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Inhalt

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Titel

Motto

Zitat

Dramatis Personae

1. Kapitel: Die neue Welt des Herrn G.

2. Kapitel: Mes

3. Kapitel: Mir ist nicht kalt, wenn ich bei dir bin

4. Kapitel: Im OFF

5. Kapite:l: Europäische Methoden

6. Kapitel: Zwillingsschwester

7. Kapitel: Marx

8. Kapitel: Der Tod kommt aus Pohorje

9. Kapitel: Ich hasse Karneval

10. Kapitel: Pater Kirilov

11. Kapitel: Desinfektion

12. Kapitel: Krieg und Frieden

13. Kapitel: Scheiße

14. Kapitel: Kristallkugel

15. Kapitel: Das vollkommene Archiv

Übersetzungsförderung

Autorenporträt

Übersetzerporträt

Über das Buch

Impressum

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Leserin, Leser!

Alles in diesem Buch ist aus freien Stücken erfunden.
Mögliche Ähnlichkeiten mit lebenden Personen
und wirklichen Ereignissen gehören der Art von Zufällen an, mit denen es die Literatur nun einmal zu tun hat.
Wirklich ist einzig und allein Maribor.

Der Geringe erfährt Nachsicht und Vergebung,
doch die Mächtigen werden gerichtet mit Macht.
Buch der Weisheit 6,6

Dramatis Personae

(in der Reihenfolge ihres Auftretens)

Adam Bely (»Adam Weiß«), ehemaliger Dramaturg und Regionalleiter der Scientologen

Rosa Portero (»Rosa Türhüter«), Belys Verbündete, Radiojournalistin

Samo Gram (»Nur ein Gramm«), alias Herr G., Wirt der NEUEN WELT, ehemaliger Grenzer und Mitarbeiter von mehreren Geheimdiensten

Tone (»To ne« – »Das nicht«), Kellner

Tine Mesarič (»Ti ne« – »Du nicht«), alias Tine Mes, Metzger, Präsident und Vorstandsvorsitzender der MES AG

Die Sekretärin von Tine Mesarič

Alte Bettlerin mit dem Tod im Mund

Ivan Dorfler, Chef des alternativen Kulturzentrums OFF und Dekan der Universität von Maribor

Laszlo Farkas (»Lazlo Wolf«), Staatsanwalt, Mitglied des Zwillingskults

Pavel Don Kovač (»Pavel ›Dong‹ Schmied«), künstlerischer Leiter der Kulturhauptstadt, ehemaliger Regisseur

Miran Voda (»Stilles Wasser«), Mariborer Bürgermeister

Der Ungar, Mitglied des Zwillingskults, Liebhaber und Entführer von Rosa

Aleš Šteger, Leiter des Terminals 12 bei der Europäischen Kulturhauptstadt Maribor 2012

Anastasia Grin (»Anastasia Grün«), Theaterdirektorin und ehemalige Freundin von Bely

Maister (»Meister«), bekannter Mariborer Anwalt

Dame mit Brosche, klassische Mariborer Bürgerin

Magda Ornik (»Magda Ordnung«), Direktorin der Mariborer Friedhofsverwaltung

Maus, Polizeiinspektor, ehemaliger Schulkamerad des Bürgermeisters und zugleich sein größter Gegenspieler

Gros, Assistent von Polizeiinspektor Maus

Elektroinstallateur in der Stripteasebar BLUE NIGHT

Schwester Magda, Nonne am Sitz der Mariborer Erzdiözese

Dichter ohne Namen, ehemaliger Broker an der Triester Börse

Vater Metod Kirilov (Pater mit den Namen der Brüder Kyrill und Method, byzantinischen Gelehrten, die die Christianisierung der Slawen betrieben), Hauptökonom der Mariborer Erzdiözese

Zwei auf Tauben spezialisierte Kammerjäger

Drei besoffene Clowns

Franci und Lojs (typische Namen der Mariborer Arbeiterklasse), bei der Mariborer Stadtverwaltung angestellte Arbeiter

Dolores (»Schmerz«), Sekretärin der Direktorin des Slowenischen Nationaltheaters in Maribor

Gubec (»Faltenmensch«, Name eines Anführers mittelalterlicher Bauernaufstände), Enthüllungsjournalist und Inhaber einer Nachrichtenagentur

Hostessen im Mariborer Nationaltheater

Amerikanischer und britischer Militärattaché

Ein Kellner in der Theaterbar

Janez Maher (»Janez, der Macher«), Mariborer Geschäftsmann

Nana Numen (»Nana Göttlicher Wille«), Wahrsagerin

Schwarzes Schwein, das zwitschert

Alle Zitate aus der Vorstellung von Krieg und Frieden stammen aus Darko Lukićs Theateradaption des gleichnamigen Romans von Tolstoi und wurden von Matthias Göritz nach dieser Fassung übersetzt.

1. Kapitel
Die neue Welt des Herrn G.

Manch einer vergibt, um anderen zu helfen. Die Mehrheit von uns vergibt, um sich selbst zu helfen. Aus Eigennutz. Es gibt aber eigenartige Menschen, die in der Überzeugung vergeben, die Welt zu retten. Woher stammt dieser Glaube? Wer schreibt ihnen ihre einzigartige Rolle zu? Wer flüstert ihnen ihre Gedanken ein? Und dazu derart gefährliche Gedanken, die immer an einem ganz bestimmten Ort zu einer ganz bestimmten Zeit auftauchen. Wir wissen es nicht. Ist es überhaupt wichtig? Würde es irgendetwas ändern? Ist nicht das Einzige, was zählt, das dichte Geflecht des Brokatvorhangs auf der Bühne, das Gewicht des Nebels, der durch das Dunkel fällt, Nässe und Kälte? Stille. Dunkelheit. Der Vorhang hebt sich, und alles, was wir erkennen können, ist ein Mann. Er hat sich hinter dem hochgeschlagenen Kragen seines Wintermantels versteckt, die Hände in den Taschen, am rechten Handgelenk baumelt eine schwarze Aktentasche. Er schwankt ein wenig. Der Bürgersteig ist nicht geräumt. Der Mann versucht einer schon ausgetretenen Fußspur zu folgen. Um ein Haar wäre er gefallen. Hinter ihm bröckeln die Jugendstilfassaden. Im blassen Licht der Straßenlampen sprüht Regen, der sich in Schnee verwandelt. Nur selten kommen Passanten vorbei. Das Dunkel spuckt sie still aus, um sie im nächsten Augenblick genauso still wieder zu verschlucken. Die ganze Zeit folgt eine Frauensilhouette dem Mann auf den Fersen. Ihnen kommt eine Gestalt entgegen. Sie sieht aus wie der Teufel. Nun ja, es ist auch der Teufel. Einen Meter vor dem Mann taumelt er. Glatteis, die enge Fußspur im Schnee und das, was einmal in der Flasche war, die er in seiner klauenhaften Hand hält, haben das Ihre getan. Die Fußsohlen segeln hoch in den Nebel. Für einen Augenblick sieht man die nassen Hosenbeine der Jeans, die der Teufel unter seinem Kostüm trägt. Seine Kette klirrt am Kantstein. Die Flasche rollt fort in den schmutzigen Schnee. Ein dumpfer Fall. Ein Fluchen.

Eine Kirchenglocke schlägt zehn. Der Mann hört die Frau, die ihm immer noch auf den Fersen ist, sagen: »Der arme Teufel.« Dann eine Neonreklame: NEUE WELT, die sich schwach durch den gefrierenden Nebel brennt. Ein Anblick, den niemand in dieser Nacht erwartet hätte. Es fühlt sich an wie eine epochale Entdeckung, obwohl das Restaurant seit über dreißig Jahren an der gleichen Ecke der engen Gasse klebt. Der Mann dreht sich um und nickt der Frau hinter ihm zu. Sie sind angekommen.

Die Türfeder schließt die Tür hinter ihnen wieder langsam.

»All die Jahre hat sich nichts verändert«, sagt der Mann leise auf Deutsch.

Die Silhouette hinter ihm schlägt ihre Kapuze zurück. Sofort bringen ihre langen, schwarzen lockigen Haare den Raum zum Schwanken. »Das ist gut«, sagt die Frau mit heiserer Stimme und schaut sich im Gasthaus um.

Holzbalken, Fischernetze mit Korallen und Muscheln, ein Lüster in Form eines Ankers. Mit Staub bedeckte Reusen, eine Wanduhr mit Nymphe auf dem Pendel, pastellfarben gemalter Sonnenuntergang an der Wand. Keine Menschenseele da. Aus der Küche hört man das Zischen von Gebratenem. Schwere Luft mit einem Duft nach Fisch und Öl. An der Holztheke klebt ein Plakat, ein rotes Kreuz auf schwarzem Hintergrund, auf dem IN MIR steht. Ein Teil des Plakats ist mit einem anderen Plakat überklebt, von dem vier fröhliche Seemänner lächeln und den Auftritt einer dalmatinischen Gesangskapelle verkünden.

»Die Küche hat schon geschlossen!« Diese Worte bleiben in der verschwitzten Luft hängen. Der Kellner verschwindet durch eine Klapptür. Er trägt zwei Kristallbecher mit Eis und Schlagsahne vor sich her, zwei fliegende Untertassen, die den Kellner durch den Raum ziehen.

Im Restaurant gibt es keine Gäste. Nur in einer entfernten Ecke ein altes Paar. Die Kristallbecher landen auf dem Tisch vor ihnen. Die Frau hebt den Löffel, schiebt ihn in die Sahne, der Mann zählt Geld ab und legt es auf den Tisch.

»Tut mir leid, wir schließen«, wiederholt der Kellner, ohne sich umzudrehen.

»Wir suchen den Chef, Herrn Gram«, sagt der Mann im Wintermantel.

Der Kellner zeigt auf drei flache Treppenstufen, die ins Separee führen. Die Schwarzhaarige schaut den Mann an, der seine schwarze Aktentasche vor sich streckt und als Erster hinaufgeht. Treppenknarzen.

»Guten Abend«, sagt der Mann.

Samo Gram, bzw. Herr G., wie der Besitzer des Restaurants NEUE WELT gern genannt wird, sitzt hinter einem großen Tisch und beugt sich über eine Zeitung. Graue Brille auf der Nasenspitze, über den Gläsern schauen ein paar dichte weiße Augenbrauen hervor. Seine Stirn ist von Schweißtropfen übersät. Gram ist anscheinend die Art von Mensch, dem immer zu warm ist. Die niedrig über dem Tisch hängende Lampe unterstreicht diesen Eindruck noch. Grams Präsenz erfüllt den Raum mit seltsamer Aufdringlichkeit. Trotz der Jahre, die er im Fischrestaurant verbracht hat, herrscht um ihn herum kein schweißiger Fischgeruch. Vielmehr riecht Herr Gram ohne Zweifel nach – Schweinen. Und je mehr er schwitzt, desto stärker stinkt er.

»Guten Abend«, antwortet der sichtlich müde Gram und betrachtet die beiden Ankömmlinge. »Was wollen Sie?«

»Wahrscheinlich erinnern Sie sich nicht an mich«, antwortet der Mann. »Mein Name ist Adam Bely. Das ist meine Kollegin Rosa Portero.«

Gram steht auf, gibt beiden die Hand, sie setzen sich zusammen hinter den von der Zeitung bedeckten Tisch.

»Ich bin ein Mariborer, obwohl ich schon seit sechzehn Jahren nicht mehr hier lebe. Zu meiner Zeit war ich hier regelmäßig zu Gast. In Wirklichkeit bin ich nur Assistent. Meine Kollegin hier will fürs Radio ein Porträt der Stadt machen. Jetzt wo Maribor Europäische Kulturhauptstadt ist, ist das für die Österreicher ein interessantes Thema. Wir dachten, es wäre das Beste, an einem Ort zu beginnen, der in der Stadt bekannt ist und als Ausgangspunkt für den Beitrag dienen könnte. Gasthäuser bewahren die Geschichte einer Stadt, und das Ihre ist sicher auch einigen österreichischen Hörern bekannt.«

»Freilich, freilich«, murmelt Gram. »Haben Sie Hunger, möchten Sie etwas essen oder trinken? Ein Glas Wein vielleicht? Tone!«, ruft Gram, ohne auf eine Antwort zu warten.

»Ich danke Ihnen, sehr freundlich«, antwortet Bely. In diesem Moment tritt Tone mit dem Abendessen und einem Gedeck für eine Person in den Raum. »Sie müssen mich entschuldigen, ich war den ganzen Tag auf den Beinen und habe noch nichts gegessen. Bitte, was dürfen wir Ihnen anbieten? Selbstverständlich geht alles aufs Haus«, sagt Gram.

Tone wischt mit dem Handrücken über das Zeitungspapier und stellt den Teller vor Gram auf den Tisch.

»Danke, wir sind wirklich nicht hungrig, ich nehme nur ein Mineralwasser«, sagt Bely.

»Sie können kein Mariborer sein, wenn Sie nur Wasser trinken, obwohl, wenn man Ihnen so zuhört, würd ich schon sagen, dass Sie einer sind. Wissen Sie nicht, dass Mineralwasser schlecht für die Zähne ist? Und Sie, Gnädigste?«, schaut Gram Rosa Portero ganz weich an, die inzwischen den schwarzen Pelzmantel ausgezogen hat und in einem dunkelroten Kleid dasitzt, über das sich ein Muster schwarzer Orchideen rankt.

»Ein Viertel Weißwein, Riesling bitte«, bestellt Rosa Portero mit unerwartet heiserer, fast schon männlicher Stimme.

»Wissen Sie, Frau Portero spricht kein Slowenisch, nur ein paar Worte, doch sie versteht vieles«, sagt Bely.

»Freilich, freilich«, erwidert der über Rosas Stimme sichtlich verwunderte Gram und steckt sich die Serviette in sein aufgeknöpftes Hemd, von dessen breiter Brust graue Haare dicht auswuchern.

»Bitte, lassen Sie sich nicht stören. Guten Appetit!«, sagt Bely und schaut auf seine Begleitung.

»Guten Appetit«, sagt Rosa Portero mit tiefer Stimme.

Auf Grams Teller liegt ein gegrillter Tintenfisch. Seine Tentakel ragen über den Rand. Bratkartoffeln liegen um das Weichtier herum, die Hälfte einer Zitrone.

»Ich könnte für Tintenfisch sterben, und Sie?«, sagt Gram und fährt fort, ohne auf Belys Antwort zu warten. »Wussten Sie, dass Tintenfische drei Herzen haben? Drei!«, ruft Gram theatralisch und reckt die Messerspitze in die Luft wie ein Ritter seine Lanze vor dem Zweikampf. »Und wussten Sie, dass die außergewöhnlich geschmeidig sind? Auch große Exemplare wie der hier können sich durch eine Öffnung ziehen, die so klein ist wie mein Daumen.« Gram hebt seine rechte Hand, in der er die Gabel hält, und spreizt seinen Daumen in Rosa Porteros Richtung. »Und intelligent sind sie, und wie!«, sagt er.

Tone bringt das Mineralwasser und zwei Gläser Wein, roten und weißen. »Brauchen Sie noch was, Chef? Wenn nicht …«

»Schon in Ordnung, mach ruhig Feierabend, ich werde zuschließen.« Gram winkt den Kellner fort. »Also, wo waren wir stehen geblieben. Ah, stimmt, bei der Intelligenz der Tintenfische. Denken Sie, dass wir Menschen wegen unserer Gehirne intelligent sind? Von wegen! Wir alle meinen, dass wir mit dem Hirn denken, aber der Tintenfisch ist der lebendige Beweis, dass dem nicht so ist. Der Tintenfisch hat ein ganz kleines Gehirn, doch ist er intelligent wie der Teufel. Wissen Sie, warum? Weil er einen intelligenten Körper hat. Sein ganzer Körper ist intelligent, nicht nur sein kleines Gehirn. Wir Menschen haben unsere Gehirne gewaschen und vertrauen blind der Wissenschaft, die uns das meiste doch bloß verhüllt oder im falschen Licht zeigt.« Gram wischt sich den Schweiß von der Stirn und stützt sich sichtlich erregt auf die Rückenlehne des Stuhls, der dabei leise quietscht.

»Das ist ein außerordentlich interessanter Gedanke«, sagt Bely ruhig und schlürft einen Schluck Mineralwasser.

»Der Mensch hat den Computer erschaffen«, fährt Gram fort. »Doch anstatt den Computer als eine sehr vereinfachte Annäherung an das menschliche Funktionieren zu verstehen, nehmen wir den Computer heute schon als Modell für den Menschen. Wenn wir über das menschliche Gehirn nachdenken, stellen wir es uns als eine Art Harddisk vor. Falsch, alles falsch!«, ruft Gram und legt sein Besteck weg, das er noch vor einem Moment auf einen der Tentakel des gebratenen Tintenfischs angelegt hatte. »Brot gab es nicht vor dem Mehl, verstehen Sie? Die Wahrheit ist: Nichts ist im Gehirn abgespeichert. Nichts! Das Gehirn ist nur ein Transformator, ein Schalter. Der Strom fließt, der Strom fließt nicht, das ist alles. Glauben Sie nicht? Schauen Sie sich den Tintenfisch an, er wird Ihnen alles erzählen.«

Alle drei wenden ihre Blicke auf den Teller. Für einen Moment kann man das Ticken der Wanduhr aus dem Nachbarraum hören. Gram nimmt wieder das Besteck in seine Hände, fährt mit flüsternder, fast verschwörerischer Stimme fort.

»Es gibt noch eine Sache, wodurch uns der Tintenfisch belehren kann, wie die Dinge in Wirklichkeit sind. Die Ursache für den natürlichen Tod eines Tintenfischs ist immer das Ficken. Tintenfische sterben nie aufgrund ihres Alters. Entweder bringt sie jemand um, oder sie sterben an der Fortpflanzung. Die Männchen sterben ohnehin ein paar Monate nach der Begattung. Die Weibchen aber, meine liebe Dame – Portero, nicht wahr? –, die Weibchen des Tintenfischs hungern sich selbst zu Tode beim Hüten ihrer Brut.«

Endlich schneidet Gram in die Mitte des Tintenfischs. Ein großes Stück saftigen Fleischs wandert am Ende der Gabel in den Mund. Gram kaut zufrieden, nickt vor sich hin. Beide Gäste schweigen. Ungeniert betrachtet Gram die schönen Haare von Rosa Portero. Er lächelt verführerisch in ihr dunkelbraunes, rechtes Auge, so dass es sich leicht und schüchtern schließt, doch sofort wieder öffnet, wohingegen das rechte Auge die ganze Zeit hinter dem Wasserfall ihrer dichten schwarzen Locken versteckt bleibt. Gram zwinkert und trinkt ein wenig Wein.

Rosa lächelt freundlich. An den Händen trägt sie noch immer dünne Lederhandschuhe. Mit der linken greift sie nach ihrem Glas Riesling, hebt es – hopp – und trinkt es in langen, gierigen Schlucken aus.

Adam Bely zieht einen Füller aus der Brusttasche seines Sakkos und beginnt ihn auf dem Zeitungspapier hin und her zu rollen.

Rosa stellt das Glas ab. Ein roter Halbmond ihres Lippenstifts hat sich in den Glasrand gebissen. Mit der behandschuhten Hand berührt sie die Ecken ihres Munds und streicht sich das Haar aus dem Gesicht.

Scheint es Gram nur so, oder sieht ihn wirklich ein schlangenartiges Glasauge an? Ihm ist, als könnte es jederzeit über ihn herfallen und ihn verschlingen. Er fürchtet in dieses grüne Auge hineinzustürzen, so tief, dass es keinen Weg zurück an die Oberfläche mehr gibt.

Bely hebt den Füller, tick tack geht die Uhr im Nachbarraum, tick tack schwingt der Füller. Und da ist das Auge, das zugleich Mund ist. Im Mund eine Glasstimme. Herr G. kann noch so ein mutiger kleiner Junge sein, der barfuß über das Feld in eine unbekannte Richtung weg von zu Hause läuft, es gibt kein Entkommen. Der scharfe Schmerz gepikster Fußsohlen, ein vages Schwindelgefühl voll Angst und Überraschung über sich selbst.

Gram verschluckt sich, beginnt zu husten. Bely beugt sich vor und versetzt ihm einen starken Schlag auf den Rücken. Der Bissen Tintenfisch fliegt aus dem Mund zurück auf den Teller. Er fügt sich wieder ein in die beiden Teile des zerschnittenen Fischs, die Tentakel leben auf, sie umgreifen den Tellerrand. Der Tintenfisch auf dem Teller ist auf einmal wieder lebendig. Die Fangarme erzittern, bewegen sich, im nächsten Moment schießt der Tintenfisch unter den Tisch. Auf dem Teller bleiben nur die Kartoffeln und auf dem Zeitungspapier die feuchte Schlängelspur der Saugnäpfe zurück.

»Das ist ja nicht möglich!« Dies ist Grams letzter Gedanke, als er schon tiefer und tiefer fällt. Dieser Gedanke ist das letzte brüchige Steinchen, an dem er sich festhält beim Fallen durch das grüne Glas. Inzwischen fällt die ganze Landschaft unaufhaltsam und immer tiefer ins Grün, tick tack, sind alle Wiesen immer heller, drehen sich alle Heuharfen und Bäume und die Spitzen der grünen Berge in der Ferne. Nein, jetzt gibt es keinen Weg mehr zurück und kein Zuhause. Jetzt ist es nicht mehr möglich, ins Gras zu starren, das kriecht und sich im Wind bewegt, als ob’s lebendig wär und rund um ihn herum wüchse, um ihn zu umschlingen, ihn in die Tiefe zu ziehen, ohne Möglichkeit einer Rettung.

»Hör auf meine Worte, und alles wird gut«, sagt Bely und stellt Teller, Gläser und Besteck beiseite.

Rosa neigt sich ganz nah zu Grams Gesicht und schnalzt zweimal mit der Zunge.

»Er ist in tiefer Hypnose«, sagt Bely. »Er hat keine Möglichkeit zu lügen. Trotzdem werde ich ihn ans E-Meter anschließen.«

Rosa nickt.

Bely zieht aus seiner schwarzen Aktentasche eine kleine metallene Box, die in einem Lederetui steckt. Auf der Box gibt es ein paar Knöpfe und Zeiger. Bely schließt zwei Drähte mit Metallwalzen an und steckt sie Gram in die Hände.

»Fest zudrücken«, befiehlt Bely.

Gram gehorcht. Er starrt abwesend vor sich hin und hält die Walzen fest.

»Aufnahme«, sagt Bely. Rosa zieht aus ihrem Nerzmantel ein Diktafon und schaltet es ein.

Bely beugt sich nach vorn und stellt Gram die erste Frage. »Wer bist du?«

»Samo Gram«, antwortet Herr G.

»Was bist du von Beruf?«

»Ich bin Zollbeamter.«

»Was bist du sonst noch?«

»Ich hatte viele Namen. Abhängig davon, was gerade gebraucht wurde. Richtige und falsche.«

»Für wen arbeitest du?«

»Für mich. Heutzutage arbeite ich nur noch für mich selbst.«

»Für wen hast du früher gearbeitet?«

»Für den Zoll. Und auch für den jugoslawischen Geheimdienst, später dann für den slowenischen.«

Bei den Antworten schaut Bely auf den Ausschlag am E-Meter. Der Zeiger schwingt die ganze Zeit schön in der Mitte des Feldes.

»Ich sehe, du lügst nicht«, sagt Bely.

Rosa Portero steht auf und verschwindet im größeren Nebenraum.

»Ich lüg nicht«, sagt Gram.

»Woran denkst du beim Wort Lüge?«

»An mein kleines Kätzchen. Eines Tages war es verschwunden. Ich hab es überall gesucht, rund um den Bauernhof, wo wir lebten, auf den Feldern, sogar in den nahe gelegenen Hügeln. Ich habe geweint und war untröstlich. Mama hat mir versprochen, dass es zurückkehren wird. Ich hab sofort gewusst, dass sie lügt.«

»Woran denkst du zuerst beim Wort Glück?«, fragt Bely.

»Ich erinnere mich. Das Schlachtfest an der Grenze.«

»Was war da?«

»Damals war ich ein junger Zöllner, es war in Kärnten, an der Grenze zwischen dem ehemaligen Jugoslawien und Österreich. Den ganzen Tag lief ich im Wald herum, ich hab viel verdient, wir hatten großen Spaß. Damals hab ich das nicht gemerkt, aber im Nachhinein weiß ich, dass ich glücklich war.«

»Sag mir ein Beispiel, wo es dir gut ging.«

»Das Haus eines Bauern stand genau auf der Grenze. Die Grenze verlief durch seine Küche, verstehst du? Eigentlich hätte er einen Reisepass gebraucht, um aus der Küche, die in Jugoslawien lag, zum Scheißen zu gehen, er hatte ja die Toilette in Österreich. Also der Bauer wollte ein Schlachtfest geben, eins in der für Besucher gesperrten Grenzzone. Uns, die Zöllner, bat er, ihm illegal einen Metzger zu beschaffen, und wir haben einen zu ihm gebracht. Ein paar Stunden später holten wir ihm dann auch noch die österreichischen Zöllner ins Haus. Gerade als das Schwein abgehäutet und zerteilt dalag, sind wir zusammen mit den Österreichern aufgetaucht und haben ihm den Schreck in die Glieder gejagt. Nicht nur wegen seiner Schwarzschlachtung. Viel schlimmer. Wegen des Versuchs der Beihilfe zum illegalen Grenzübertritt des Metzgers. Dafür konntest du zu dem damaligen Zeitpunkt leicht zwanzig Jahre bekommen. Der Bauer hat uns dermaßen angefleht, dass er am Ende vor Angst auf die Knie fiel und sich in die Hose pisste. Mamma mia. Wir haben uns mit den Österreichern fast totgelacht. Nur der Bauer hatte nicht viel mit dem Spaß am Hut. Er ist schön auf den Knien geblieben, in der Pisselache, und flehte uns an. Am Ende teilten wir uns das Schwein mit den Österreichern als Gegenleistung dafür, dass wir ihn nicht anzeigten. Wir ließen ihm aber den Schweinekopf. Er lag genau auf der Grenze, und es hatte keinen Sinn, sich darüber zu streiten, ob es ein jugoslawischer oder österreichischer war.«

»Hat dich das glücklich gemacht?«

»Und wie. Und dazu wurde ich noch reich. Zumindest konnte ich genug auf die Seite legen, um nach zehn Jahren Grenzdienst dieses Restaurant zu kaufen.«

»Woran denkst du zuerst, wenn du an etwas Trauriges denkst?«, fragt Bely und streckt sich, um zu sehen, was Rosa macht. Zwischendurch hört man aus der Bar das Klingen von Gläsern.

»An Fußball.«

»Ich will wissen, was dich persönlich getroffen hat.«

»Mama hat mich geschlagen, weil ich Knochen nach Hause gebracht hab. Angeblich waren es menschliche. In Pobrežje, wo ich aufwuchs, ragten sie überall aus der Erde. Wir Kinder haben sie rausgezogen und spielten damit Grashockey. Aber ich durfte keine nach Hause bringen. Ich kann mich erinnern, wie mich Mama übers Knie legte und wie der Knochen knirschte, als sie mich mit ihm schlug.«

»Das ist das Traurigste, was dir im Leben widerfahren ist?«

»Ich weiß nicht.«

»Wie, du weißt es nicht?«

»Es gibt noch etwas viel Traurigeres, doch ich weiß nicht, ob es mir in meinem Leben passiert ist.«

»Wem dann?«

»Es passierte meiner Mutter. Ich höre, wie sie schreit. Alles um mich presst sich zusammen, erstickt mich. Ich fühle, wie etwas Fleischiges in mein Köpfchen stößt.«

»Wo bist du?«

»Ich bin noch in meiner Mutter, ich war noch nicht geboren.«

»Ist das dein Vater?«

»Nein.«

»Was geschah später mit diesem Mann?«

»Ich weiß nicht, ich hab nie herausgefunden, wer er war.«

»Wieso nicht?«

»Ich hab’s nicht. Zum Glück. Wenn, dann hätt ich ihn umbringen müssen.«

»Wer bist du?«

»Samo, Samo Gram. In der Schule haben mich meine Schulkameraden gehänselt, ich wär nur ein kleines Gram, nur ein Grämmchen. Später hab ich allen gezeigt, wer ich bin.«

»Wer warst du vorher?«

»Ich sehe grünes Licht. Die Wiesen machen mich blind. Sie werden abbrennen, siehst du das nicht?«

»Ich wiederhole die Frage: Wer warst du, bevor du als Samo Gram geboren wurdest?«

»Viele.«

»Zum Beispiel?«

»Ich war ein Flößer, hier auf der Drau. Der Fluss, die Strömung, mein Leben. Das sind wunderbare Jahre. Doch ich weiß nicht so genau. Ich vermisse meine Familie zu sehr, meine vier Söhne, meine Frau. Wir haben uns gern.«

»Weiter«, sagt Bely.

»Ich rieche eine feuchte Dunkelheit. Blutiger Husten zerfrisst meine Lungen und Nasenlöcher. Ich sehe eine kleine Laterne, die flackert ein wenig abseits in einem Tunnel, wo ich als Bergarbeiter nach Quecksilber grabe. Gestern hat es drei Kumpel im Nachbartunnel verschüttet. Bei der Arbeit kommen mir die ausgemergelten Körper vor Augen, bei denen ich geholfen hab, sie rauszutragen. Wie kühl sie gewesen sind, obwohl wir sie schnell ausgebuddelt haben.«

»Fahr fort.«

»Ich war auch Nonne in einem Kloster. Es war noch vor dem Ersten Weltkrieg.«

»Im Kloster?«

»Ich hab Aussatz geheilt, in Bayern.« Gram kichert.

Bely schaut auf den Zeiger am Gerät, die Nadel schwingt genau in der Mitte.

»Warum lachst du?«

»Ich war lesbisch. Aber zum Glück hat das niemand herausgefunden, außer Anna.«

»Anna?«

»Ja, Anna. Sie war auch eine Benediktinerschwester, meine Geliebte.«

»Wovor fürchtest du dich?«

»Vor den Kalvarien.«

Im Nachbarraum das Aneinanderschlagen von Flaschen. Rosa wirft eine davon auf den Boden, so dass sie zerschellt. Mit der anderen in der Hand kommt sie zurück zu Bely, stellt sie auf den Tisch, Jack Daniel’s. Bely schaut sie streng an, doch hört er nicht auf, Herrn G. zu befragen.

»Welche Kalvarien?«, fährt Bely fort.

»Kalvarien.«

»Du meinst die von Christus?«

»Nix da mit Christus! Ich mein den Kalvarienberg, den Hügel hier über Maribor. Ich dachte, du kommst von hier, aber du weißt ja gar nichts. Ich hab Angst vor dem Kalvarienberg und der Macht des Großen Ork.«

»Was ist der Große Ork?«

»Der Große Ork, die dreizehn Hüter des Geheimnisses.« Gram kichert erneut.

»Was ist denn nun wieder so lustig?«, fragt Bely.

»Einige wissen nicht einmal selber, dass sie Teil des Orks sind«, erwidert Gram und wird für einen Moment ernst. »Die Mehrheit kennt die anderen Mitglieder nicht. Die Dreizehn des Großen Orks ziehen die Fäden dieser Stadt. Sie bewegen sich, wissen aber nicht, wie und warum, und …«

Rosa neigt die Flasche, trinkt, stellt sie aufs Zeitungspapier und verkorkt sie wieder. Ihr braunes Auge ist trüb, halb geschlossen.

»Du weißt viel«, sagt Bely.

»Es ist mein Beruf, viel zu wissen. Wenn ich nicht so viel wüsste, wäre ich nicht mehr am Leben.«

»Namen, wer sind sie?«, brüllt Rosa auf einmal.

»Ich darf nicht, der Große Ork, sie werden mich umbringen«, schreit Gram erschrocken. Er beginnt zu zittern. Von ihm steigt der unerträgliche Gestank von Schweinefleisch auf.

»Wir werden dich retten, mach dir keine Sorgen«, sagt Bely.

»Der Große Ork wird mich umbringen. Keiner ist stark genug, um ihm zu entfliehen!«

»Glaubst du an Vergebung?«

»Ich weiß nicht, was Vergebung ist. Was meinst du damit?«

»Das ist unwichtig«, sagt Bely. »Du brauchst nur zu wissen, dass du aus diesem Reich entlassen wirst und dass dir vergeben wird. Du wirst leben, und der Große Ork wird dir nichts anhaben können.«

»Ich bin zu alt, um ins Ausland zu flüchten, und es gibt keinen Ort, wo ich sicher sein könnte.«

»Sorg dich nicht, wir kennen einen Ort, an dem du sicher sein wirst. So sehr in Sicherheit warst du nicht mehr seit deiner Geburt. Jetzt sag mir nur noch ihre Namen.«

»Ich weiß nicht, wer sie sind, ich kenn nur ein paar.«

Bely schaut auf den Zeiger seines Messgeräts. Manchmal schlägt er stark nach links aus.

»Namen, wir wollen Namen!«, brüllt Rosa wieder. Sie tunkt die Finger des linken Handschuhs in einen Whiskeyfleck, der sich zwischen Überschriften, Textblöcken und Fotos eingefressen hat, und zeichnet einen großen Kreis aufs Papier.

Gram zählt sechs Namen auf: »Tine Mesarič, Dorfler, Laszlo Farkas, Pavel Don Kovač, Anastasia Grin, Magda Ornik.«

»Mehr, wir brauchen alle dreizehn.«

»Mehr kenn ich nicht.«

Der Zeiger am E-Meter schlägt wieder stark nach links.

»Wie ist es möglich, dass er lügt, obwohl er doch tief unter Hypnose steht«, murmelt Bely vor sich hin.

Rosa zieht mit ihren Zähnen den Stöpsel aus der Flasche, spuckt ihn aus, nimmt einen tiefen Schluck und zerschlägt die Flasche am Tischrand, so dass der Whiskey Gram übergießt. Gram bleibt ungerührt. Glasscherben überall auf dem nassen Zeitungspapier. Rosa schiebt sie mit der behandschuhten Hand zur Seite und zeigt auf ein Foto.

»Ja, er auch.«

»Was weißt du über ihn?«

»Zu viel. Als wir klein waren, spielten wir miteinander. Später waren wir Zimmergenossen an der Kadettenschule. Ich hab sie wegen ihm nicht zu Ende geführt. Jemand hat dem Direktor die Brieftasche gestohlen und sie in meinen Spind gelegt. Seitdem hassen wir einander aus tiefster Seele. Nachdem er Bürgermeister geworden ist, versuchte er mich auf jede erdenkliche Weise aus der Stadt rauszuekeln, doch ich lass mich nicht vertreiben, auch ich habe meine Informationen. Jetzt lässt er mich in Ruhe. Er weiß, ich kann ihm schaden, ihn sogar vernichten.«

Rosa schaut Adam an.

»Die Wahrheit?«, fragt sie auf Slowenisch.

Adam beobachtet die Nadel am E-Meter. Er nickt.

»Und?«

»Ich kenne wirklich keine anderen Namen mehr.«

Bely und Rosa schauen sich an.

Rosa schaltet das Diktafon aus, wischt es an den schwarzen Orchideen ihres Kleides ab.

»Wir haben etwas für dich, alte Seele. Nimm, und all deine Vergangenheiten werden dir vergeben«, sagt Bely.

Rosa legt eine silberne Puderdose auf das Zeitungspapier. Darin befinden sich leicht bräunliche Backerbsen.

»Seit dreißig Jahren esse ich ausschließlich Fischsuppe ohne Fritaten«, sagt Gram.

»Was sind dreißig Jahre im Vergleich mit der Ewigkeit«, meint Bely und drückt ihm eine Backerbse in den Mund.

Wenig später verlischt das Licht vorm Gasthaus NEUE WELT. Zwei Paar Füße, eines schwankt ein wenig, das Zertreten von frischem Schnee, der vom Himmel fällt, als wollte er die Stadt und die ganze Welt für immer bedecken. Drei Schläge der Kirchturmuhr. Plakate mit rotem Kreuz auf schwarzem Untergrund. Eine Katze, die über die leere Straße läuft. Noch ein wenig, und es wird Mitternacht sein.

2. Kapitel
Mes

»Herr Präsident, die österreichischen Journalisten sind schon da«, kündigt die Sekretärin den Besuch beim Direktor der Fleischproduktionsfirma MES, Tine Mes, an.

Tine Mes heißt in Wirklichkeit Mesarič. Auch ist er nicht Staatspräsident, sondern der Verwaltungsratsvorsitzende der Firma. Doch Tine Mes ist ein praktischer Mensch und hat, um die Kommunikation mit ausländischen Geschäftspartnern zu erleichtern, den Nachnamen vom für Fremde unaussprechlichen Mesarič in ein einfaches und universelles Mes umgewandelt. Um die Verbindung zwischen seinem Namen und der Gesellschaft, der er vorsteht und die er mehrheitlich kontrolliert, zu erleichtern, hat er zugleich auch den Namen der Firma umgewandelt. Das Lebensmittelverarbeitungsagrokombinat der Oberdrauer Tierzüchter und Fleischverwerter wurde zur MES AG. Von seinen Angestellten erwartet er, dass sie ihn so ansprechen, wie es sich gehört. Vor allem am Hauptsitz der Firma, der er vorsteht.

»Bitte, nehmen Sie Platz, meine Herrschaften, möchten Sie Kaffee, Tee oder Saft«, sagt Mes und unterschreibt noch schnell ein paar Dokumente auf seinem Schreibtisch.

Ein unpersönliches, modernes Bürointerieur, die Creme- und Blumenfarben der Wände beißen sich ein wenig, ein großer Ficus benjamina in der Ecke, ein riesiger Plasmabildschirm, Schreibmaschine mit Firmenfähnchen, gegenüber vom Schreibtisch des Präsidenten eine Ledergarnitur, das Gefühl, man könnte überall sein, wenn wir nicht gerade wären, wo wir sind.

»Sie sind Mariborer? Das heißt, ich brauche Ihnen nicht die Geschichte des Untergangs des Automobilkonzerns TAM zu erklären? Sie wissen sicher, dass auf den Ruinen dieses Industriegiganten vor sechzehn Jahren auch unsere Gesellschaft entstanden ist. Hier hat Hitler per Führerbefehl eine Fabrik errichten lassen, die bis ans Ende des Jahrs 1944 Flugzeugmotorteile gefertigt hat. Da wo jetzt unsere Fabrik steht, stand nach dem Zweiten Weltkrieg die größte Fertigungsanlage für die Herstellung von Motoren schwerer Fahrzeuge, auch Panzerwagen, in ganz Jugoslawien. Zum Teil war es eine Fabrik zur Herstellung leichter Waffen, vor allem von Jagdgewehren. All das gibt es nicht mehr. Heutzutage produzieren wir keine Gewehre und Flugzeuge mehr, wie das Hitler und Tito taten, heute machen wir nur noch köstliche Krainer Würste«, sagt Mes selbstsicher, als hätte er die gleichen Sätze schon oft wiederholt.

Rosa Portero bedankt sich bei der Sekretärin mit einem Kopfnicken für das Glas Cola und prüft, ob das Aufnahmegerät wirklich funktioniert. Trotz des grauen Wintertags trägt sie eine Sonnenbrille und wirkt übermüdet. Während der Ausführungen des Präsidenten lehnt sich Adam Bely immer wieder zu Rosa hinüber und flüstert ihr die Übersetzung des gerade Gesagten auf Deutsch ins Ohr.

»Sie haben die Krainer Wurst erwähnt«, fällt Bely dem Präsidenten freundlich ins Wort. »Ist das Ihr Paradeprodukt?«

»So ist es«, antwortet Tine Mes. »Jedes Jahr produzieren wir rund sechzehn Millionen Stück Würste in Spitzenqualität, die von Hand paarweise mit Holz zusammengespießt werden. Wir führen sie in über vierzig Länder auf der ganzen Welt aus. Vor Kurzem brachte die amerikanische Astronautin slowenischer Abstammung, Nancy Sing, unsere Krainer Wurst in den Weltraum. Und wenn alles nach Plan läuft, wird unsere Krainer Wurst die erste Wurst überhaupt auf dem Mond sein. Unsere Verhandlungen mit der NASA sind in vollem Gang.«

»Über Krainer Wurst im All haben auch die österreichischen Medien berichtet. Doch sagen Sie mir, woher stammt ein derart großes Interesse an Krainer Wurst? Und besonders an einer Krainer Wurst, die nicht aus der Stadt Kranj stammt, nach der sie benannt ist, ja noch nicht mal aus der Region Krain, sondern aus der relativ weit entfernten Südsteiermark?«, fragt Bely.

Der Präsident lehnt sich bei dieser Frage zufrieden zurück. Schon durch seine Körpersprache gibt er zu erkennen, dass dies seine Frage ist, sein Terrain. Er holt tief Luft.

»Die Krainer Wurst erzählt eine typisch europäische Geschichte«, fährt Mes fort. »Erst mit der Europäischen Union wurde uns eine einmalige historische Chance geboten. Wissen Sie, welche? Ich denke da nicht an den freien Markt, wir haben schon vorher in Jugoslawien mit allen und jedem Handel getrieben. Ich denke auch nicht an den Gebrauch westlicher Marketingkniffe. Auch das beherrschten wir schon zu Zeiten des Kommunismus. Nein, die EU gab uns eine einmalige historische« – beim Wort historisch lehnt sich der Präsident nach vorne, seine Stimme bekommt einen feierlichen, fast schon weinerlichen Klang –, »ich wiederhole, eine historische Gelegenheit.«

Adam Bely hört auf, Rosa Portero ins Ohr zu flüstern. Beide halten inne. Sie starren in den unvollendeten Satz des Präsidenten, der wie eine Seifenblase vor ihnen auffliegt, ein paarmal erzittert, sich hebt, sich langsam senkt, sich nochmals hebt und wieder senkt und endlich zerplatzt.

»Gelegenheit?«, sagt Bely. »Was für eine Gelegenheit meinen Sie, Herr Präsident?«

»Ja, die Gelegenheit, ein Produkt als Marke zu schützen, selbstverständlich!«, lächelt der Präsident der MES AG, euphorisch darüber, dass sich in seiner grandiosen rhetorischen Falle noch zwei kleine, unwissende Rehkitze haben fangen lassen.

»Die Krainer haben wir als Marke registriert, und keiner in der ganzen Europäischen Union kann sie uns jetzt mehr wegnehmen. Wissen Sie, was das bedeutet? In unserer ganzen Galaxie gibt es nur elf registrierte Produzenten von Krainer Würsten, und wir sind die größten von allen, wir sind die besten von allen und wir sind auch diejenigen, die den Markt von allen am tiefsten durchdringen. Nimmt es auf?«

Leicht verwirrt über die unerwartete Frage beugt sich Adam Bely über das Diktafon und nickt.

»Selbstverständlich stimmt es nicht, dass unsere Würste nicht im Krainer Land gemacht sind«, fährt Mes ungerührt fort. »Es stimmt nicht, dass unsere, das heißt unsere südsteirischen Krainer Würste, nicht aus der Region Gorenjska rund um Kranj stammen, schauen Sie mal genauer hin. Wir müssen uns fragen: Was ist überhaupt eine Krainer Wurst? Das Rezept ist genial einfach: Man nimmt das beste Schweinefleisch, jungen, elastischen Schweinsdarm, ein wenig Salz, Pfeffer und einen erstklassigen Knoblauch. Das und ein wenig Rauch von Buchenholz und sonst nichts. Das heißt, die Krainer Wurst ist vor allem Schweinefleisch, stimmt’s?«

Der Präsident beugt sich beim letzten Satz zu Bely hinüber, der sofort nickt.

»Jetzt sagen Sie mir bitte, welcher Ort kann sich ein Tier, in unserem Fall ein Schwein, zu eigen machen? Ich meine, das ist nicht der Ort, wo das Schwein geworfen wurde, und auch nicht der Ort, wo es gemästet wurde. Heute können Sie ohne Probleme und ohne es selbst zu wissen ein in Kanada geborenes Schwein in Bangladesch mit tschechischem Weizen füttern, verstehen Sie, wovon ich rede? Das einzig entscheidende Element dafür, ob es sich um Krainer Schweinefleisch handelt oder nicht, ist das einfache Faktum, ob das Tier im Krainer Land geschlachtet wurde und nirgendwo anders. Das ganze erstklassige Schweinefleisch, das zur Herstellung unserer erstklassigen Krainer Wurst dient, wurde in einem der zertifizierten Krainer Schlachthöfe geschlachtet, und Punkt. Basta. Das Fleisch für unsere Schweine kommt aus dem Krainerland. Hier in Maribor geschieht nur die Verarbeitung des zertifizierten Fleisches zu Würsten. Deshalb ist es ohne Weiteres möglich, dass die qualitätvollsten Krainer Würste aus der Untersteiermark stammen.«

»Sind sich denn Maribor und seine Bewohner des Entwicklungspotenzials bewusst, das die Krainer Wurst ihnen bietet?«

Bevor er das Wort Entwicklungspotenzial ausspricht, hält Adam Bely inne, als ob er noch etwas Schweres hinunterschlucken müsste.

»Maribor ist meine Stadt. Nie möchte ich in einer anderen Stadt auf der Welt leben als in Maribor. Doch seien wir ehrlich: Maribor ist Fastfood. Maribor hat von kulinarischer Spitzenkultur keine Ahnung. Also jeder von uns geht ab und an zu McDonald’s, wenn du aber nur diese Scheiße isst, fallen dir bald die Ohren ab. Die Adern verstopfen, Fettleibigkeit, der körperliche Verfall ist sozusagen unausweichlich. So etwas geschah in dieser Stadt auch auf mentalem Niveau. Als man nach dem Krieg alle Deutschen verjagt hatte, bekam die Stadt nur noch intellektuelles Fastfood, billigen Zucker, Fette, Schnitzel. Fünfzig, siebzig Jahre lang so was, und es wird zur Norm.«

»Das klingt sehr selbstkritisch«, sagt Bely und wühlt in seiner schwarzen Aktentasche herum. Rosa rutscht nervös auf dem Sitz hin und her, trinkt etwas Cola und schiebt sich mit ihren in weißen Handschuhen steckenden Fingern die Sonnenbrille zurecht.

»Nur uneingeschränkte Selbstkritik kann uns retten. Und dass wir auf das ureigene Potenzial dieser Stadt bauen. Manchmal brauchen wir auch andere, die uns etwas beibringen. Schauen Sie sich um. Wir Menschen sind die strapazier- und anpassungsfähigsten Lebewesen des Planeten. Vielleicht sind nur noch die Viren so anpassungsfähig, nichts anderes. Die Saurier haben sich nicht angepasst. Die Korallen haben sich nicht angepasst. Der tasmanische Tiger. Der Mensch kann sich aber schon innerhalb einer einzigen Generation ganz und gar verändern. Schauen Sie sich die Chinesen an. Vor dreißig Jahren waren sie alle noch eins fünfzig groß, heute gehören sie in der NBA bei den stärksten Teams zu den Starting Five.«

Der Präsident beugt sich dabei zufrieden ein wenig näher zum Diktafon, schlürft kalten Kaffee aus dem Plastikbecher und fährt fort: »Unser Selbsterhaltungstrieb ist aufs engste mit der Nahrungsaufnahme verbunden. Wenn wir etwas wirklich Gesundes essen, zum Beispiel etwas Hausgemachtes, ein Haushuhn etwa oder eine Suppe in einem makrobiotischen Restaurant, was wünscht sich danach unser Körper instinktiv? Er giert danach, etwas Fettiges, Süßes, Schweres und Verbotenes zu sich zu nehmen. Warum? Weil der Körper instinktiv weiß, dass er regelmäßig Dreck schlucken muss, um immun und anpassungsfähig zu bleiben. Schauen Sie sich Babys an. Sie lecken den schmutzigen Boden ab, stopfen sich den Mund mit Erde und Würmern voll. Wir denken, das ist, weil sie dumm und noch nicht sozialisiert sind. Dabei ist die Wahrheit gerade das Gegenteil. Vor allem das Baby weiß am besten, was gut ist. Weil aus ihm der unverdorbene Instinkt spricht. Vegetarier warnen vor der Krainer Wurst als ungesunder Nahrung, man weiß warum. In Wirklichkeit aber riecht sie doch für uns alle verführerisch! Weil sie so gut riecht, haben wir sie gern, und deshalb ist sie auch gut für uns. Wer regelmäßig Krainer Würste isst, wird ein ganzes Leben lang gesund und kräftig sein. Am wichtigsten ist aber, dass wir hausgemachtes Essen, das heißt zu Hause im Krainerland geschlachtete und hergestellte Würste, essen. Darüber hinaus ist es aber …«

Während er zustimmend nickt, holt Adam Bely seinen Füller aus der Tasche und beginnt ihn gleichmäßig hin und her zu bewegen,

»… für die Energiezufuhr von absoluter Wichtigkeit, dass man …«

Der Präsident folgt dem Füller, seine Stimme wird schwächer.

»… zu Hause geschlachtetes Fleisch isst. Zu Hause geschlachtete Tiere sind …«

Der Präsident schmunzelt. Er fasst sich mit größtem Genuss zwischen die Beine, wie ein kleiner Junge, der gerade in die Hose gepinkelt hat, und leckt sich die Lippen …

»… besondere Tiere, sie haben …«

Der Präsident bleibt mitten im Satz mit offenem Mund sitzen und starrt auf Belys Füller.

»Was ist an zu Hause geschlachteten Tieren so besonders?«, fragt Bely und verstaut den Füller wieder im Sakko.

»Sie teilen unser Todesparadigma«, sagt langsam, Silbe für Silbe, der Präsident des Vorstandes der Fleischfabrik MES.

Adam Bely drückt ihm die Metallwalzen des E-Meters in die Hand, schaltet ein. Die Nadel rückt in die Mitte der Messskala, bleibt stehen.

»Wiederhol das«, sagt Bely.

»Unser Todesparadigma.«

»Wiederhole.«

»Unser Todesparadigma.«

»Noch einmal«, sagt Bely.

»Unser Todesparadigma.«

»Was ist das Todesparadigma?«, fragt Bely.

»Das Moment des Austauschs von Körpern«, sagt Mes. »Wenn das Paradigma ruhig ist, kann man das am Geschmack des Fleisches erkennen. Die Schweine müssen so ruhig wie nur möglich sein, wenn sie sterben. Am besten, sie wissen überhaupt nicht, was im nächsten Moment passieren wird. Das ist das beste Rezept für Krainer Würste. Das Geheimnis steckt nicht im Knoblauch und den Gewürzen. Das Geheimnis steckt in der Art, wie die Schweine sterben.«

»Was für ein Todesparadigma haben wir?«

»Unser Todesparadigma ist anders. Von Natur aus sind wir Slowenen unruhige Seelen, und die Krainer noch mehr. Unsere Tiere stehen zu sehr unter Stress, wenn sie sterben. Das ist nicht gut für die Würste. Deshalb mischen wir dem Fleisch in den Würsten meist fünfzehn Prozent fein zerriebenen Reifengummi bei, um es zu beruhigen. Doch das kann man ändern. Einzig wichtig ist, dass wir Fleisch essen, das wir selbst umgebracht haben. Mit diesem Fleisch essen wir uns selbst. Wir essen die Energiezustände, die wir dem Tier bei der Schlachtung mitgegeben haben.«

»Wer macht die besten Krainer Würste?«

»Die Bosnier. Sie sind die ruhigsten. Doch die wollen keine Schweine schlachten, die schlachten nur Hühner.«

»Schlachtet ihr bei euch auch Hühner?«

»Wir haben ein Halalzertifikat. Die Nazis haben die Fabrik auf zwei Ebenen gebaut, eine oberhalb und eine unter der Erde. Es war möglich, die obere Etage ganz unter die Erde abzusenken. Die Orientierung ist wunderbar. Wir brauchen nicht viel umzustellen, um auf dem unteren Stockwerk Hühner zu schlachten, die Richtung Mekka ausgerichtet sind.«

»Und oben?«

»Offiziell ist es eine Fabrik von Jagdgewehren. In Wirklichkeit machen wir aber Krainer Würste. Unsere muslimischen Kunden würden uns pfählen, wenn sie wüssten, dass wir über den Köpfen ihrer Hühner Schweinsdärme füllen.«

Bely beobachtet das E-Meter. Der Zeiger verharrt in der Mitte.

»Hast du keine Angst?«, fragt Bely.

»Ich hab Angst, dass rauskommt, dass wir die Produktion der Jagdgewehre anderswohin verlegt haben, weil das Auftragsvolumen so stark gestiegen ist. Die Chinesen schießen so gerne.«

»Exportierst du Gewehre nach China?«

»Auch. Gewehre und Hühnerkrallen. Das ist ein großes Business.«

»Was siehst du, wenn ich blau sage?«

»Ich seh das Meer.«

»Was siehst du, wenn ich Meer sage?«

»Ich sehe meinen Traum. Schwarze Tinte fließt in meinen Traum. Alles ist dunkel. Doch das ist keine Tinte, das ist altes Maschinenöl. Hitler war ein Genie.«

Mes schneidet eine Grimasse und lacht auf.

»Er wusste, wie man große Komplexe hinstellt«, fährt Mes fort. »Er könnte auch heute Ordnung schaffen. Doch das Öl verdeckt alles. Die alte Hydraulik ist kaputt«, lacht Mes erneut. »Es gibt keinen, der uns nun durch diese Benzinnacht anführen würde.«

»Du meinst die Hydraulik, die in deiner Fabrik die Plattform hebt und senkt?« Bei dieser Frage gibt Bely Rosa Portero ein Zeichen. Sie nimmt ihre Sonnenbrille langsam ab und holt aus ihrem Nerzmantel die silberne Puderdose heraus.