cover

Inhalt

[Cover]

Titel

Widmung

Die Liebenden von Allerheiligen

Die Rückkehr

Die Liebenden von Allerheiligen

Der Untermieter

Im Café de la République

Die Einsamkeit des Magiers

Ein passendes Versteck

Das Leben auf der Insel Grimsey

Dank

Autorenporträt

Übersetzerporträt

Über das Buch

Impressum

Titel.jpg

Für Mariana

Die Liebenden von Allerheiligen

Die Rückkehr

But homesick unto death.

WITTER BYNNER

The Patient to the Doctors

Das Folgende trug sich zu, als Madame Michaud aus dem Gefängnis zurückkehrte. Schauplatz war Les Houx, das Anwesen der Familie Michaud, und keine belgische Zeitung berichtete davon. Die Vorgeschichte liegt neununddreißig Jahre zurück und war damals in aller Munde gewesen, doch heute wird sich außer der Familie niemand mehr daran erinnern.

Les Houx ist ein Gut, an die drei Hektar groß, das Madame Michauds Urgroßvater Ende 1860 erworben hatte, als Belgien noch jung war und im Bistum Lüttich angrenzendes Land recht unbürokratisch vergeben wurde. Dort lebte Madame Michauds Großvater bis zu seinem Tod, ebenso ihr Vater. Dort kamen Madame Michaud und ihre jüngere Schwester Sara zur Welt, dort lebten sie, bis Madame Michaud kurz nach ihrem vierzigsten Geburtstag im September 1960 – ein Jahrhundert war vergangen, seit die Familie das Anwesen erworben hatte, ihr Wahrzeichen und ihr Stolz – des Mordes an Saras Verlobtem angeklagt wurde. Man befand sie für schuldig, den Mann mit Rattengift getötet zu haben, das in den Ställen von Les Houx verwendet wurde, und verurteilte sie.

Madame Michauds Vorname spielt keine Rolle, Familienname und -stand jedoch sehr wohl. Michaud war ihr Nachname, der auch über dem Eingangstor des Anwesens prangte: Les houx, propriété privée. Famille Michaud, 1860. Bis zu dem besagten September war Madame Michaud noch Mademoiselle Michaud gewesen. Einen Verehrer hatte sie, soweit bekannt, bis dahin nicht gehabt, wenige Männer besuchten sie mehr als einmal, aber niemand hielt es für unmöglich, dass sie auch mit vierzig noch heiratete, denn das Land von Les Houx war eine hervorragende Mitgift und machte beide Töchter zu einer guten Partie. Doch als man erfuhr, dass Mademoiselle Michaud zu fünfundvierzig Jahren Haft verurteilt worden war, schlich sich den Leuten das Madame auf die Zunge. Es war eine Mischung aus Respekt und Mitleid mit einer Frau, die nicht mehr heiraten und nicht weiter Fräulein genannt werden konnte, während sie im Gefängnis alt wurde. Madame Michaud wurde sechs Jahre vor der Zeit entlassen, und alle Welt wusste, ihr erstes Ziel würde Les Houx sein.

Die Liebe, die sie von klein auf zu dem Haus und seinen Ställen, den Feldern und Wäldchen empfand, ja sogar zur nackten Erde an der Landstraße, diese maßlose Liebe, sollte ihr zum Verhängnis werden. Seit sie laufen konnte, war es ihr bevorzugter Zeitvertreib, allein durch die Winkel des Hauses zu streifen. In dem gewaltigen Bau gab es kein Eckchen, das sie nicht gekannt und mit verbundenen Augen gefunden hätte. Kein Kunststück, mag der meinen, der noch nie im Haus von Les Houx war. Deshalb sei betont, dass es zwei Stockwerke besaß, zwei Treppen, die ins erste führten (eine von der Küche, die andere von der Vorhalle aus), und eine weitere, auf der man direkt ins Dachgeschoss kam. Das Gebäude hatte eine geometrische Form, ein kompaktes Rechteck, hermetisch wie ein Tresor, doch sein Innenleben war unberechenbar, voller Nischen und überraschender Winkel. Es gab ein türloses Zimmer, in das man durch die Rückwand eines Schranks gelangte. Dort hatte der Großvater um die Jahrhundertwende seine Kartoffeln und Kohlköpfe versteckt, um den Preis in die Höhe zu treiben, und der Vater während des Zweiten Weltkriegs ein jüdisches Pärchen. In der Zwischenzeit hatte das Zimmer dem Mädchen gehört. Sie war von Natur aus gern allein, und nicht einmal ihre Schwester wusste, wo sie zu finden war, wenn zu Tisch gerufen wurde oder jemand etwas von ihr wollte. Man wusste, dass sie im Stall gewesen war, wenn sie nach Heu und Dung roch; dass sie den Morgen im Wäldchen verbracht hatte, wenn ihre Kleider von Kiefernzapfen zerrissen oder vom Harz verdorben waren. Als sie herangewachsen war, machten sich die Eltern Sorgen. Mademoiselle Michaud wurde zu allerlei Ärzten geschickt, sogar zu einem angehenden Psychoanalytiker, denn keiner konnte begreifen, warum ein junges Mädchen von neunzehn Jahren den lieben langen Tag allein blieb, anstatt Freundinnen zu besuchen. Niemand verstand, warum man sie in dem riesigen Haus niemals am selben Ort aufstöbern konnte; niemand verstand, warum sie ihre Sommer damit vergeudete, die drei Hektar zu durchstreifen wie eine Katze, die ihr Territorium markiert. Der Krieg brach aus, und Mademoiselle Michaud wurde plötzlich wichtig für den Alltag in Les Houx: Während der nächtlichen Bombenangriffe, wenn überall Stromsperre herrschte, damit die Flieger keine Ziele ausmachen konnten, war sie die Einzige, die im Dunkeln verlorene Gegenstände finden oder das Anwesen durchqueren konnte, wenn die Pferde gefüttert oder dem Gutsverwalter Anweisungen gegeben werden mussten. 1949, als der Vater der jungen Michaud-Damen starb, übergab die Mutter, die sich um derlei Angelegenheiten nie gekümmert hatte, die Verwaltung des Anwesens der einzigen Person, die etwas davon verstand; und Mademoiselle Michaud hatte somit eine perfekte Ausrede, die Heiratsambitionen der jungen Männer aus Ferrières, Lüttich oder sogar Löwen zu vergessen oder zu ignorieren. Für sie war es ein paradiesischer Zustand, der einige Jahre anhielt. Nie zuvor und nie mehr wieder erlebte das Gut eine vergleichbare Glanzzeit.

1958 erhielt Sara Besuch von Jan, einem jungen Flamen, dessen Nachnamen sich die anderen Hausbewohner kaum merken konnten: weder die Mutter, die sich nicht die Mühe machte, noch die Schwester, die in ihrer Welt lebte und nicht das nötige Interesse aufbrachte. Zwei Jahre lang fuhr er jeden Dienstag und Samstag in seinem Studebaker vor, Farbe Altrosa, – den er vor dem Haus parkte, wo früher immer der Vater seinen Wagen abgestellt hatte – und blieb bis Einbruch der Dunkelheit. Selten traf er Mademoiselle Michaud an. Sobald sie ihn ins Haus treten sah, verschwand sie. Sie mochte den Mann von Anfang an nicht, doch regelrecht zuwider wurde er ihr, als er an einem Samstag im Sommer bereits am Vormittag ankam, mitsamt einem Trupp Helfer mit Messlatten. Mademoiselle Michaud beobachtete von verschiedenen Winkeln aus, wie sie Berechnungen anstellten, das Land zur Straße hin vermaßen, das Wäldchen oder das noch ungenutzte Gelände, das zu bebauen keinem in den Sinn gekommen war. Am nächsten Samstag wurde weitergemessen, und als Mademoiselle Michaud am Abend ins Haus trat, setzte sie sich ihrer Mutter gegenüber, die seelenruhig in Le rouge et le noir las. Dieses belanglose Detail sollte Mademoiselle Michaud nie vergessen, denn die Mutter schloss das ganze Gespräch über nicht das Buch, ja legte es nicht einmal in den Schoß. Mit geöffnetem Buch, den Rindslederrücken der beunruhigten Tochter zugewandt, erklärte die Mutter, dass Jan (den Nachnamen brachte sie nicht mehr zusammen) um Saras Hand angehalten hatte. Sie habe keinen Grund gefunden, sie ihm zu verweigern, dagegen mehr als einen, sie ihm zu geben. Nach dem Tod des Vaters obliege ihr die Entscheidung, sie müsse niemanden zurate ziehen. Gleich im nächsten Frühjahr werde geheiratet. Die erste Aprilwoche passe allen vorzüglich.

Langsam, vielleicht nicht einmal bewusst, unterzog Mademoiselle Michaud Saras Zukünftigen einer Prüfung. Man mag es Intuition nennen oder auch Misstrauen: das Misstrauen einer Frau (denn damals war Mademoiselle Michaud bereits eine Frau), die niemals Umgang mit Menschen gehabt und ihre Freundschaft letztlich nur an das Dingliche im Haus geheftet hatte, an die Dachbalken und Teppiche, den Kalk an den Wänden und den Schotter im Hof, die Latten des Schuppens. Die Dinge und ihre Anordnung im Raum waren Mademoiselle Michauds einzige Unterhaltung, folglich musste sie die Anwesenheit des Bewerbers und seiner Landvermesser verstören. Sie belauerte das Pärchen, spionierte ihm hinterher und blieb aufgrund ihrer Ortskenntnis unbemerkt. Gleichgültig beobachtete sie, wie sich die beiden, wenn sie allein im Empfangszimmer waren, nicht nur küssten, sondern seine Hand unter ihren Pullover schlüpfte und die ihre in die Tweedfalten seiner Hose. Gegen Ende August beobachtete sie, dass der Verlobte nun früher kam und Sara und er die Mittagsruhe der Mutter ausnutzten, um sich im Zimmer hinter dem Schrank zu verstecken, aus dem hin und wieder zaghaftes Stöhnen drang. Und Anfang September beobachtete sie, wie Jan das Telefon im zweiten Stock für einen geschäftlichen Anruf benutzte. Er redete von dem Augenblick, an dem die Hälfte von alldem ihm gehören würde, redete von der Notwendigkeit, all das unnütze Land ertragreich zu machen. Die erwähnten Einzelheiten wirkten auf Mademoiselle Michaud wie ein Katapult. In den nächsten Tagen musste sie zur Grenze fahren, wo die Preise niedriger waren, um eine größere Ladung Sägespäne zu besorgen. Bei einem Händler bekam sie auch die kleine Mühle, die sie suchte. Nach dem Abendessen war sie wieder zu Hause und schüttete blindlings den Inhalt ihres Tütchens, ein dickes, grobes Pulver, in den Pousse Café des Verlobten. Jan überlebte die Nacht nicht.

Die Mutter war so klug, Sara zu einer Freundin nach Aix-la-Chapelle zu schicken. Der Prozess dauerte nicht lang, denn der Vorsatz war offenkundig, und die Beweislage hätte eindeutiger nicht sein können. Ein Gefangenenwagen brachte Mademoiselle Michaud ins Frauengefängnis bei Charleroi. Die Mutter kam nicht heraus, um sich von ihr zu verabschieden. Ich stelle mir die Frau vor, die bis vierzig in einer Mädchenwelt gelebt, dann jemanden umgebracht hatte, und nun einen letzten Blick auf den Familienbesitz warf. Zwei Tage später kehrte Sara, die immer noch krank vor Übelkeit war, nach Les Houx zurück. Sie schlief nicht mehr, doch das war nicht das Schlimmste. Im Nu hatte die Appetitlosigkeit sie niedergeworfen, ein Arzt musste geholt werden, um ihr Leben zu retten, und eine Therapie begann, die streng eingehalten wurde. Ihre Schwermut war jedoch nicht hartnäckiger als bei anderen, und allmählich kehrte ihr Appetit zurück. Einmal kam es zu einem Malheur. Die Mutter wollte sie zwingen, vom Makronenkuchen zu probieren, den sie bei André Destiné gekauft und den Sara immer so gern gegessen hatte. Sara weigerte sich, begehrte gegen die mütterliche Beharrlichkeit auf, fuchtelte so wild herum, dass ihre Hand einen Keramikkrug vom Tischchen neben der Glastür fegte, regionale Töpferkunst, der ihrer Urgroßmutter gehört hatte. Sie musterte den Kreis auf dem Tisch, der wie ein Mond dort glänzte, wo der Krug all die Jahre reglos gestanden hatte. Von da an schien sie zu genesen. Sie sagte, nun falle mehr Licht ins Esszimmer. Am nächsten Tag stellte sie den Tisch um; eine Woche später heuerte sie drei Arbeiter an, die zusammen mit dem Verwalter die Glastür beidseitig um zwei Meter verbreitern und durch eine Glasfront ersetzen mussten, die vom Parkettboden bis zur Decke reichte.

Nie erhielten sie Nachricht von Madame Michaud – so wurde sie inzwischen allgemein genannt –, und Madame Michaud erhielt keine Nachricht von ihnen. Als wäre sie von ihnen, hieß es, zur qualvollsten Verbannung verurteilt worden, die sich mit der Zeit in bloßes Vergessen verwandelt hatte. Aber so war es nicht: Sara vergaß nie, dass ihre Schwester in einer Zelle lebte, weil sie den Mann vergiftet hatte, der sie glücklich gemacht hätte. Madame Michaud konnte ihrerseits weder die zugewiesene Schuld noch Reue für ihre Tat empfinden. In ihrer Welt gab es solche Werte nicht, denn sie war nicht menschlich: Dinge sind nicht schuldig, Gebäude verspüren keine Reue. Es mag ein Gemeinplatz sein, wenn ich sage, dass sie das Zeitgefühl verlor, aber die Wärterinnen auf ihrem Gang erzählten, dass sie selten in den Hof ging, kaum Kontakt zu Mitgefangenen suchte und grundsätzlich abseits jeder Entwicklung lebte, ohne Teilnahme an der ewig gleichen Welt drinnen oder den Umwälzungen der Welt draußen. Im winzigen Geviert ihrer Zelle erfuhr Madame Michaud nicht, dass ihre Mutter im Winter 1969 eines natürlichen Todes gestorben war, erfuhr nie, dass sie ihr auf dem Totenbett verziehen hatte. Hätte sie sich über die Vergebung gefreut? Man wird es nie erfahren. Ihre Zellengenossin, die bald schon jede Lust verlor, ein Gespräch in Gang zu bringen, erzählt, dass Madame Michaud (deren Haar weiß und deren durchsichtige Haut trocken wurde wie die Rinde eines Eukalyptusbaums) ihre Tage damit verbrachte, einen Bogen Papier auf dem Zellenboden aus- und einzurollen. Auf die eine Seite war ein alter Kalender aus Frankreich gedruckt: 1954 – Dixième anniversaire de la Libération war über den Monaten und Tagen zu lesen. Auf die Rückseite hatte Madame Michaud mit dem Bleistift eine Skizze von Les Houx gezeichnet, so detailliert, dass ihre Zellengenossin beim ersten Blick darauf ausrief, sie kenne den Ort. Das stimmte nicht, aber die Details waren so perfekt, dass sie ihr Gedächtnis überrumpelt hatten. Für die Mitgefangene war es eine flüchtige Selbsttäuschung, für Madame Michaud eine vollkommene: Während der Jahre ihrer Haft lebte sie auf diesem Plan und merkte nicht, wie sie älter wurde. Unschwer kann man sich vorstellen, wie sie sich über Wände beugte, die nichts als ein dicker Strich waren, oder glaubte, sich hinter Mauern zu verstecken, die nicht aus Mörtel und Ziegelsteinen bestanden, sondern aus der sorgfältigen Schraffur eines schräg gehaltenen Bleistifts.

Vermutlich begünstigte gerade Madame Michauds gute Führung paradoxerweise die Vergesslichkeit von Charlerois Gefängnisdirektorinnen. Niemand schien sich in den letzten Jahren der Haft an sie zu erinnern, und wahrscheinlich wären ihr noch viele Jahre mehr erlassen worden, wenn sie vorher selbst einen Antrag gestellt hätte. Als ihre vorzeitige Entlassung beschlossen wurde, hatte sie nur noch sechs Jahre zu verbüßen. Doch zehn Jahre früher hätte man sie ebenso begnadigt: Ihre Führung war immer die gleiche geblieben in diesem kleinen Leben inmitten des großen, das die Haft für ein Tötungsdelikt darstellt. Im Dezember 1998 wurde Madame Michaud in den César-Franck-Saal des Gefängnisses gerufen, wo sie auf eine Reihe von Fragen antwortete, die ihre Bereitschaft prüfen sollten, wieder ein nützliches Mitglied der Gesellschaft zu werden. Am Ende der Sitzung fragte man sie, ob sie vor oder nach Weihnachten entlassen werden wollte. Da die Freiheit so nah war, mochte Madame Michaud keinen Tag länger in Haft verbringen. Die Gefängnisbeamten steckten zu ihren Habseligkeiten (der toilette, in der man sie eingeliefert hatte, und einem Kalender, auf dessen Rückseite der Plan eines Hauses gezeichnet war) einen Umschlag mit dreitausend Francs in Fünfhunderterscheinen. Den 19. Dezember verbrachte Madame Michaud in einem Motel in Charleroi – niemand hatte vor den Gefängnismauern auf sie gewartet –, und vor Tagesanbruch war sie schon bereit für ihre Rückkehr nach Les Houx. (Mit ihren neunundsiebzig Jahren brauchte Madame Michaud nur noch wenig Schlaf und wachte auf, sobald es dämmerte.) Sie musste dem Taxifahrer nicht erklären, wo sich der Familiensitz befand.

Das Taxi fuhr langsam die Auffahrt hinauf, denn es hatte geschneit, und unter dem Schnee lag Eis. Madame Michaud wischte über die beschlagene Scheibe, um das Haus zu sehen, ihr Haus, und stellte sich bestimmt vor, wie sie aufschließen und alles so sein würde, als wäre kein einziger Tag vergangen. Sie stieg aus, schickte den Fahrer jedoch nicht weg, vielleicht, weil sie spürte, dass unter dem Schnee kein Schotter lag, sondern Kies. Doch sie ging weiter, und ihre Hand fuhr automatisch an die Stelle, wo immer der Türriegel gewesen war: Sie griff ins Leere. Es kam ihr sicher unfassbar vor, dass sie das Schloss mit den Augen suchen musste und die Tür erst beim dritten Anlauf öffnen konnte. Gewiss ging ihr durch den Kopf, dass sie unterwegs womöglich nicht aufgepasst hatte und der Fahrer zu einem fremden Haus gefahren war. Sie blickte sich um. Verwirrung stand in ihrem Gesicht. Madame Michaud fühlte sich verloren.

In der Vorhalle, wo zwischen den Treppen immer ein steinerner Engel gestanden hatte, waren keine Treppen mehr, sondern eine Bücherwand aus Lapachoholz, und der Steinengel hatte sich in einen Lesesessel verwandelt. Drei Zimmer teilten sich den Raum, der neununddreißig Jahre zuvor das Wohnzimmer gewesen war: eins für die Jagdwaffen, eins für die Winterkleider und eins, das Madame Michaud nicht näher erkundete, weil es dunkel war und womöglich in die Tiefe tauchte (ein Geländer führte, wie ihr schien, in einen Keller hinab), und sie hatte Angst, sich zu verirren. Das Erdgeschoss war nicht wiederzuerkennen. Madame Michaud war froh, dass sie nicht hinauf in den ersten Stock konnte – sie wusste nicht, wie sie hätte dorthin gelangen sollen – und sich so das blinde Umhertappen ersparte, die Fremdheit, die quälende Fremdheit.

Madame Michaud war nicht allein im Haus, doch die andere hätte sich nicht für alles Gold der Welt gezeigt. Hinter der Fensterrose im Dachgeschoss sah Sara sie ins Freie treten und spürte fast am eigenen Leib die Kälte, die ihrer älteren Schwester ins Gesicht schlug. Saras gierigem Blick entging keine Einzelheit: Madame Michaud stellte fest, dass sich eine Art Unterstand erhob, wo sich in ihrer Erinnerung der Stall der Lusitano-Pferde befunden hatte, entdeckte gleich darauf – und ihre Hand fuhr an die Stirn –, dass dieser Garten mit den schlafenden Pflanzen früher das dichte Wäldchen gewesen war. Zum Glück wartete das Taxi noch, denn sie wusste nicht, ob sie den Weg hinaus gefunden hätte bei all den neuen Pfaden, die zu all den neuen Gebäuden führten, zu all den frischen Bauten, die Sara mit der Geduld einer Künstlerin während der neununddreißig Jahre entworfen und errichtet hatte und von denen die meisten noch leer standen und keinerlei Zweck erfüllten, denn sie waren einzig dazu bestimmmt, in Madame Michauds Geist eine Erinnerung, ein Gefühl zu verdrängen, damit sie sich nun auf dem Rücksitz des Taxis fragen musste, wohin sie gehen sollte, welcher Ort ihr noch blieb auf der Welt.