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Inhalt

[Cover]

Titel

Widmung

Die Eisheiligen

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

Vogel federlos

Es flog ein Vogel
– federlos

der setzte sich auf einen Baum
– blattlos

da kam eine Frau
– fußlos

und nahm ihn gefangen
– handlos

sie hat ihn gebraten
– feuerlos

und hat ihn gefressen
– mundlos

Autorenporträt

Über das Buch

Impressum

Titel.jpg

Für Hedwig Esper †

Die Eisheiligen

1

Das Wasser ist resedagrün und mit Schaum gesprenkelt. Ich stehe neben Kaltesophie und betrachte ein Schiff. Weit draußen ein helles Schiff, ein Leuteschiff, ein Feiertagsschiff, aus dem unverhofft ein dunkles, betäubendes, himmelschreiendes Heulen hervordringt. Ich schlage lang hin und breite die Arme aus. Kaltesophie stellt mich wieder auf und drückt mich mit dem Rücken an eine Hauswand. Wieder und wieder jagt das Schiff dieses Heulen aus sich heraus. Ich halte mir die Ohren zu und höre es trotzdem. Ich bin vollkommen eingehüllt in die Sirenentöne. Ich starre es an und kriege nicht heraus, ob es wegfährt oder sich nähert. Ich will, daß das Schiff aufhört zu brüllen und herkommt. Meine erste Erinnerung ist das Toben einer Schiffssirene auf der offenen See vor Cuxhaven-Duhnen.

Noch jahrelang hat Kaltesophie, wenn Besuch kam, erzählt, wie ich verlorenging. Sie hatte mich am Strand ausrufen lassen.

Geswucht wird ein Mädchen, vier Jahre alt, dunkel, mit einer roten Propellerschleife und langen goldenen Ohrringen. Es ist nackt und streckt den Bauch vor. Wer das Mädchen gesehen hat, melde sich bitte sofort bei der Strandwache.

Dann zeigte sie ein Foto herum, groß wie ein Küchentablett, und ich kroch unter den Eßtisch.

aufessen

aufessen

der Teller wird leergegessen bis zum letzten Happen

rein in den Mund und schlucken

schlucken

schlucken nicht vergessen

kau nicht ewig auf derselben Kartoffel herum

bitte

nimm den Schieber nicht in den Mund

zum Essen ist der Löffel da

mit dem Schieber wird das Essen auf den Löffel

geschoben

rein in den Mund

kauen

schlucken

ich bleibe so lange neben dir sitzen bis der Teller leer ist

Ein Fremder begleitete uns zum Kurkonzert und an den Strand.

Ach, die wunderhübschen Schleifen, die sie trägt.

Die sehen abends auch anders aus als morgens.

Die Augen, die Haare, sie muß aber ganz nach dem Vater kommen.

Nimm deinen Eimer und die Schippe und geh buddeln!

Karl befand sich in Altheide und kurierte sein Herz.

Und die Wärme des Hauses, in dem wir ein Zimmer haben

und die Wärme der Heuschober, wo ich meine Arme reinstecke

und die Wärme des Kuhstalls, wo ich mich verkrieche

und die Wärme in den Milcheimern, wo heimlich meine Hände untertauchen

und die Wärme der Wasserlachen, wo ich bei Ebbe drin sitze

und die Wärme der Modderpampe am Strand

und die Wärme, wie Concordia ankommt, extra von Berlin uns besuchen kommt und mich hochnimmt und mich auf den Brunnenrand setzt

die große Concordia ist da

Concordia, alt, riesengroß, dünn, grauhaarig, in einem langen geblümten Kleid

Concordia in Knopfstiefeln

und die Wärme, wenn sie mich ins Bett bringt und vorsingt.

Maikäfer flieg

dein Vater ist im Krieg

dein Mutter ist in Pommernland

Pommernland ist abgebrannt

Maikäfer flieg.

Eines Tages stehe ich auf dem Gang vor einer Zimmertür. Die Türen gehen auf den Korridor, und mir fährt eine Tür über die nackten Füße. Ich trug dann Badeschuhe, trotzdem habe ich seitdem verkrüppelte Nägel an den großen Zehen.

Kaltesophie ist für ein paar Tage nach Helgoland rübergefahren, und ich habe Concordia für mich allein. Sie geht mit mir im Hafen und überall spazieren. Das Kurkonzert sparen wir uns.

wie es dröhnt und prasselt auf dem Rückweg von der Kugelbake zurück zurück die Seen schlagen über die Mole schlagen an die Steine an die seitlichen Befestigungen schlagen über uns hinweg die See rollt über meinen Kopf hinaus so naß so stark so weich klatscht es mir ins Gesicht ich habe Schaum im Gesicht und sehe nichts mehr Concordia hält mich an der Hand die rutscht ihr dauernd weg dann hält sie mich am Arm zieht mich und die Seen treiben uns an den Rand der Mole Concordia hält mich fest und zurück wir laufen nicht mehr wir waten wir treiben wir stoßen gegen die Wassermengen vor es peitscht mal hoch mal tief vorwärts wir sind selber schon ganz Wasser fliegendes Wasser am Strand liegen alle Körbe auf dem Rücken und keine Spur mehr von einer Burg

Längst wieder zu Hause in Berlin, richtiger: in dem Vorort, der am weitesten nach Osten liegt. Und so stelle ich mir, den späteren Erzählungen nach, folgenden Dialog vor.

Hast du denn erwartet, daß ein Kind, was mit drei erst laufen lernt, dauernd verschwindet und wegrennt und ist unauffindbar?

Weit kann sie ja nicht sein, bist du nicht hinterhergegangen? Hast du sie nicht gesucht?

Das kleine Luder hat sich seit vier Stunden nicht mehr blicken lassen.

Ihre Frau ist überall herumgelaufen und hat gefragt.

Ich wollte erstmal warten, bis du nach Hause kommst.

Warum bist du nicht zur Polizei gegangen, wenn sie nicht in der Nachbarschaft ist?

Damit sich alle den Mund zerfetzen.

Wir gehen jetzt los, soll Tante Mieze hier unten warten, ob sie von allein wiederkommt.

Ich wollte zum Bahnhof, Karl abholen, und bin aus Versehen am Dämeritzsee gelandet. Zwei Mädchen haben mich aufgelesen und nach Hause gebracht. Kaltesophie hat mich nicht geschlagen. Ich habe Karl gesagt, daß ich den ausgebrochenen Spinat wieder aufessen mußte. Kaltesophie hat gesagt, sie lügt doch wie gedruckt, aber sie hat mich nicht geschlagen.

Wir besitzen ein Paddelboot, das ist in einem Bootshaus am Flakensee untergebracht. Wenn wir ausfahren, schlingt Karl eine Wäscheleine um meinen Bauch. »Ich hab dich einmal rausgezogen, das kann auch schiefgehen.« Wir paddeln die Löcknitz rauf und runter. Zwischendurch steigen wir aus und gehen in einem Gartenlokal Kaffee trinken. Oder wir haben Kartoffelsalat mit und halten an einer Badestelle.

Im ersten Kriegswinter hat mir Kaltesophie zu Weihnachten eine überlebensgroße Babypuppe geschenkt, für die sie im Laufe der nächsten drei Jahre so viele Kleider gehäkelt und gestrickt und bestickt hat, daß Karl gezwungen war, mir einen Puppenkleiderschrank zu bauen.

Ihr Haar ist recht dünn und noch zu kurz, aber wenn man ein bißchen zieht, kriegt man schon richtige kleine Zöpfe raus. Sieh mal, Karl, wie das aussieht mit den beiden großen Schleifen. Frau Ederling hat heute, als wir im Laden standen, gesagt, wunderhübsch, wie Sie das Kind anziehen, bestrickt und bestückt von Kopf bis Fuß, und die Schleifen sehen ja aus wie Schmetterlinge. Und das Kleidchen, was ich ihr jetzt häkele, rosaumrandet, wie das zu dem Grün paßt, ich würde es mir am liebsten selber anziehen. Morgen fahre ich mit ihr nach Köpenick rein zu Kepa und suche passende Schleifen aus. Na, nun kommt essen.

sitz gerade beim Essen

Ellbogen vom Tisch

man spricht nicht mit vollem Mund

erst schlucken dann reden

halt die Füße still

kau nicht ewig auf dem einen Bissen herum

beeil dich

wozu ist eigentlich der Schieber da

Im Kindergarten spielen wir »Die Mahlzeit«.

Auf dem Boden liegt ein Apfel, den darfst du dir holen. Aber: du mußt kniend auf dem Boden vorwärts rutschen und mußt dich dem Apfel mit einem Stock in den Kniekehlen nähern. Während du dich kniend auf den Apfel zu bewegst, greifen deine Arme zwischen den Beinen unter dem Stock durch auf den Boden. In dieser Haltung versuche nun, mit dem Mund den Leckerbissen zu erbeuten.

Der Apfel kann auch in eine Schüssel Wasser gelegt werden. Dann wird gefischt, aber kniend und mit dem Mund.

Ich kriege jeden Tag einen Apfel mit, den werfe ich auf dem Weg zum Kindergarten in den Kanal, bis Gisela Mohn mich verpetzt und Kaltesophie mich durchhaut.

Es gibt keine Bananen mehr.

Kaltesophie sagt: Das liegt am Krieg.

Karl sagt: Die Engländer sollten mal eins aufs Haupt kriegen, aber sonst.

Karl fettet die Spazierstöcke ein und breitet Wanderkarten aus. Kaltesophie zählt und sortiert und bügelt und faltet und zählt nochmal nach. Koffer werden gepackt, mein Löffel und der Schieber liegen obenauf. Dieses Jahr fahren wir alle zusammen ins Gebirge. »Klettern, wandern, – sie muß ihre Beine stärken. Pack nicht so viel Kleider ein, Schuhe sind wichtiger.«

Das Gepäck wird mit der Bahn vorausgeschickt und ist nicht da, wenn wir ankommen. »Immer dasselbe«.

Hinter dem Haus, in dem wir zwei Zimmer gemietet haben, erstreckt sich eine endlose Liegewiese bis zum Fuße des Berges, der mit Fichten bestanden ist. Der Wald steht als schwarze Wand vor unseren Fenstern, und je nach Wetter nähert er sich oder entfernt sich. Ich weiß nicht, was derweile mit der Wiese geschieht.

Ich stehe früh auf und laufe ans Fenster, und mit einemmal hängen die Wolken so tief, daß ich darüber deutlich wieder Bäume erkenne. Die Wolken fliegen über die Wiese, rund um das Haus, und über den Wolken Bäume. Die Spitzen der Fichten klettern den Berg hinauf.

Im Haus neben uns, es ist mit Holz verkleidet, beschnitzt und bemalt, wohnt ebenfalls eine Urlauberfamilie. Karl und Kaltesophie haben sich schnell mit denen bekannt gemacht, und ich spiele mit dem Sohn. Der Junge ist älter als ich, größer und heißt Hermann. Vor dem Kaffeetrinken komme ich allerdings nicht zum Spielen, erstmal die Berge rauf und runter.

Karl natürlich vorneweg. An seinem Gürtel hängt ein Emailletäßchen, in seiner rechten Hand läßt er den Spazierstock kreisen, er spielt Propeller und Windmühlenflügel. Sein Stock ist schon voller Plaketten.

Hier wachsen andere Pflanzen, manche haben Blätter wie Regenschirme, und die Farne sind größer als ich.

»Was unter zehn Kilometern ist, kann man nicht als Wanderung bezeichnen. Das ist besseres Spazierengehen, und dazu brauchen wir nicht ins Eulengebirge zu fahren.«

Also weiter getrabt und gesprungen und getrampelt und geschlichen und die Füße durchgescheuert und zurückgeblieben und gejammert und herbeigerufen und gerastet und an einer Quelle aus dem Emailletäßchen Quellwasser getrunken und auf und weitermarschiert und nach dem sogenannten Ausruhen taten die Füße noch viel mehr weh.

Karl natürlich immer noch vorneweg und singt besonders gern, wo er ein Echo erwartet, und singt Lützows wilde verwegene Jagd und ein anderes Lied, von dem ich nur zwei Zeilen erinnere: Und dennoch hab ich harter Mann so manches Mal gewaahahaint.

ich habe Zeit ich kann warten bis du aufgegessen hast

hier wird nichts übriggelassen

bei mir wird aufgegessen

na los schon

kauen ja und schlucken nicht vergessen

sowas habe ich schon einmal erlebt

mit meiner Christa

die sechs Stunden an einer Pflaume herumgekaut hat

sechs geschlagene Stunden an einer Pflaume

wer bin ich denn

das passiert mir nicht nochmal

bei mir wird alles aufgegessen

Kaltesophie neigt den Kopf und sagt, den Mund voller Torte: Gut, du darfst aufstehen.

In meiner Erinnerung, und die trügt wahrscheinlich, standen mindestens hundert Tische im Gartenlokal. Alle Sommergäste bei Kaffee und Kuchen unter Linden oder Kastanien oder Ahornbäumen, in blitzsauberen Kleidern, einander in Fröhlichkeit, die von Tisch zu Tisch sprang, überbietend, und die und wir Schnurrbärte aus Sahne und braungebrannt.

Darf ich aufstehen?

Kannst du keinen Moment still bei uns sitzenbleiben?

Laß sie gehen, sie ist ja fertig.

Na, meinetwegen. Aber nicht auf die Straße! Nicht das Grundstück verlassen!

Aus Silberpapieren von Zigarettenschachteln und Schokoladentafeln hatten wir uns, Dorfkinder und Sommerkinder, einen kleinen Ball geformt. Damit spielten wir Fußball auf der Dorfstraße, unter der ein Bach verlief: egal, wo man die Straße überquerte, man ging über den Bach. Der rauschte und lag ziemlich tief. Nicht weit vom Gartenlokal war ein gemauerter Zugang zum Wasser, das über eine Steintreppe erreichbar war. In dieser tosenden Höhle hatte ich die Waschfrauen verschwinden sehen und sie nicht beneidet um ihren Untergang.

Wer den Ball hatte, versuchte, ihn dorthin zu stoßen, wo er selber als Nächster wieder herankam. Als ich am Ball war, stieß ich ihn vorsichtig, aber doch ganz nahe an den Rand der brodelnden Tiefe. Kein anderer sollte sich zwischen mich und den Ball schieben können. Irrtum: der Junge aus der Urlauberfamilie im Haus neben uns rempelte mich hart an und stieß mich mitsamt dem Ball in die Tiefe. Heulend und patschnaß fand ich mich zwischen Steinbrocken im Wasser und kroch zerschlagen die Treppe zur Straße hinauf.

Da stand auch schon Kaltesophie, das Wasser übertönend mit Gebrüll. Sie hob mein triefendes Kleid hoch, zog mir die Hose runter und schlug und schlug.

Inzwischen waren alle Gäste aus dem Gartenlokal herbeigestürzt, ebenso die Dorfbewohner. Umkreist von Kindern und Leuten verdrosch sie mich nach Strich und Faden mitten auf der Straße.

Ich denke mir was aus.

Ich bleibe die nächste Nacht aufrecht im Bett sitzen.

Ich warte, bis mir was Passendes einfällt.

Ich weiß, mir fällt was ein, darauf kann er Gift nehmen.

Ich schlafe nicht ein.

Ich nicht.

Ich binde den Gürtel von meinem Nachthemd am Bettpfosten fest.

Ich kann gar nicht einschlafen.

Ich stelle mir was vor, was Schreckliches.

Ich bemühe mich, nichts Schreckliches auszudenken.

Ich kann gar nicht anders, als mir was Schreckliches ausdenken.

Ich zahle es ihm heim, der soll sich noch wundern.

Ich weiß, daß er mich mit Absicht gestoßen hat.

Ich weiß, wo er wohnt.

Ich weiß, in welchem Zimmer.

Ich weiß, daß die jeden Abend ihre Schuhe rausstellen.

Ich zermartere mir den Kopf.

Ich schlafe natürlich ein.

Ich werde wach.

Ich habs und gehe ans Werk.

Beim Schuppen ein Flaschenhaufen, dort finde ich Steine und nehme mir eine Wein- oder Bierflasche vor, jedenfalls grün. Dort zerschlage ich eine Flasche zu kleinen, immer kleiner werdenden Brocken, Scherben, Splittern und sammle die Splitter in eine Konservendose. Ich stehle mich zwei Morgen später und noch vor dem Frühstück – »Du gehst mir weder vor dem Frühstück noch nach dem Abendbrot einen Schritt vor die Tür!« – also noch vor dem Frühstück ins Nachbarhaus, und da stehen tatsächlich seine Schuhe vor dem Zimmer.

und rein mit den Splittern in die Schuhe nicht alle nicht zu viele daß sie nicht gleich hervorkollern und nach vorne in die Spitzen geschüttelt und raus aus dem Nachbarhaus niemand hat mich beobachtet niemand mich gefragt den Jungen hab ich bis zu unserer Abreise nicht mehr gesehen und zurück wieder in mein Bett ich bin nochmal davongekommen.

Endlich wieder bei Concordia. Sie umarmt mich und setzt mir Malzkaffee in einer bemalten Tasse vor. Bei ihr kann ich mich wärmen und ausruhen. Concordia hantiert in der Küche, tappt von dort in den Garten, kehrt mit einer Schürze voll Pflaumen zurück und rührt einen Brei aus Obst und Weißkäse an. Sie fährt sich mit dem Handrücken über die Stirn, dann bindet sie sich die Schürze ab und kramt das Schachspiel hervor, nachdem sie sich die Hände an der Schürze abgewischt hat. Ich will nicht, mich interessieren die Termitenbauten in Uluguru viel mehr. Bitte, zeig mir das Zigarettenbilderbuch von Afrika und lies vor.

Afrika ist für uns vorbei und erledigt.

Ach wo, lies doch bitte vor.

Omarururivier zur Trockenzeit. Wie fast alle Flüsse Südwestafrikas führt er nur zur Regenzeit oberirdisch Wasser. Andererseits ist das Anschwellen, das sogenannte Abkommen bei plötzlichen Regenfällen so gewaltig, daß Mensch und Vieh nicht Zeit finden, sich vor den Fluten zu retten und elendiglich umkommen.

Herero und Buschmann. Die Hereros gehören zu den hochstehenden Bantuvölkern Südafrikas. Diese ihre Herden über alles liebenden Viehzüchter waren groß, oft herkulisch gebaut. Ihre geistige Befähigung war keineswegs gering, aber ihr Charakter war wenig ansprechend. Hochmut, Anmaßung und besonders Grausamkeit waren für sie bezeichnend. Im größten Gegensatz zu den Hereros stehen die zwergenhaften, unstet durch die Wüsten und Steppen Deutsch-Südwestafrikas wandernden Sammler und Jäger, die nur 150 cm großen Buschmänner.

Wir spielen im Kindergarten »Negertanz«.

Mehrere oder mindestens zwei Kinder fassen sich bei den Händen und versuchen, einander auf die Füße zu treten. Wer einem anderen Kind dreimal auf die Füße getreten hat, scheidet aus. Das letzte Kind ist der Verlierer.

An meine verkrüppelten Zehennägel denkt dabei niemand.

Karl hat mir den Weg zum Bahnhof eingeprägt, mit Festpunkten, die ich auswendig lerne und mir unterwegs laut vorspreche.

Wenn ich rauskomme, gehe ich Richtung Marktplatz, und auf der Seite bleibe ich auch. Ich lasse die Gärtnerei Landgraf rechts liegen und gehe weiter, so daß ich an Eberts Tischlerei vorbeikomme, gegenüber hat Mutter Wolfen gewohnt, ich gehe die Wilhelmstraße runter, bis sie zu Ende ist. Dann biege ich nach links um die Ecke und überquere die Straße bei der Sparkasse. An der nächsten Ecke gehe ich rechts rum, und schon bin ich auf der Kanalbrücke zwischen Dämeritzsee und Flakensee. Ich gehe über die Brücke, sehe drüben und unter mir den Laden von Uhrmacher Kalisch liegen, daneben das Studio des Fotographen Harupka. Ich aber bleibe auf der Straße, bis ich die Eisenbahnunterführung sehe, kurz vorher überquere ich noch einmal die Straße und stehe direkt vor der Treppe, die zum Kindergarten hinauf führt.

Kaltesophie hat mich meinen Namen, Alter und Adresse auswendig lernen lassen.

Concordia hat mir beigebracht, meinen Namen auch schreiben zu können, vorerst in kleinen Buchstaben. Anfangs hielt sie eine Schiefertafel bereit und Griffel, später kramte sie summend eine Blechschachtel hervor, Faber-Bleistifte, und legte einen winzigen Bleianspitzer und einen Radiergummi neben mein Heft. Sie ließ mich Buchstaben für Buchstaben nachzeichnen, während sie jedem einzelnen eine märchenhafte Geschichte andichtete. Zuletzt schrieb ich die beiden Wörter als Ganzes. »Es heißt nicht Nachname, sondern Familienname!«

Frau Düring ist alt und weiß geheimnisvolle Sätze, die sich auf Pflanzen reimen. Anstatt Guten Tag sagt sie: Nessel, schmerzhaft drückt mich deine Fessel.

Karl trägt mich abends huckepack in mein Zimmer.

Karl bringt mich ins Bett.

Karl liest aus dem Zigarettenbilderalbum »Deutsche Hausmärchen« vor.

Karl erzählt vom Kaiser und vom Sedanfest.

Karl erzählt vom ersten Weltkrieg und zeigt mir seine Narben.

Karl hat eine Narbe im Genick und eine neben dem Herzen.

Karl hat in seinem Nachttisch ein Eisernes Kreuz.

Karl gehörte zur Truppe der Gebirgsjäger.

Karl sagt: Bei uns durfte keiner unter einsfünfundachtzig sein.

Karl ist größer und fast so groß wie Concordia.

Karl ist zu Fuß über die Alpen, hin und zurück.

Karl ist zu Fuß über die Karpaten, hin und zurück.

Karl muß mir jetzt mal Jorinde und Joringel vorlesen.

Karl liebt das Märchen von Rapunzel.

Karls Firma heißt so ähnlich wie Köllnrottweil.

Karl lehrt mich seine Telefonnummer, wenn mal was ist.

Karl ist früher manchmal Jäger gewesen.

Karl hat unsere Veranda voller Hörner und Geweihe gehängt.

Karl sagt: Das sind nicht bloß Staubfänger, jedes hat eine Geschichte.

Karl muß unbedingt die Gänsemagd vorlesen, die habe ich am liebsten.

Karl singt: Wem Gott will rechte Gunst erweisen.

Karl sang als Kind bei den Berliner Domspatzen.

Karl sagt zu Kaltesophie: Soffie – du brummst.

Karl liest nochmal die Gänsemagd: Jetzt ist aber Schluß.

Ich konnte einigermaßen meinen Namen schreiben, als Kaltesophie mit mir wie üblich zur Sparkasse ging, um auf mein Sparbuch zwei Mark einzuzahlen. Es handelte sich regelmäßig um einen funkelnagelneuen Schein, denn Karl brachte nur neues Geld mit nach Hause, worauf ich sehr stolz war.

Concordia: Wenn er nichts kann, Geld drucken lassen kann er.

Kein Fältchen dran, der sieht wieder aus wie selbstgemacht, sagte der Schalterbeamte lächelnd. Ich habe ihn extra gebügelt, antwortete Kaltesophie und zwinkerte dem Mann seltsam zu. Der Bankbeamte beugte sich über seine Barriere und ließ mich selber einen Zettel unterschreiben, weil er wußte, daß ich das schon kann. Er sprach mich mit »junge Dame« an. Noch schrieb ich mich klein, aber ich schrieb meinen Namen.

Dieser infernalische Gestank wieder, ich schäme mich zu Tode. An nicht einem, an keinem einzigen Morgen steht die Göre aus dem Bett auf, ohne daß die Matratze, daß das Laken, ja sogar das Oberbett klatschnaß sind. Die kriegt ab jetzt keinen Tropfen mehr zu trinken beim Abendbrot, keinen Schluck mehr ab mittags. Und nachts werde ich sie regelmäßig zweimal wecken und auf den Topf setzen. So geht das nicht weiter. Nirgends gibt es dermaßen große Gummiunterlagen. Ich bin vollkommen ratlos und weiß auch gar nicht, wie ich das Zeug und wo trocknen soll. Auf dem Hof etwa, vor aller Nachbarn Augen?

Patsch – eine Backpfeife.

Zu faul, nachts aufzustehen, was?

Patsch – ein Katzenkopf.

Ist dir wohl zu weit zum Nachttopf?

Patsch – eine Kopfnuß.

Wenn du noch einmal das Bett naßmachst!

Pengpeng – rechts und links eine geklebt.

Alles nur aus Gemeinheit gegen mich!

Ritsch – noch ein Backenstreich.

Verschwinde in deinem Zimmer, verdammte

Pißjule!

Drrrr – an den Zöpfen hin und her.

Willst mich vor allen Leuten unmöglich machen!

O du Falada, da du hangest,

O du Jungfer Königin, da du gangest,

Wenn das deine Mutter wüßte,

Das Herz tät ihr zerspringen.

Und in dem Feld setzte sie sich wieder hin und fing an, ihr Haar auszukämmen.

Ich gehe nicht an den kleinen Barren.

Ich gehe im Kindergarten nicht ans Reck.

Ich habe Angst vor dem Turnen.

Ich werde feige genannt und eine Memme.

Ich sage keine Liederstrophen auf.

Ich kann kein s sprechen, kein l, kein sch.

Ich erhalte täglich die Aufgabe, laut vorzusprechen.

Ich soll sagen: Esel essen Nesseln nicht, Nesseln essen Esel nicht.

Ich kann auf dem Hof auf den Ahornbaum klettern.

Ich kann über den Maschendrahtzaun klettern.

Ich kann schnell laufen: Du bist doch kein Junge.

Ich kann beim Schattenspielen den bösen Wolf an die Tapete werfen.

Ich habe eine Sicherheitsnadel aufgebogen.

Ich schreibe überall meinen Namen hin.

Ich ritze ihn mit der Nadel in Tische, Stühle, Fensterbretter ein.

Ich soll sagen: Sechshundertsechsundsechzig sächsische Schuhzwecken. Die andern lachen sich kaputt.

Kaltesophie ist nicht groß. Sie geht Karl bis an die Schulter. Karl und seine Schwester sind groß. Onkel Egon geht Concordia bis an die Schulter. Ich wachse schnell. Karl sagt: Wenn du so weitermachst, kannst du mit fünfzehn aus der Dachrinne trinken.

Du mit deinem Gequassel, bringst mich ganz durcheinander.

Wenn ihr die Leiter unter den Füßen weggleitet, bin ich schuld. Wenn ihr beim Abschrecken der Nudeln – Concordia: Nudeln schreckt man nicht ab! – das Sieb wegrutscht und das Essen in den Ausguß strömt, daß es aussieht wie ein blasses Schlangennest, bin ich schuld. Wenn sie ihre Brille verlegt hat und mit aufgeschlagenem Lokal-Anzeiger von der Küche ins Wohnzimmer segelt, auf der Kredenz landet, hinüber zum Buffet und von dort zum Sofatisch flattert und zwar vergeblich, bin ich schuld. Wenn ihr bei allzu heftigem Abwaschen ein Zinken aus der Aluminiumgabel bricht, bin ich schuld.

Kaltesophie hat schwarze, dauerkrause Haare. Sie hat dunkelbraune Augen. Ihre Lippen sind dünn, besonders die obere. Am wichtigsten sind ihre Augen, nicht zu vergessen die schwarzen zuckenden Brauen. Sie ist nicht schlank, nicht dick und wird von ihren Bekannten als hübsch bezeichnet.

Ich finde Concordia hübscher. Sie hat hellgraue Haare, die sie tagsüber mit Kämmchen hochsteckt. An Feiertagen nimmt sie eine Brennschere und legt das Haar in Wellen. Zum Geburtstag schenkt Kaltesophie Concordia Porzellan. Concordia schenkt Kaltesophie ein Buch. Karl liest die Bücher, die Concordia seiner Frau schenkt.

Karl liest Gustav Freytag. Kaltesophie liest Gustav Frenssen. Concordia liest Flaubert. Sie ist schon zweiundsechzig Jahre alt.

Einmal, als ich aus dem Kindergarten kam, sah ich vor dem Fischladen in der Bismarckstraße einen Jungen stehen, den wollte ich sofort als Bruder haben. Hätte ich zaubern können, würde ich ihn ohnmächtig machen und mit nach Hause nehmen und in meinem Zimmer verstecken. Schon von weitem gefiel mir seine Haltung, er hielt den Kopf so hoch und hatte krause dunkelbraune Locken. Er war größer als ich, nicht viel älter und trug einen Arm angewinkelt und im Gipsverband. Ziemlich unwillig anwortete er mir, er habe sich den Arm gebrochen und heiße Reinhold Wagner und sein Vater sei nämlich Lehrer. Freundlich war er eben nicht, und ich habe ihn wieder aus den Augen verloren, obgleich er nicht weit von uns wohnte, gleich in der Friedrichstraße gegenüber der Kirche. Ach, hätte ich doch wenigstens solche Lederhosen wie der.

Mittlerweile hatte ich mehrere Sicherheitsnadeln erobert und sie gerade gebogen. Bei denen, die ich schon länger benutzte, krümmte sich durch starkes Aufdrücken die Spitze, wodurch vorne ein zierliches Häkchen entstand. Mit diesem Häkchen ließen sich Beize und Lack leichter durchdringen, und ich kam besser an die äußeren Holzfasern.

Als mich eines Vormittags die Kindergärtnerin bei der Arbeit unterbrach, um »ein paar Tische vor mir zu retten«, stach ich ihr ein paarmal in den Arm. Sie setzte einen Brief auf, den ich Kaltesophie übergeben sollte, und sagte, ich sei für den Kindergarten untragbar und gestorben. Sie sagte, ich bräuchte hier nie wieder aufzutauchen, und schickte mich nach Hause.

Kaltesophie war dermaßen entsetzt, daß sie mit dem Brief erstmal zu Tante Mieze hinauflief, bevor sie mich mit dem Besenstiel versohlte. Ins Bett!

Karl: Wenn wir den Krieg gewinnen, kaufen wir uns ein großes Motorboot.

Unglaublich, nach den Wolkenbrüchen gestern wieder das herrlichste Wetter, und ich sehe nach, klar, es handelt sich um einen jüdischen Feiertag, ahnte ich es doch, mein Leo hatte recht, recht hatte er, die werden vom lieben Gott bevorzugt behandelt, ist das Wetter nicht Beweis genug, es kann noch so trübe oder wild sein, an einem jüdischen Feiertag geht die Sonne auf und steht da und scheint uns ins Gesicht, aller Sturm vergessen, umgefallene Bäume vergessen, die abgedeckten Dächer, sowas, gestern standen wir noch unter Wasser, und heute ist eine Witterung, als befänden wir uns im sonnigen Süden, verstehen tue ich es nicht, ich sehe nur, mein Leo hatte recht, die haben mit ihrem Gott einen Sondervertrag abgeschlossen, na, verdient haben sie das nicht, und Leo schon gar nicht, daß an seinen Feiertagen ein Himmel blaut wie auf Postkarten, so unschuldig ist er wirklich nicht gewesen, und dann wieder, wenn ihre Festlichkeiten vorüber sind, geht’s wieder los mit Nieselregen und Landregen und Dauerregen und Schauerregen, als wüßte Gott nicht genauso gut wie ich, daß Leo im ersten Krieg ganze Waggons mit Pelzen verschoben hat, der Ganove der, dem nicht beizukommen war, bloß gut, daß ich ihn rechtzeitig durchschaut habe, sonst wär ich noch mit dem ins Standesamt gelaufen, immer piekfein angezogen, der Herr Verlobte, und angegeben wie ’ne Lore Affen, höflich, zärtlich, ach wie gern habe ich ihn gehabt, und dann eines Tages verschwunden, auf Nimmerwiedersehen, mitten im Krieg und mitten in Antwerpen, einfach nicht mehr aufgetaucht, und was hatte ich davon, die Sonne an seinen Feiertagen, ach der.

Zur Kur, Herr Doktor?

Tja, vielleicht helfen Solbäder.

Wir sitzen im Heim abends am Kamin und lernen:

Wir haben das Kohorn geschnihitten mit unserem goldenen Schwert.

Wir werden in Zweierreihen zum Badehaus geführt und lernen, wo rechts und wo links ist.

Rechts ist die Hand, mit der ich den Löffel halte.

Rechts ist der Fuß, mit dem ich den Ball anstoße.

Rechts ist die Hand, die ich hochheb beim Grüßen.

Rechts ist der Fuß, den ich zuerst anziehe.

Wir gehen im Gleichschritt durch die Stadt und betrachten ein Denkmal von Gneisenau und Nettelbeck.

Wir sitzen auf einer Lichtung um ein Feuer, und die Leiterin singt zur Klampfe.

Wir besuchen im Hafen – »Ich habe einen Cousin, der ist Matrose« – ein Boot, das Minen sucht, damit andere Boote nicht von unten her entzweigehen.

Wir stolpern auf dem Boot bei jeder Tür über die erhöhten Schwellen, meine Schienbeine sind schon fast durch.

Wir hören, daß das Boot unten aus Holz ist, um nicht selber Minen abzukriegen.

Wir sitzen abends am Kamin, und die Leiterin spielt auf dem Schifferklavier: Blaue Jungs, blaue Jungs.

Ich komme inmitten vieler Kinder am Lehrter Bahnhof an, und Mütter und Väter stürzen uns entgegen. Kaltesophie ist auch da. Ich habe eine Menge zu erzählen.

Was hast du denn da in den Haaren? Wo sind denn die Schleifen geblieben? Wie siehst du denn überhaupt aus? Das ist doch Strippe, reine Strippe, die du da in den Zöpfen hast.

Noch in der Bahnhofshalle wird mein Koffer inspiziert, an dessen Deckelinnenseite sich das sorgfältig eingeklebte Inhaltsverzeichnis befindet.

Ich stelle nur eins fest, es sind sämtliche Schleifen weg.

Dafür habe ich nicht ins Bett gemacht, nie.

Das interessiert mich jetzt nicht. Komm du mir mal erst nach Hause. Laß du uns erstmal unter vier Augen sein.

Es war weit vom Lehrter Bahnhof bis raus zum östlichsten Vorort von Großberlin.

Concordia, Onkel Egon, Karl und Kaltesophie sind alle noch im vorigen Jahrhundert geboren. Concordia ist zwei Jahre älter als Onkel Egon und zwölf Jahre älter als Karl. Karl ist vier Jahre älter als Kaltesophie.

Concordia und Karl haben als Kinder im Lustgarten den Kaiser gesehen, als ein Pfund Pflaumen nur sechs Pfennige gekostet hat. Sie sind in Berlin am Cöllnischen Ufer groß geworden. Sonntags erhielten sie zwei Sechser für die Kollekte, damit gingen sie in eine nahegelegene Konditorei und kauften sich für einen Groschen Kuchenbrocken. Sonntags saßen sie an der Spree und aßen süße Krümel.

Kaltesophie geht nicht in die Kirche: Beten kann ich auch im Wald.

Karl geht ebenfalls nicht in die Kirche: Ob es nicht doch ein höheres Wesen gibt?

Tante Mieze geht jeden Morgen um sechs in die Kirche. Kaltesophie sagt: Katholiken sind falsch. Concordia sagt: So’n Blödsinn!

Concordia und Karl hatten noch drei Geschwister. Ihre Eltern sind als Saisonarbeiter aus Polen gekommen und blieben. Der Vater arbeitete als Königlicher Kutscher, die Mutter konnte kein Wort Deutsch. Sie stammten aus Wolomin. Concordia war die Älteste, Karl der Jüngste, die anderen sind früh gestorben. Das heißt, Hermann ist erst später gestorben, er hat drei Dutzend Schreibhefte voller Gedichte hinterlassen, Gelegenheitsgedichte.

Wo liegt überhaupt Wolomin?

hör auf zu husten hör auf hör endlich auf zu husten wozu haben wir dich eigentlich zur Kur geschickt hööör aaaauuff ich halte das nicht länger aus du hast doch gar nichts hör auf zu husten der Arzt hat gesagt du hast gar nichts erst hat er gesagt Solbäder bitte schön Solbäder und wozu das alles du bist nicht krank du hast überhaupt keinen Husten Herrgottimhimmelnochmal halt den Mund sage ich dir schlucks runter und hör auf zu husten du hast einfach keinen Grund zu husten weder erkältet noch Asthma noch Bronchitis nichts nichts weiter als Theater Karl sag du ihr doch mal sie soll aufhören zu husten tut gerade so als würde sie ersticken die will mich bloß auf die Palme bringen jetzt reichts mir aber gleich setzt es was daß dir der Husten vergeht aber gründlich und für immer ich kann das nicht mehr ertragen

Im zweiten Kriegswinter stand zu Weihnachten ein langer Schlitten halb aufgerichtet an der Wohnzimmerwand. Naturfarben und mit breiten, blitzenden, gewölbten Kufen. Der reicht für drei Kinder: Na, weil ihr doch meistens im Liegen fahrt, auf dem Bauch. Dabei habe ich mir die ersten Kinnhaken geholt.

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Tja, sagt der Arzt, und nichts weiter. Er steht gebeugt an unserem runden schwarzen Eßtisch und verstaut seine Utensilien, nachdem er mich vorne und hinten abgehört hat. In seiner Tasche blitzt es – »Steh’ nicht nackend in der Tür herum, zieh dich an!« – die mit Kornblumen, Klatschmohn und dunkelgelben Ähren bestickte Tischdecke verrutscht, Kaltesophie zieht sie an der gegenüberliegenden Seite zurück, so daß der Feldblumenring wieder in die Mitte des Tisches zu liegen kommt. »Kein Rezept?« Sie sitzt am Tisch, sieht erwartungsvoll, freundlich, entgegenkommend, skeptisch zum schweigenden Arzt auf. Ich stehe halbangezogen in der Tür, drücke mich in der Ecke Buffet und Türrahmen herum. Der Arzt richtet sich gemächlich auf, dreht den Kopf nach mir, bückt sich, stellt seine Tasche auf den Fußboden, setzt sich Kaltesophie gegenüber an den Tisch, zieht die Augenbrauen hoch und weit auseinander und reibt sie rasch mit seinen ausgestreckten Zeige- und Mittelfingern, hin und her, hin und her. Ich stehe am Tisch, blicke von einem zum anderen.

Herr Doktor?

Nichts, sie ist kerngesund, vom Lispeln einmal abgesehen. Keine Bronchitis, keinerlei Entzündung, nichts.

Ich bin enttäuscht, Kaltesophie ist enttäuscht, ich habe den Arzt enttäuscht.

Und Sie wissen keinen Rat?

Oh, doch. Schicken Sie Ihre Tochter in die Schule, es tut ihr nicht gut, den liebenlangen Tag zu Hause herumzusitzen. Sie braucht Beschäftigung.

Beschäftigen könnte ich sie auch.

Anders ja, ich empfehle dennoch, ihre Einschulung zu beantragen. Sie braucht einen gewissen Umgang mit Kindern und Beschäftigung außerhalb des Elternhauses. Ich werde Ihrem Antrag meinerseits ein Gutachten hinzufügen.

Ich hopse auf einem Bein durchs Zimmer – »Benimm dich« – hurra, ich gehe in die Schule. Der Arzt mit seinen welligen, grauen Haaren und dem geriffelten Mund sagt: Noch ist es nicht soweit. Er erhebt sich, und ich drücke ihm die Hand und mache einen Knicks. Kaltesophie sagt, nachdem sie ihn zur Tür gebracht hat: Das ist eine ausgezeichnete Idee, dich einschulen zu lassen. Jawohl, in die Schule mit dir. Dort wirst du endlich gehorchen lernen.

Karl: Du mit deinen jüdischen Feiertagen.

Kaltesophie: Nimm deren Neujahr, nimm Laubhüttenfest, nimm Versöhnung – klarer Himmel, Sonnenschein.

Karl: Ich nehme gar nichts, und du laß das niemanden hören, bringst uns in Teufels Küche.

Kaltesophie: Wieso denn?

Concordia und Onkel Egon besitzen ein Reihenhaus in Köpenick, in der Wolfsgartensiedlung Richtung Hirschgarten. Karl hat vor seiner Heirat bei Concordia gelebt, Kaltesophie war seine Nachbarin, sie hat mit ihrem Bruder Max bei ihrer Mutter gewohnt. Die Gärten beider Anwesen lagen, nur durch einen Dungweg getrennt, nebeneinander. Karl arbeitete in derselben Firma wie jetzt, Kaltesophie arbeitete als Verkäuferin bei Wertheim. Karl gehörte zu einem Ruderclub und nahm in Grünau an der Regatta teil, in seinem Zimmer hingen Urkunden, standen silberne Pokale, und eines Tages lud er Kaltesophie ein und erklärte ihr, was ein Vierer mit Steuermann ist.

Als sie heirateten, war Kaltesophie dreißig, Karl war vierunddreißig. Es stellte sich heraus, daß Kaltesophie keine Kinder kriegen konnte, und sie nahmen ein Pflegekind. Um ein Kind zu adoptieren, hätten sie zehn Jahre älter sein müssen. Das Mädchen hieß Christa.

Alles umsonst, das mühsame Sparen, die Anschaffungen, alles hinüber. Kein Fensterbrett mehr, kein Küchenmöbel, kaum drehe ich mich um, ist es passiert, nichtmal die Kredenz im Wohnzimmer hat sie verschont. Wir sind ruiniert. An Einladungen, an Besuch ist nicht mehr zu denken. Unmöglich, noch jemanden in die Wohnung zu bitten. Selbst auf der Tischplatte prankt ihr Name, eingeritzt mit irgendetwas Spitzem, Nadeln oder gar Nägel, prankt ihr Name. Ihr eigenes Zimmer sieht aus wie ein Reibeisen. Unangetastet ist bis jetzt nur unser Schlafzimmer geblieben. Wer kann mir die Frage beantworten, warum dieses Luder überallhin ihren Namen schreibt? Was heißt schreibt? Einritzt, einkratzt. Das ist nicht normal, behaupte ich, das ist reine Zerstörungswut und Gemeinheit. Ich mache da nicht mehr mit, diesmal kommt mir das Biest nicht ungeschoren davon. Wir sind ruiniert, und das soll sie mir büßen. Ich will sie nicht mehr haben, ich verzichte. Soll dahin gehen, wo sie hergekommen ist.

Karl sagt: Wenn wir den Krieg gewinnen, kaufen wir uns ein Haus, vielleicht drüben in Woltersdorf ein Wassergrundstück.

Sie schreibt irgendwas. Sie faltet den Bogen Papier zusammen. Sie steckt ihn in einen Umschlag. Sie sagt: Zieh dich an! Sie beleckt die Gummierung der Klappe. Sie sagt: Mantel und Mütze! Sie zwängt mir den Brief in die Manteltasche. Sie sagt: Hast du die Handschuhe schon wieder verloren? Ist jetzt auch egal. Sie sagt: Mein Maß ist gestrichen voll, ich will dich nicht mehr sehen, geh dahin zurück, wo du hergekommen bist. Sie sagt: Wo der Bahnhof ist, weiß du ja. Sie sagt: In Köpenick steigst du aus und gehst zu Concordia, die Adresse steht drauf. Sie sagt: Der gibst du den Brief. Nun geh schon, geh! Ich stehe da mit gespreizten Armen. Sie steckt mir Fahrgeld in die andere Manteltasche.

Sie sagt: Nun geh!

Ich sage: Wohin?

Sie sagt: Habe ich dir doch eben erklärt, zum Bahnhof!

Ich sage: Und dann?

Sie sagt: Da siehst du es, dich hat der Esel im Galopp verloren.

Sie schiebt mich zur Wohnungstür hinaus, und ich trete flennend den Weg zum Bahnhof an. Am Marktplatz vorbei, die Wilhelmstraße hinunter, und nichts in Sicht vor lauter Heulerei. Ich bin fast auf der Höhe von Eberts Tischlerei, da werde ich am Ärmel zurückgezogen.

Sie sagt: Willst du wieder mit nach Hause kommen?

Ich sage: Ja, ja.

Sie sagt: Wirst du ab jetzt immer artig sein?

Ich sage: Ja, ja, immer artig sein.

Sie sagt: Vergiß es ja nicht, sonst schicke ich dich wirklich weg.

Und die Morgenstunden unserer Sonntage, Karl befestigt einen breiten Lederriemen an der Klinke der offenen Küchentür und schärft seine Rasiermesser, vor und zurück, vor und zurück, schon kocht das Wasser, mit dem er in einem braunen Bakelitschüsselchen einen Berg Seifenschaum herstellt. Zuerst schmiert er den Rasierpinsel an der Palmolive-Rasierseife dick ein, dann rührt er mit dem Pinsel rasch und lange in dem Schüsselchen herum, wobei die Seife sich auflöst und in lockeren Schaum verwandelt, anschließend geht er mit der Seife, dem aufgeklappten Rasiermesser, eine Serviette um den Hals, eine Zeitung unter dem Arm ins Badezimmer und ich hinterher. Während er mit Daumen und Zeigefinger der linken Hand seine Gesichtshaut in alle Richtungen zieht, stecke ich dauernd den Kopf zum Badezimmer hinein und rufe: Servus Schneemann, Servus Schneemann. Sein Gesicht ist ein Schneefeld mit einem Krater darin, es ruft aus dem Krater: Ich servier dir gleich. Der Krater spuckt und lacht, Karl schnippt eine große Seifenwolke in meine Richtung, wupp, die bleibt innen an der Badezimmertür kleben, weil ich blitzschnell die Tür zuschmeiße und wieder rein, und sein eingeschneites Gesicht und wupp, ich brülle, wenn er mich getroffen hat, und wasche hastig die Seife ab, um weiterzumachen, bevor er fertig ist, glänzend aus dem Badezimmer tritt mit winzigen Fetzen Zeitungspapier auf den Backen, am Kinn, am Nasenflügel, blutgetränkte Papierchen, und wupp fliegt mir wieder eine Wolke entgegen, diesmal lasse ich die Tür weit offen, trete nur ein Stück beiseite, und die Wolke fliegt durch die Tür, durch den Korridor, sie überquert das Wohnzimmer und segelt zum Fenster hinaus. Da schwebt sie zwischen den Kastanien, steigt höher und höher und über Schützes Haus hinweg, wo sie sich langsam vermehrt, zusehends mehr und mehr schneeige Wolken gleiten über den Bahndamm und entfernen sich in Richtung Kranichsberge, diese himmelhochjauchzenden Wolken sind die Morgenstunden unserer Sonntage.

wirst du ab jetzt

artig sein

fügsam sein

willig sein

gehorsam sein

dankbar sein

fleißig sein

ja ja ja ja ja

versprichst du mir das

du Findling du

ich verspreche

artig zu sein

fügsam zu sein

willig zu sein

gehorsam zu sein

dankbar zu sein

fleißig zu sein

erstmal ins Bett mit mir

bis sie erlaubt

ihr wieder unter die Augen zu treten

ich will ab jetzt

immer gehorchen

Fräulein Mammert sagt: Ich heiße Fräulein Mammert und bin eure Klassenlehrerin. Sie ist älter als Kaltesophie und hinkt und ist auf ihren Stock angewiesen. Wir folgen ihr aus der Aula auf den vor dem Schulgebäude liegenden Pausenhof und nehmen am Fahnenappell teil. Die größeren Kinder stellen sich auf und nehmen die rechten Arme hoch, wir bilden mit unseren Müttern einen ungeordneten Haufen, das wird bald anders, und hören den Direktor eine kurze Ansprache halten.

Ostern, und auf meiner Schultüte ist ein Mädchen mit einer Schultüte, auf der ein Mädchen mit einer Schultüte zu erkennen ist. Ich stelle die Tüte neben mich, sie geht mir bis ans Kinn und ist schwer.

Später folgen wir Fräulein Mammert in unser zukünftiges Klassenzimmer, wo sie uns einzeln aus dem Gedränge ruft, uns unseren Namen sagen läßt – »Lauter!« – und uns gründlich mustert. Angst? Scheu? Still? Sie weist uns Plätze an, und ich gelange nach vorn in die zweite Reihe, Mittelgang. Ziemlich dicht am Lehrerpult.

Ich drehe den Hals, schaue mich um – »Ich stehe hier vorne, da hinten ist nichts, was dich angeht« – nach den größeren Kindern in der letzten Reihe. Hinter der letzten Reihe stehen unsere Mütter, die werden hinausgeschickt: Warten Sie bitte auf dem Flur, es dauert nicht lange.

Die Lehrerin läßt uns aufstehen, läßt uns die rechten Arme heben – »Richtig ausstrecken, höher, und ganz gerade halten, nicht einwinkeln« – läßt uns den deutschen Gruß nachsprechen, den sie uns laut und deutlich vorgesprochen hat, im Chor, läßt uns den deutschen Gruß wiederholen – »Das sitzt noch nicht« – spricht leise vor sich hin, läßt uns sodann die Hände falten, sagt ein Gebet auf, läßt uns hinsetzen, verteilt Lese- und Rechenbücher, läßt uns aufstehen, grüßen, entläßt uns: Nicht wie eine Lämmerherde hinausstürzen!

Von der Schule aus zog ich an Kaltesophies Hand und in Gesellschaft anderer Kinder und Mütter die Zittauer Landstraße hinunter, die Friedrichstraße hinunter, über das Flakenfließ, rechts am Anfang der Bahnhofstraße zum Fotografen.

Der Fotograf hieß mich, die Tüte schräg in den Arm nehmen, legte meine Zöpfe nach vorn, so daß die Schleifen auf der Brust lagen, und verschwand mit dem Kopf unterm schwarzen Tuch.

Angst vor der Schule?

Nee, ich freu mich.

Nein heißt es.

Tante Mieze sagt, ein Findling ist ein großer Stein, der alleine im Wald oder auf einem Feld liegt, den hat die Eiszeit hinterlassen.

Wenn ich zu Besuch bin, woanders übernachte, passiert es mir nie. Ich gebe mir große Mühe, nachts nicht einzuschlafen. Ich bleibe aufrecht sitzen und binde mich mit dem Gürtel meines Nachthemds an die vorderen Bettstreben. Ich denke mir Sachen aus, damit ich nicht einschlafe. Ich schlafe auch im Sitzen ein und schrecke hoch, wenn Laken und Matratze vollkommen durchnäßt sind.

Ich lege mich nachts unters Bett, um auf dem Fußboden zu schlafen, und klettere vor Kälte ins Bett zurück: nichts zu machen. Ich stelle mich ans Fenster und betrachte die Lebensbaumhecke, die Dürings Grundstück vom Nachbargarten abschirmt. Ich betrachte den Himmel, Concordia hat mir Sternbilder gezeigt. Unter meinem Fenster ist die Hauswand mit Wein überwuchert, der an einem Spalier befestigt ist und genau zu meinem Geburtstag tiefdunkelblaue, pralle Beeren hervorbringt.

Nachmittag bei Concordia. Sie holt das Schachspiel hervor und läßt mich die Figuren anfassen. Alles, was ich begreife, ist der Rösselsprung. »Tu mir nicht die Schande an und bleibe ein Leben lang an der Rätselseite hängen.«

Dann haben wir einen schweren Atlas vor uns liegen. Concordia blättert um und liest mir Namen aus Deutsch-Südwest vor. Sie zeigt mir die Meere, auf denen sich ihr Sohn Bertholt gerade befindet. Sie erzählt von Palmen und Ochsenfröschen und vom Staudamm auf der Farm Hoffnung. Onkel Egon setzt sich selten zu uns. Er weiß, wie man Lehmöfen mauert, Antilopenfleisch trocknet, einen Ochsenwagen durch feindliche Hererogebiete geleitet. Er spricht von Hendrik Witbooi und dem Häuptling Maharero dem Jüngeren, als seien es Leute, die um die Ecke wohnen.

Mein Cousin Bertholt, der als einfacher Schiffsjunge angefangen hat, er ist viermal so alt wie ich, mußte zur Kriegsmarine überwechseln. Concordia weiß immer seltener, auf welchem Meer er sich in dem Moment befindet.

Überschwenglich den Ranzen geschultert der klappert und allmorgendlich losgerannt fast eine Stunde früher die Wohnungstür zugeknallt die Haustür das Gartentor zugeworfen – »Knall nicht so mit den Türen!« – sie ruft mich zurück obwohl ich schon an der Ecke bin und befiehlt mir langsam und leise die Türen zu schließen.

Rache is Blutwurscht.

Was war denn das?

Ach, nischt.

Hier wird nicht berlinert, ist ja ganz neu.

Schnell am Vorgarten entlang noch unter ihren Augen am Schlafzimmer Wohnzimmer am nördlichen Verandafenster vorbei und geduckt an Dürings oberem Garten entlang wo die Hecke ihren Blick aus dem östlichen Verandafenster noch nicht ganz verdeckt sie mich noch immer ausspähen und zurückrufen kann rasch bis zur Ecke des Grundstücks die gleichfalls die Ecke Hübner-Wilhelmstraße ist entkommen und angehalten und in die Hocke und die kratzenden Strümpfe von den langen mit Knopflöchern versehenen Gummibändern abgeknöpft und runtergerollt so daß die dicken wollenen Ringe über die Hacken hinunter auf der Erde nachschleifen jetzt von dem durch Kaltesophie streng vorgeschriebenen Schulweg abgewichen und nicht etwa die Hübnerstraße weiterverfolgt sondern sie überquert und geradeaus bis zum Friedhof dort krauche ich durch den verwilderten Kurpark stoße am Kriegerdenkmal auf die Zittauer Straße und bin schon da und sitze als erste im Klassenraum lange bevor die andern eintrudeln.

Wie sehen denn deine Finger aus?

Fräulein Mammert hat mich geschlagen.

Warum?

Wir haben einen Vogel fliegen lassen.

Wer?

Alle.

Und nun sehen alle Hände aus wie deine?

Nein.

Also wer?

Susanne Lampertz und ich.

Wer ist Susanne Lampertz?

Aus dem Gemeindehaus.

Schöner Umgang, weiter.

Der Vogel hat die Scheibe kaputtgemacht.

Was war das für ein Vogel?

Eine Taube. Dann hat sie uns auf die Finger geschlagen, mit ihrem Lineal auf die Fingerspitzen. Wir mußten die Hände zwischendurch drehen, damit sie innen und außen rankommt.

Und wer soll die Scheibe bezahlen?

Ich.

Patsch, patsch – eine links, eine rechts.

Und jetzt ins Bett, Denkpause.

Im dritten Kriegswinter schenkten sie mir zu Weihnachten ein Paar Schlittschuhe. Das waren solche zum Anschrauben, die setzten wir unter unsere normalen Winterstiefel und drehten und bohrten die Schlittschuhklammern so lange in den Absatz, bis er sich in seine geschichteten Bestandteile auflöste. Vorne hing auch bald die Sohle herab, aber ich war nicht mehr von den Schlittschuhen herunterzubringen. Gelernt habe ich gegenüber auf Inderans Gartenteich.