sie mir damit ein außergewöhnliches Erlebnis.

Wenn aus dem ersten Stock des Hauses Nummer 18 häufig schrille Laute zu hören waren, dann kamen sie nicht, wie die Buben der Kaiserhofclique behaupteten, aus dem Behandlungszimmer des Hühneraugenoperateurs, sondern sie gehörten den beiden unverheirateten Damen aus dem Opernhauschor, die in der gleichen Etage wohnten und immer üben mußten, um bei Stimme zu bleiben.

Noch vieles wäre aus unserer Straße zu berichten, zum Beispiel von der Zigeunerfamilie mit den vielen Kindern aus Nummer 20, die bei ihrem Abtransport durch die SA so herzzerreißend weinten und schrien, daß man hätte mitweinen können, und die von den SA-Leuten nur mit Gewalt in das Transportauto gezerrt werden konnten; oder von der dicken ehemaligen Opernsängerin in Nummer 17, die immer mit drei kleinen Hunden an einer dreigeteilten Leine ausging; oder von dem Stadtsekretär in Nummer 16, der seine Wohnung zu einer einzigen großen Volière umgebaut hatte und dem die flatternden Exoten wichtiger waren als seine Frau. Sie ließ sich darum auch von ihm scheiden, nachdem sie eines Tages ein Fenster geöffnet und einigen der wertvollen Vögel die Freiheit gegeben hatte.

Sie alle und viele andere Mitbewohner prägten so unverwechselbar die Kaiserhofstraße, daß sie sich deutlich von den Parallelstraßen, der Meisengasse und der Kleinen Hochstraße, unterschied.

Leben und Tod eines Don Juan

Uns gegenüber, in Nummer 13, befand sich das Sattlergeschäft von Gustav Lapp, vorne der Laden, hinten die Werkstatt. Benzinautos und elektrische Straßenbahnen hatten das Pferd aus den Städten verdrängt, und damit war allmählich auch des Sattlermeisters Existenzgrundlage geschwunden.

Gustav Lapp war nicht einfach nur ein Sattler, er war ein Künstler seines Fachs. Selbst unter den wenigen, die der hochherrschaftlichen Frankfurter Gesellschaft Sättel nach Maß anfertigten, nahm er eine Sonderstellung ein. Aber diese Zeit war vorbei. An sie erinnerte nur noch ein ausgestopftes braunes Rennpferd, die Attraktion seines Schaufensters – ich übertreibe nicht, wenn ich sage: der ganzen Straße. Auf dem Rennpferd, das wie lebend aussah, war ein Sattelzeug, wie ich es seitdem nie mehr gesehen habe. Es war Gustav Lapps Meisterstück.

Die feurige Araberstute zog die Aufmerksamkeit so sehr auf sich, daß man kaum noch einen Blick für die anderen selbstgefertigten Ledersachen hatte, die rund um die schlanken Fesseln des Pferdes ausgelegt waren. Man konnte auch leicht die gerahmten Landschaften und Stilleben in Wasserfarben, Kreide oder Strichtechnik übersehen, die an den Seitenwänden des Schaufensters hingen und so gar keinen Bezug zu den übrigen Ausstellungsstücken hatten. Gustav Lapp malte nämlich in seiner Freizeit und hängte einige seiner Bilder unauffällig zu der Stute ins Schaufenster.

Er dachte nicht daran, das aufzugeben, was er vom Vater übernommen hatte und was sein Lebensinhalt gewesen war. Lieber stand er stundenlang unbeweglich in der Nische seiner Eingangstür, ein Standbild seiner eigenen Vergangenheit, und wenn man sich die Trennwand zwischen Nische und Schaufenster wegdachte, dann sah es aus, als flüstere das treue Rennpferd seinem Herrn etwas ins Ohr.

Im ersten Stock, unmittelbar über dem Laden, hatte er seine Wohnung. Dort lebte er mit seiner zwei Jahre älteren Schwester Helene. Beide waren unverheiratet, und sie machte ihm den Haushalt. Als die Mutter sehr früh starb, Gustav war noch nicht in der Schule, hatte Helene ihn schon versorgt. Das tat sie sehr intensiv. Inzwischen war er fünfundsechzig, und sie tat es noch immer. Sie war eine liebe Frau mit einer sanften, verzeihenden Stimme, aus der, was sie auch sagen mochte, ein Vorwurf herauszuhören war. Das Verzeihen hatte sie in vielen Jahren lernen müssen, denn Gustav machte ihr Kummer, sobald er sich mit Frauen abgab. Mit ihrer sanften Stimme und mit Beharrlichkeit schaffte sie es erstaunlicherweise immer wieder, daß er seine Affären nach einer gewissen Zeit beendete und bei ihr blieb.

Obwohl Helene jeden Morgen das schöne Fell des Rennpferdes mitsamt der Mähne und dem stolz geschwungenen langen Schwanz bürstete und mit einem Wollappen das Lederzeug mit den Messingbeschlägen auf Hochglanz brachte, war ihr Arbeitstag nicht recht ausgefüllt, es gab ja niemanden, der Schmutz machen konnte. So lag sie manche Stunde des Tages im Fenster der guten Stube, in die außer ihr und gelegentlich Gustav niemand hineinkam. Das einzige, was Helene sich dort erlaubte, war, das Fenster zu benutzen. Sie hätte bestimmt das danebenliegende und ebenfalls zur Straße führende Schlafzimmerfenster zum Hinauslehnen benutzt, wenn sie nicht befürchtet hätte, daß das leicht mißdeutet werden könnte, denn in der Regel lehnten sich nur unsolide Frauenspersonen zum Schlafzimmerfenster hinaus.

Direkt über der Eingangstür zur Sattlerei lag Helene mit verschränkten Armen auf einem eigens zu diesem Zweck bereitliegenden Zierkissen und schaute auf die Straße hinunter. Wenn ich aus unserer Einfahrt herauskam und Gustav Lapp in seiner etwas erhöhten Eingangstür sah und genau obendrüber Helene am Fenster, hatte ich den Eindruck, sie könnten auch ein einziges Wesen sein, mit zwei Köpfen übereinander, die durch eine unsichtbare Stange verbunden waren.

An den Sonntagen schaute Gustav ebenfalls aus dem Fenster auf die Straße, nur mit dem Unterschied: das Fenster blieb dabei geschlossen, und er saß nicht, sondern stand hinter der Scheibe und sah hinaus, und immer war er allein. Wenn er am Fenster war, ließ Helene sich dort nicht blicken.

Gustav Lapp hatte ein Auge auf Johanna Volk, die genau gegenüber wohnte, in unserem Haus, und wie er im ersten Stock. Sie war des letzten Rothschildschen Silberdieners einzige Tochter. Es gelang Gustav, seine Schwester zu überreden, hin und wieder Johanna zum Kaffee, zu einem Spaziergang oder auch mal zu einem Ausflug einzuladen.

Eines Sonntags verabredeten sie sich zu einem größeren Spaziergang mainabwärts. Man wollte bis nach Niederrad laufen und auf Gustavs Vorschlag dort in der Gaststätte »Frauenhof« einkehren. Dort spielte zum Nachmittagskaffee eine Damenkapelle. Star der Truppe war eine spanische Geigerin. Alles war spanisch an ihr, ihre Abstammung, ihre schwarzen Zigeunerhaare, in denen eine rote Rose steckte, ihr Geigenspiel, ihr Temperament, spanisch jedes ihrer mindestens achtzig Kilo, die sie mit sich herumschleppte und in ein teerosengelbes, schwarzpaspeliertes Seidenkleid gezwängt hatte, in das normalerweise nur sechzig Kilo paßten.

Johanna bemerkte sehr bald, daß Gustavs Interesse ausschließlich der spanischen Geigerin galt. Auch diese war auf Gustav aufmerksam geworden und kam an den Tisch, um extra für die kleine Gesellschaft aus der Kaiserhofstraße ein Solo zu spielen.

Eine halbe Stunde später war die Nachmittagsmusik zu Ende. Während die Damen ihre Instrumente einpackten, entschuldigte sich Gustav für einen Augenblick und verschwand dort, wo es zu den Toiletten ging; auch die Damenkapelle zog sich zurück. Gustav kam nicht wieder, und Johanna drängte zum Aufbruch. Ohne ihn fuhren die beiden Frauen mit der Elektrischen nach Hause.

Als Gustav spät in der Nacht heimkam, machte ihm die Schwester heftige Vorwürfe. Aber diesmal ließ er das Gezeter nicht wortlos über sich ergehen. Er verbat sich jede Einmischung in seine Angelegenheiten und schrie sie an, daß man es bis zur Freßgasse hören konnte.

In diesen Minuten brach für Helene eine Welt zusammen. Ein Leben lang hatte sie alles für ihren Bruder getan, hatte sich für ihn aufgeopfert, und als Dank dafür gab er ihr jetzt einen Tritt. Sie bekam einen Weinkrampf, dem eine schlimme Herzattacke folgte, und Gustav mußte Doktor Maier in der Bockenheimer Landstraße aus dem Bett klingeln, der sie mit Spritzen und Tabletten wieder beruhigte.

Helene, die selbst vom Leben so stiefmütterlich behandelt worden war, hatte instinktiv die Gefahr erkannt, Gustav durch diese späte Leidenschaft zu verlieren, und wenn er ging, hatte das Leben für sie keinen Sinn mehr. Aber Gustav blieb fest. Die seit seiner Jugend geübte Rücksicht auf die Schwester galt nicht mehr. Jeden Abend ging er nun zu seiner Freundin, zeigte sich öffentlich mit ihr und brachte sie sogar, zum Entsetzen Helenes, mit nach Hause.

Erstaunlicherweise wurde die spanische Musikerin aus dem »Frauenhof« eine liebevolle Partnerin Gustavs. Wenn sie ihr teerosenfarbenes Kleid, sozusagen ihre Arbeitskleidung, abgelegt und die Papierrose aus dem Haar genommen hatte, wurde aus der temperamentvollen Carmen eine ganz normale und sympathische Frau. Um mit Gustav zusammenbleiben zu können, verließ sie sogar die Frauenkapelle, als diese wieder auf Tournee ging, und nahm sich in der Hochstraße, ganz in der Nähe von Gustavs Werkstatt, eine Wohnung. Sie wären auch zusammengezogen, hätten nicht beide Rücksicht auf die unglückliche Helene genommen.

Lange hielt Gustavs Glück nicht an, acht oder zehn Wochen. Dann geschah das Schreckliche – schrecklich für die, die es überlebten: Gustav erlitt eines Nachts im Bett seiner Carmen einen Herzanfall und starb in ihren Armen.

Von diesem Schicksalsschlag erholte sich Helene nicht mehr. Sie siechte dahin, kaum ein halbes Jahr später starb auch sie.

Die traurige Carmen aber packte ihre Sachen, fuhr der Frauenkapelle nach und zwängte sich wieder in ihr teerosenfarbenes Seidenkleid mit den schwarzen Spitzen.

Ein Schatten an der Hauswand

Wenn ich aus dem Fenster unserer Hinterhauswohnung hinaussah, hatte ich, etwa in acht Meter Entfernung, die graue rissige Fassade des Vorderhauses vor mir, und ich mußte, obwohl wir im zweiten Stock wohnten, den Kopf weit zurücklegen, wenn ich ein Stück Himmel sehen wollte. Vor fast allen Fenstern mit den häßlichen Spanngardinen waren Leinen gezogen, auf denen immer viele Wäschestücke hingen. Flaschen, Kannen, leere Blumentöpfe und anderer Kram stand auf den Fensterbänken herum. Aus dem vergitterten Waschküchenfenster im Hof zogen Dampfschwaden die Hauswand hoch, so daß an dieser Stelle der Verputz faulte und abbröckelte. Auf gebogenen Rundeisen staken paarweise angeordnete Porzellanisolatoren, die in der Dämmerung wie Katzenaugen aussahen und über die sich elektrische Leitungen zum Hinterhaus spannten. So war es in allen Hinterhöfen, sie nahmen sich gegenüber den protzigen sandsteinverzierten Straßenfassaden trist aus. In der Mitte des Vorderhauses zogen sich wie eine schmale Leiste die hohen Treppenhausfenster bis unter das Dach, wo ein kleineres rundes Fenster den Abschluß bildete. Wenn ich die Augen schließe, sehe ich einen Schatten an diesem runden Fenster. Von diesem Schatten möchte ich erzählen.

An einem kalten Morgen des Jahres 1924 gab es im Vorderhaus große Aufregung. Autos hielten vor der Toreinfahrt, Männer liefen die Treppen hoch, und neugierig steckten Frauen und Kinder die Köpfe aus den Wohnungstüren. Dann war ein Lärm auf dem Mansardenstock, man klopfte mit Fäusten gegen eine Tür, und eine Stimme rief: »Aufmachen! Polizei!« Einen Augenblick Stille, dann noch einmal: »Aufmachen! Polizei!« Türen wurden geschlagen, Männer schrien: »Haltet ihn!«, und ein Mann hastete die Treppe hinunter.

Es war ein seit langem von der Polizei gesuchter Betrüger. Einige Wochen vorher war er als Untermieter des Hauptbuchhalters Apfelstedt, der in seinem Leben noch nie etwas mit der Polizei zu tun gehabt hatte, wie seine Frau hernach ausdrücklich festgestellt haben wollte, in dessen Mansarde eingezogen. Niemandem war der etwa vierzigjährige Mann aufgefallen, der seine Miete pünktlich im voraus bezahlte, sich immer korrekt kleidete, freundlich grüßte und einmal sogar Frau Walter die schwere Einkaufstasche in den zweiten Stock hinaufgetragen hatte. »Das sind oft die Schlimmsten, die sich so harmlos geben, als könnten sie keiner Fliege etwas zuleide tun«, sagte, als schon alles vorbei war, unsere Hinterhausnachbarin, die Gewerkschaftsfunktionärswitwe Schmidt.

Was der Mann genau getan, wie er und wen er betrogen hat, das weiß ich nicht, das wußte auch sonst keiner im Haus. Doch es war auch nicht so wichtig, Hauptsache, die Polizei hatte seinen Schlupfwinkel ausfindig gemacht und war gekommen, ihn zu verhaften. Aber er riß sich von dem Polizisten, der ihn bereits am Arm gepackt hatte, los und flüchtete. Die Kriminalbeamten waren darauf gefaßt und hatten auch unten an der Treppe Posten aufgestellt. Er sah, daß ihm der Fluchtweg abgeschnitten war, und rannte wieder die Treppe hoch. Vielleicht glaubte er, über das Dach entkommen zu können. Oben standen, mit entsicherten Pistolen, die zwei Kriminalbeamten und schrien ihm zu: »Stehenbleiben!« Da riß er das kleine runde Fenster am letzten Treppenabsatz auf und zwängte sich zwischen zwei Eisenstäben hinaus. Er tat einen gräßlichen Schrei und ließ sich fallen. Ein Polizist hatte noch versucht, ihn am Fuß festzuhalten, aber es war zu spät gewesen.

Wir im Hinterhaus bekamen natürlich den Lärm und das Schreien im Vorderhaus mit, hatten aber keine Ahnung, was geschah. Auch ich starrte zum Fenster hinaus und versuchte, mit Hilfe eines Fußschemels in den Hof zu schauen. Da plötzlich schrien die Leute auf und auch Mama, die hinter mir stand und mich festhielt, und ich sah einen länglichen Schatten, der sich unterhalb des Daches von der Wand des Vorderhauses löste und in den Hof hinabfiel. Der Mann lag auf dem Rücken, die Arme ausgebreitet. Zweimal noch schlug er die Arme zusammen, so wie man sich im Winter wärmt, wenn man kalte Hände hat. Dann bewegte er sich nicht mehr.

Jetzt erst merkte Mama in ihrer Erstarrung, daß ich alles mitbekommen hatte, und zerrte mich vom Fenster weg. Für mich war das, was sich in den letzten Sekunden abgespielt hatte, durchaus nicht entsetzlich, nur sehr aufregend, und ich lief an das andere Fenster im vorderen Zimmer, um sehen zu können, was weiter geschah. Männer kamen in den Hof, immer mehr, einer brachte aus der Weinhandlung einen großen Bogen Packpapier und legte ihn über den Körper. Später kamen Leute mit einem Sarg – ich weiß noch, daß sie schwarze Schildmützen und graue Kittel anhatten –, legten ihn da hinein und trugen ihn weg. Dort aber, wo der Kopf des Toten gelegen hatte, zwischen dem Hintereingang und der Treppe zum Keller der Weinhandlung, war ein roter Fleck zurückgeblieben. Jemand schüttete einen Eimer Wasser darüber, aber der Fleck blieb, wenn auch etwas verblaßt, deutlich sichtbar.

Auch in den nächsten Tagen und Wochen sah man die Stelle, wo der Körper aufgeschlagen war, sie verschwand nur allmählich. Die Kinder von Nummer 12, die sonst im Hof herumspielten und über die Drückkarren turnten, stellten sich im Kreis um den Fleck und erzählten sich Gruselgeschichten, eine schrecklicher als die andere. Von Ermordeten mit Messern im Rücken und Messern im Bauch; von Selbstmördern, deren Geist durch die Keller spukte, weil Selbstmörder keine Ruhe finden und, wenn sie keine Lust zum Spuken haben, hinter den aufgeschichteten Briketts sitzen; von Toten, die nur scheintot waren und im Sarg wieder aufwachten. Da begann ich, mich vor der Stelle zu fürchten, erst recht, als irgendwer aufbrachte, man dürfe nicht auf sie treten, sonst sterbe man in diesem oder im nächsten Jahr. Dieses Tabu beachteten wir sehr lange, Monate später noch, als keine Spur vom Blut mehr zu sehen war. Um nicht versehentlich draufzutreten, schoben wir einen Handkarren über die Stelle.

Doch die schlimmste Gruselgeschichte erfand Kurt Katscher, der Druckereibesitzerssohn aus dem Vorderhaus. Wir sollten uns einmal vorstellen, sagte er, daß der Mann, der sich zwischen den Gitterstäben hindurchzwängte, nicht fallen konnte, weil er mit dem Fuß in den Stäben hängengeblieben war. Niemand könne ihn zurückziehen, weil der Fuß verklemmt sei, und nach unten fallen könne er auch nicht. Da hänge er nun, mit dem Kopf und den Armen nach unten, zwischen Himmel und Erde und schreie gellend. Und der Schlossermeister Walther aus dem Nebenhaus werde geholt, und er bekomme von der Polizei den Auftrag, die Stäbe, in die der Fuß verklemmt sei, durchzusägen, damit der Selbstmörder fallen könne. Eigentlich war das eine alberne, unwahrscheinliche Geschichte, sie machte aber auf mich einen tiefen Eindruck. Häufig stand ich vom Spielen in der Wohnung auf und ging ans Fenster, um zu sehen, ob der Selbstmörder an den Eisenstäben hing. Ich sah ihn sogar vor mir mit dem Kopf nach unten hängen, wenn ich gar nicht hinschaute. Jahrelang sah ich ihn im Traum da oben am runden Fenster.

Später, in der Nazizeit, als wir in unserer Wohnung wie in einer Falle saßen und jeden Tag darauf warteten, von der Gestapo oder der SA abgeholt zu werden, schaute ich oft, ohne es zu wollen, in den Hof hinunter, ob nicht gerade in dem Augenblick wer käme, uns zu holen. Wenn ich dann den Kopf hob und die Hauswand hochblickte, sah ich auch am runden vergitterten Fenster einen mit dem Kopf nach unten hängen, der nicht zurück und auch nicht fallen kann. Aber das war nicht mehr der von der Polizei Gejagte, das war ich selbst. Ich nahm die Hände vor die Augen, um den Spuk zu verscheuchen; es war vergeblich, ich sah mich weiter an den Stäben hängen.

Sogar jetzt, während ich diese Erinnerung niederschreibe, sehe ich mich dort mit dem Kopf nach unten hängen.

Die närrische Modistin

Anna Leutze bewohnte in unserem Vorderhaus Hochparterre zwei große Zimmer, einstmals Büroräume, mit den Fenstern zur Straße. In ihnen herrschte eine kaum vorstellbare Unordnung. In dem einen Zimmer waren Tische und Stühle, Bett, Frisierkommode und Vertiko mit Wäsche, Hausrat und Kleidern belegt. Wenn sie mal ein Plätzchen zum Sitzen oder zum Essen brauchte, schob sie den ganzen Kram einfach zusammen. Sie verdiente ihr Geld damit, daß sie allen möglichen Tand auf Damenhüte nähte, Stoffblumen, künstliche und echte Federn, ausgestopfte und nachgemachte Vögel, Pailletten aller Größen und Farben und noch vieles andere, was sie in dem zweiten Zimmer, ihrem Arbeitsraum, in Dutzenden von Schuhkartons, die Schränke und Regale füllten, aufbewahrte. Im Auftrag einiger Frankfurter Hutgeschäfte machte sie daraus Frühlings-, Sommer- und Herbstarrangements. Überall auf dem Fußboden standen die Hutkartons herum.

Anna Leutze war eine hagere, häßliche Frau, ihr Alter war schwer zu schätzen, vielleicht war sie vierzig, vielleicht fünfzig Jahre alt. Und sie war ein wenig verrückt. Diese Verrücktheit verband sich mit einer übertriebenen Zuneigung zu Kindern. Sie zog sich selbstgeschneiderte Kleider an, mit Vorliebe aus schwarzem Spitzenstoff, auf die sie große bunte Blumen genäht hatte, setzte sich den größten Hut ihrer Kollektion auf mit ausladenden Pleureusen in Süßlila und ging nie ohne einen rüschenbesetzten Sonnenschirm aus dem Haus. Auffällig war auch ihr tänzelnder Gang. Sie machte ganz kleine Schritte und bewegte den Oberkörper geziert nach links und rechts, wie wenn ein Mann die Gehbewegungen einer Frau nachmacht. Rief einer von uns Buben ihr in einem bestimmten Singsang »Anna Anna Leutze« nach, dann spannte sie ihren Sonnenschirm auf, nahm ihn mit zwei Händen über die Schulter, lächelte dem Kind neckisch zu und verstärkte ihre Tänzelschritte.

Ihr Wohnzimmer mit der phantastischen Unordnung war Treffpunkt aller Kinder unseres Hauses. In Anna Leutzes Zimmer hielten sich ständig fünf, sechs Kinder auf, die machen durften, was sie wollten. Wir spielten am liebsten Verstecken in Schränken, in der Kommode oder unterm Bett, und sie schimpfte nur freundlich, wenn wir in ihr Arbeitszimmer wollten, denn sie hatte täglich eine bestimmte Anzahl Hüte anzufertigen und mußte sich sputen. Oft spielten wir auch Theater und benutzten dazu ihre Kleider. Auch dagegen hatte sie nichts. Ab und zu kam sie zu uns herüber, um uns zu ermahnen, nicht so laut zu sein, damit sich die Nachbarn nicht beschwerten, oder um uns Kekse und ein Glas Himbeerwasser zu bringen.

Auch sonst zeigte sich ihre merkwürdige Schwäche für Kinder. So ging sie an keinem Kinderwagen vorbei, ohne sich hinunterzubeugen, mit dem Säugling zu schäkern und dann der Mutter einige Worte des Entzückens über das Kleine zu sagen. Wenn sie sah, wie ein Kind geschlagen wurde, mischte sie sich grundsätzlich immer ein und machte den Großen heftige Vorwürfe.

So war sie, närrisch, lieb und harmlos. Viele Jahre lebte sie friedlich unter uns, bis einer der Burschen aus der Kaiserhofclique entdeckte, daß man an der Straßenfront des Hauses über einen Absatz in ihr Fenster klettern konnte. Von da an hockten immer einige aus der Clique in ihrem Zimmer herum oder saßen auf der Fensterbank und ließen die Beine nach draußen baumeln. Sie war machtlos dagegen und mußte die Burschen gewähren lassen. Jetzt wurde in Anna Leutzes Wohnzimmer nicht mehr Krankenhaus oder Schule, Verstecken oder Theater gespielt, jetzt wurden böse Streiche ausgeheckt und Straßenkämpfe gegen die Meisengassenclique beraten.

Auch ich gehörte zur Kaiserhofclique, obwohl ich jünger als die andern war und außerdem klein, schmächtig und verängstigt. Ich prügelte mich nicht, wurde immer nur von den Jungen der Meisengassen- oder Hochstraßenclique verprügelt, wenn sie mich erwischten. Die Prügel bekam ich, weil ich der Kaiserhofclique angehörte. Sie taten mir aber auch Schlimmeres an. Eines Tages beispielsweise schnappten mich zwei von der Meisengassenclique und zwangen mich, mit in die Zwingergasse zu gehen. Ganz hinten, wo einige alte Schubkarren standen und uns niemand sehen konnte, drehte mir einer beide Arme nach hinten. Der andere knöpfte sich in aller Ruhe den Hosenlatz auf, holte seinen Pimmel heraus und pißte mir gegen die Beine. Die beiden Meisengässer wollten sich totlachen, als ich betröppelt und weinend abzog.

Ich vermute, die Großen hatten mich nur darum in die Kaiserhofclique aufgenommen, um jemanden zu haben, den sie herumkommandieren und auf dessen Kosten sie sich lustig machen konnten. Ich empfand deutlich das Entwürdigende ihrer Späße mit mir, war aber nicht imstande, mich dem zu entziehen, denn aus der Clique konnte man nicht freiwillig austreten, man konnte nur ausgestoßen werden.

Die Jungen von der Clique – Holle, Schorschi, Hans, Paul und wie sie alle hießen – waren nicht böse, sie langweilten sich einfach. Ihre Eltern, meist Geschäftsleute mit dem Kopf voller Sorgen um den täglichen Umsatz, hatten nie Zeit für sie. Oder sie kamen aus den dunklen Hinterhäusern mit zu vielen Menschen auf zu kleinem Raum und waren um jede Stunde froh, die sie aus diesem Zuhause flüchten konnten.

Alles Gezeter, alle Verbote der närrischen Modistin halfen nichts, die Burschen kamen trotzdem, und sie kamen grundsätzlich nur noch durchs Fenster. Wenn Anna Leutze einmal gar zu sehr schimpfte, drängte man sie kurzerhand in ihr Arbeitszimmer, schloß es ab und schüchterte sie zudem noch mit wilden Drohungen ein. Die Clique trieb es immer ärger, und eines Tages kam irgendwer auf die Idee, im Zimmer ein Lagerfeuer zu machen. Einer holte ein Küchenblech aus dem Herd, ein anderer brachte Papier und Holz, und dann machten sie auf dem Blech ein »Feuerchen«.

Anna Leutze stürzte aus ihrem Arbeitsraum, schrie wie eine Besessene, nahm einen Handfeger und schlug auf die Burschen ein. Die rannten lachend davon und entwischten durchs Fenster. Nur einer, der nicht schnell genug war, bekam noch einige Schläge mit dem Handfeger auf den Rücken und verstauchte sich beim Hinunterspringen auf die Straße den Fuß. Im Davonhumpeln schrie er, daß es in der ganzen Nachbarschaft zu hören war: »Die Alte ist übergeschnappt! Die Alte ist übergeschnappt!«

Die Hausbewohner, die keine Ahnung hatten, was in der Wohnung vorgefallen war, glaubten, Anna Leutze sei nun ganz verrückt geworden, und jemand verständigte die Polizei. Kurze Zeit später erschienen zwei Beamte vom nahen Revier. Anna Leutze hatte mittlerweile, in großer Erregung mit sich selbst redend und die Burschen verfluchend, das Feuer gelöscht. Sie holte eben vom Treppenflur einen Eimer Wasser, denn sie hatte in der Wohnung keinen eigenen Wasseranschluß. Die Polizisten klopften an ihre Tür und verlangten Einlaß. Sie schrie: »Niemand kommt mir rein! Niemand!« Doch die Polizisten drückten mit Gewalt die Tür auf. Anna Leutze schüttete ihnen den Eimer Wasser entgegen. Da verzichteten die beiden auf ein Protokoll und zogen sich zurück.