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Inhalt

[Cover]

Titel

1. UNUMGÄNGLICHES DETAIL DER BIOGRAFIE

Ausflug

2. REKONSTRUKTION DER EREIGNISSE

Kaktus

Diebstahl

Käfer

Ring

Herr

Bosnischer Eintopf

Hanumica

Gong

Slobodan

Forelle

Bart

Cico Eroberer

Kommunist

Grab

Kondor

Gärtner

Aufwachen

Woiwode

Diagnose

Kolonie

Deklination

Foto

Reisen

Blinder

Zvono

Brief

Saxofon

3. WHO WILL BE THE WITNESS

Bibliothek

Nachwort: Zersprungene Spiegel

Autorenporträt

Übersetzerporträt

Über das Buch

Impressum

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Sarajevo Marlboro

1.


UNUMGÄNGLICHES DETAIL DER BIOGRAFIE

Ausflug

Ein Kopf gehört aufs Kopfkissen, alles andere ist grauenhaft. Ein weicher Untergrund, der nachgibt. Die weggenickte Welt schaukelt, mit der Schläfe schlägst du an die knochige Schulter deiner Mutter, du klappst ein Auge auf und siehst das Spiel der Schatten auf dem Boden, die optische Täuschung einfacher geometrischer Figuren, und schläfst wieder ein. Dir wird schlecht, davon wachst du auf; du sitzt im Bus unter lauter Mitarbeitern der Dienststelle für gesellschaftliche Zahlungsverkehrsabwicklung, die zu einem Betriebsausflug nach Jajce unterwegs sind. Nur deine Mutter hat ein Kind dabei; du sollst die Wasserfälle sehen, befand sie kategorisch; und jetzt bäumt sich dein Magen auf, und dein Kopf ist wie ein trüber Sumpf, den kein Wasserfall der Welt je klären könnte. Aber da musst du durch. Die dicke Busscheibe dröhnt regelmäßig ins Bewusstsein, Bilder fliegen vorbei, die sich später, in zehn Jahren vielleicht, in die typischen Landschaften der Heimat verwandeln, von denen du mit Übertreibung und Begeisterung Bekannten aus anderen Ländern und Landschaften erzählen wirst.

Der Tag ist regnerisch, und die Bosna tobt unter den Brücken, nichts spricht für einen Ausflug. Finanzbeamte mittleren Alters unterhalten sich lebhaft oder beobachten die drei blonden Sekretärinnen, die in großen Strandtaschen gebratene Hähnchen, Schminksachen und Kämme, Schmerztabletten, Sonnenöl und die kleinen Dinger dabeihaben, von denen du noch nicht weißt, dass Frauen sie einmal im Monat brauchen, dieses eine Mal aber grundsätzlich auf einen Ausflug oder eine Feier fällt.

Du beobachtest einen Fiat 600 mit vier jungen Männern drin, die den Bus überholen. Von oben sehen sie wie lustige Zwerge aus, denen der Regen gerade recht kommt. Sie veranstalten mit jedem, den sie unterwegs treffen, ein Wettrennen durch die nass glänzende Welt. Aber das fällt offenbar nur dir auf. Die anderen Leute im Bus haben Wichtigeres zu tun; einen freien Tag unter der Woche muss man schließlich nutzen. Der Džemo mit den Zahnlücken lässt seinen Flachmann kreisen und macht sich einen Spaß daraus, ihn dir auch hinzuhalten. Du hältst es für Wasser, aber dann schlägt dir der scharfe Gestank jener Flüssigkeit entgegen, mit der dir eine Krankenschwester vorm Impfen die Haut abgerieben hat. In dem Moment dreht sich dein Magen endgültig um, du spuckst einen bitteren gelblichen Mischmasch, der dir noch lange säuerlich in die Nase steigt, auf den Sitz vor dir.

Der Bus bremst und hält mitten auf der Straße. Der Fahrer steigt aus und mit ihm alle Fahrgäste. Die Mutter befiehlt dir drinzubleiben, aber du magst nicht allein im Bus sitzen, läufst zu der Gruppe, drängelst dich zwischen den Beinen durch und erblickst einen völlig zerknautschten Fiat, aus dem ein Arm ragt. Die Mutter hält dir mit deiner Hand die Augen zu, du siehst nichts, bis du wieder im Bus bist. Bleiche Fahrgäste kommen nach dir zurück, keiner sagt was, nur eine der Blondinen meint: »Das vermiest uns jetzt den ganzen Ausflug.« Wieso eigentlich? Du fragst es nicht, weil es dumm klingen würde. Die jungen Männer im Fiat sind tot, aber so wie es ausschaut, lässt es dich als Einzigen kalt. Warum trauern um Leute, die keiner gekannt hat? Dann erzählt Džemo von Verkehrsunfällen, die er überlebt oder von denen er gehört hat. Wenn das alles stimmt, denkst du, muss ja jede Reise in einem verbeulten Fiat 600 enden. Auch dein Bus könnte Gegenstand anderer bleicher Blicke werden und eine andere Mutter dir die Augen zuhalten. Das findest du nicht schlimm, im Gegenteil, die Szene hat etwas Verlockendes. Du weißt nicht warum, aber dir gefällt die Vorstellung, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen. Dir ist nicht mehr schlecht, in der Hose stellt sich dein Hänschen auf, wohlig strömt es durch deine Adern. Endlich bist du richtig wach. Du löcherst die Mutter mit Fragen, baumelst mit den Beinen, fragst Džemo nach dem Flachmann, erntest damit ein Mordsgelächter, wirst von allen beachtet und hast es so gut, als wärst du verunglückt.

Jajce besteht aus Riesenlegosteinen. Ein Riese muss sie für einen Werbeprospekt ordentlich hingestellt haben. Nur der Wasserfall ist echt. Der ist groß und gewaltig. Den Ausflug verbringst du in einem überdachten Biergarten. Džemo erzählt, eine Frau sei mal aus Liebeskummer oben vom Wasserfall gesprungen. Als der Mann davon hörte, sprang er auch. Aber die Frau überlebte und fragte am nächsten Tag im Städtchen nach ihrem Freund, und die Leute sagten, er sei ihr nachgesprungen. Da wurde sie furchtbar traurig und sprang noch einmal. Außer dir hat keiner Džemo die Geschichte abgekauft. Du hast noch gefragt, ob der Mann den Sprung überlebt hat. Nein. Na dann, auch wenn dir einfach nicht in den Kopf wollte, warum die Frau einmal überlebt hat, wo Frauen doch schwächer sind als Männer, und der Mann keinmal. Du hast Džemo vorgeschlagen, gemeinsam hinunterzuspringen und zu sehen, wer überlebt. Er wollte nicht.

Unter Jajce gibt es Gänge, aus denen kommt man nicht mehr heraus, wenn man einmal drin ist, haben sie dir erzählt. Da müssen die Jungen rein, die in der Schule auf dem Klo rauchen. Das hat dich arg erschreckt. Du hast nie geraucht, aber jemand könnte ja denken, du würdest rauchen und dich dahin verfrachten. Furchtbar, ein Leben lang im Dunkeln herumzuirren!

Ihr habt eine Ausstellung mit Heldenbildern besucht. Hier hat Genosse Tito Jugoslawien gemacht. Du hast gefragt, ob Genosse Tito auch Jajce gemacht hat. Džemo sagte: Nein, aber das ist genauso, als hätte er. Das hast du nicht verstanden. Du hast gedacht, dass nur Genosse Tito groß genug ist, um Legosteine an einen Wasserfall zu setzen. Džemos »Nein, aber eigentlich doch« war genauso ekelig wie sein Flachmann.

Dann aßen alle in einem Restaurant. Du hast Ražnjići gekriegt, die hast du auf der Rückfahrt in demselben Bus auch ausgekotzt. Aber sie haben trotzdem gut geschmeckt.

Draußen war es inzwischen dunkel, euch hat kein einziger Fiat überholt, ihr habt nicht mehr angehalten, und keiner ist verunglückt. Džemo redete nicht mehr über Unfälle. Er erzählte andere Geschichten, die vermutlich auch nicht stimmten. Oder nur so lange wahr waren, bis euch allen die Augen zugefallen sind. Und als ihr wieder aufgewacht seid, leuchtete der Himmel über den Lichtern von Sarajevo rot wie ein brennender Dachstuhl.

2.


REKONSTRUKTION DER EREIGNISSE

Kaktus

Sie lebte in der ständigen Angst, etwas Wichtiges und Schönes zu verpassen. Sie reiste viel, litt aber häufiger darunter, nicht zu reisen. Das wahre Vergnügen, das echte Glück waren immer anderswo, und sie schmiedete ständig Pläne, um es zu erhaschen, als gebe nur permanente Bewegung eine Chance auf jenen kristallklaren Augenblick, in dem das Leben – wenigstens im Traum – zum Märchen wird.

Ende Dezember 1990 beschloss sie, wir würden Silvester mit einem Haufen unbekannter Menschen auf Hvar feiern. Voller Begeisterung unterbreitete sie mir ihre Entscheidung als Vorschlag, ich wendete dies und das ein, aber da wurde sie so traurig, dass ich ihre Entscheidung schließlich als unsere Entscheidung betrachtete. Am vorletzten Tag des Jahres sammelte sich die Gruppe in Marijindvor. Es war sehr, sehr früh, die Straßenbahnen fuhren noch nicht. Ich lernte lauter blasierte Typen und schicke junge Frauen kennen und musste wie immer an Besäufnisse denken. Wir zwölf plus ein Berg von Gepäck plus eine lebhafte Boxerhündin mussten auf drei Autos verteilt werden. Zwei Golfs vorneweg, eine schrottreife Ente hintendrein. In der sollten wir beide, ein Student der Elektrotechnik mit beginnender Glatze, seine dicke, hässliche Freundin und der Hund fahren. Die Karre wurde von Klebeband zusammengehalten, mit dem man sonst Pakete zumacht, der Wind pfiff durch die Ritzen, und die Füße fielen fast durch den Boden. Wir schlichen unerträglich langsam Richtung Süden, die Dicke ließ sich über Pariser Parfüms aus, und der Hund furzte fortwährend laut und stinkend. Ich lachte jedes Mal darüber, ließ irgendeine Bemerkung fallen und achtete insgesamt höllisch darauf, dass meine Freundin den Eindruck gewann, ich amüsiere mich prächtig. Das Ivan-Gebirge quälte sich die Ente mit zwanzig Stundenkilometern hinauf, in Konjic hustete sie zweimal und blieb liegen. Die Boxerhündin ließ vor unserer Nase neuerlich laut einen fahren und kläffte fröhlich dazu. Wir kletterten aus dem Wagen, auch die im Golf hielten an, und dann wurde beratschlagt, was zu tun sei. Jeder Lösungsansatz lief darauf hinaus, dass wir zu viele waren. Als bereits beschlossen war, wer mit dem Zug und wer mit dem Auto weiterreisen sollte, fasste ich sie an der Schulter und flüsterte: »Sollen wir nicht einfach zurückfahren?«

Sie sah mich nicht böse an, wie ich erwartet hatte, sondern zuckte die Achseln und seufzte.

»Wer sagt es ihnen?«

»Sag du’s, du bist der Mann.«

»Besser du, es sind deine Bekannten. Außerdem denken die bestimmt, wir wären sauer, wenn ich es sage.«

Natürlich verkündete sie unseren Beschluss, nach Sarajevo zurückzufahren. Ich habe mich schon immer darauf verstanden, angenehme wie unangenehme Entscheidungen an andere zu delegieren.

Der nächste Zug fuhr in zweieinhalb Stunden. Wir warteten in einem kalten, menschenleeren Saal, warfen uns Blicke zu und spielten das Spiel kleiner, zärtlicher Berührungen.

»Echt schade!«, log ich.

Sie machte sich Vorwürfe, weil sie mir Silvester verdorben hätte. Mit Zärtlichkeit und männlicher Tücke brachte ich sie von dieser Idee wieder ab.

»Ich finde es auch wegen des Geschenks schade.«

Ich war schon immer ganz wild auf Geschenke, also wollte ich es unbedingt direkt in Konjic auspacken. Sie weigerte sich, ihr war der Moment nicht festlich genug. Noch immer hoffte sie auf jenen kristallklaren Augenblick. Na ja, ich sagte schon, dass ich Überredungskünstler bin.

Behutsam öffnete sie den Rucksack und zog noch behutsamer die Schachtel eines edlen Weinbrands heraus.

»Mach’s auf!«

Die Schachtel war leicht, es konnte also schon mal keine Flasche drin sein. Das wäre sowieso dumm gewesen. In der Schachtel steckte etwas hübsch in weißes Papier Gewickeltes. Mit Gesten bedeutete sie mir, beim Auswickeln ganz vorsichtig zu sein. Ein Minikaktus in einem Miniblumentopf. Nicht größer als der Daumen eines Säuglings.

Ich habe ihr nie erzählt, dass ich Zimmerpflanzen nicht leiden kann. Sie verlangen Aufmerksamkeit und Regelmäßigkeit, du musst an sie denken, und ich schaffte es noch nicht einmal, an die Menschen zu denken, die mir wichtig waren. Nach Großmutters Tod vertrockneten alle Pflanzen in meinem Zimmer. Das fand ich sehr traurig, obwohl ich sie nicht leiden konnte.

Ich lächelte, gab ihr einen Kuss und äußerte ein paar entzückte Worte. Als sie mir meine Begeisterung endlich abnahm, holte ich Chanel No. 5 (beim Kauf hatte ich natürlich an Marilyn gedacht) und Susan Sontags Essay über Fotografie aus meiner Tasche. Ich habe ihr nie nur ein Buch geschenkt, denn sie nahm vermutlich zu Recht an, dass ich beim Bücherschenken eher an mich als an sie dachte.

Den Kaktus stellte ich an einen halbschattigen Platz zwischen die Gipsfigur des heiligen Vlaho und einen Glückskiesel, der ein Loch in der Mitte hat. Einige Monate später begann der Krieg in Kroatien, der Špegelj-Film, Plitvice, Borovo Selo …

Ich goss den Kaktus ordnungsgemäß alle fünf Tage und passte auf, dass ich ihn nicht verrückte. Großmutter hatte gesagt, einen Kaktus dürfe man nicht umstellen, sonst ginge er ein. Wo man Kakteen hinstellt, wäre nicht so wichtig, besonders anspruchsvoll wären sie auch nicht, aber sie bräuchten ihren festen Platz. Ich hegte diesen Kaktus und wunderte mich über mich selbst, dass mir dabei kein Fehler unterlief.

Und statt abzusterben wie die meisten Geschenkchen, die man vor den Feiertagen in den Geschäften bekommt, fing der Kaktus an zu wachsen. Er breitete seine Stacheln aus, zart wie bei einem ganz jungen Igel, wurde dicker und krümmte sich leicht zur Sonne hin. Er ähnelte nicht mehr dem Daumen eines Säuglings. Kam sie in mein Zimmer, freute sie sich, dass der Kaktus nicht an meiner Nachlässigkeit zugrunde gegangen war.

»Er sieht dir allmählich ähnlich.«

»Der Kaktus?«

»Genau genommen nicht dir, sondern einem Körperteil von dir.«

Das war mir zugegeben noch nicht aufgefallen, aber nachdem sie es gesagt hatte, sah ich es auch so. Der Kaktus wurde in unserem Leben zum witzigen Detail, zu dem Detail, durch das eine Liebe aus dem Rahmen fällt und erinnerungswürdig wird.

In der Zeit, in der Vukovar zerstört wurde, spürte ich einen eisigen Atem im Nacken. Das Leben war zu einer ernsten Angelegenheit geworden, anders als alles, was ich darüber wusste. Jeder Fehler konnte sich als schicksalhaft erweisen, das war mir klar, obwohl ich das Wie und Warum noch nicht verstand.

In den letzten Märztagen 1992 verließ sie die Stadt. Es war, als würde sie einen Ausflug machen. Sie verabschiedete sich nicht.

In den ersten Apriltagen zog ich in den Keller. In der Krone des Apfelbaums explodierte eine Granate. Die Fenster barsten, und ein Splitter, kaum größer als ein Reiskorn, traf den alten österreichischen Spiegel der Psyche neben dem Schrank. Die Sprünge im Glas waren so gleichmäßig wie die Meridiane auf einer Landkarte. Das Telefon funktionierte noch, und ich erzählte es ihr. Sie verstand es nicht. Wahrscheinlich hat sie gedacht, mein Kopf hätte einen Sprung.

Alle fünf Tage ging ich hoch und goss den Kaktus. Jetzt krümmte er sich zu den Stellungen der Tschetniks hin. Ich schaute angestrengt gegen die Sonne und rechnete jeden Moment mit einer Kugel. Unten war es warm, feucht und anheimelnd. Es roch nach faulen Kartoffeln, Kohlenstaub reizte die Augen. Eine Gebärmutter kann nicht gemütlicher sein.

Sie war überzeugt, dass der Tod nur in Sarajevo wohne. Sie wurde pathetisch und war ganz weit weg. Sie fragte, ob ich mit ihr nach Neuseeland gehen würde. Ich sagte, ich würde im Keller wohnen, das Land sei sehr weit weg, und ich könne mir nicht vorstellen, dort besonders glücklich zu sein. Nach dem Kaktus fragte sie nie. Ich erwähnte ihn nicht.

Menschen verändern sich, wenn sie ständig im Dunkeln leben. Das geschieht unmerklich. Es gibt die Geschichte von dem Mann, der ganz normal ins Bett ging und am nächsten Morgen vollkommen ergraut aufwachte. Er konnte niemandem sagen, was er geträumt hatte. In jenen Apriltagen lebte ich in panischer Angst vor Kälte.

Eines Morgens, am fünften Tag, war in der ganzen Wohnung das Wasser gefroren. Da fiel mir ein, dass ein Kaktus keinen Frost verträgt. Ich nahm ihn mit in den Keller und stellte ihn vor den Ofen, den wir mit Kohlenstaub beheizten. Weder zu nah dran noch zu weit weg. Genau dahin, wo es Kakteen wie Menschen angenehm ist. Dachte ich jedenfalls.

Am nächsten Tag hing er über den Rand des Blumentopfs. Wie? Na ja, kopfüber, als wäre die Sonne irgendwo unter ihm. Ich goss ihn ein letztes Mal, obwohl ich wusste, dass es vorbei war.

Der Krieg hat mich die Fertigkeit gelehrt, meine Gefühle und Nerven zu beruhigen. Wenn Sie mir etwas erzählen, was mich erschüttern könnte, geht irgendwo in mir drin ein rotes Lämpchen an, wie wenn ein Tonbandgerät aufnimmt und alles löscht, was vorher auf dem Band war, und ich spüre nichts mehr. Aber wenn ich an den Kaktus denke, hilft alles nichts. Er ist wie ein winziges Derivat der Trauer, scheinbar so unschädlich wie das Zyankali der Bittermandel. Früher wurden manche Menschen furchtbar traurig, weil ein Pferd im Stehen verreckt, und ich werde traurig, weil Kaktusse hin sind wie der Knabe in dem Goethe-Gedicht. Die Sache ist an sich völlig belanglos, nicht mehr als ein Fingerzeig, dass man sich vor den Details hüten muss. Und zwar nur vor den Details.

Diebstahl

In unserem Garten wuchs ein Apfelbaum, dessen Früchte am besten von ihrem Fenster zu sehen waren. Vergeblich kauften Rade und Jela auf dem Markt Obst für ihre Töchter; kein Apfel der Welt war, von ihrem Fenster aus betrachtet, so verlockend wie ein Apfel von unserem Baum. Waren die Eltern auf der Arbeit, kletterten die Mädchen über den Zaun und pflückten die vollreifen Früchte. Ich verscheuchte sie, bewarf sie mit Lehmklumpen und Steinchen, verteidigte meinen Besitz, obwohl mich weder diese noch irgendwelche anderen Äpfel jemals sonderlich interessierten. Aus Rache erzählte die jüngere Tochter meiner Mutter, ich hätte in Mathe eine Fünf geschrieben. Meine Alte rannte in die Schule, überzeugte sich von der Richtigkeit der Behauptung und malträtierte mich tagelang mit Gleichungen mit zwei Unbekannten. Mein Leben wurde unerträglich durch die vielen Ixe und Ypsilons, und ich wollte es ihr mit allen Mitteln heimzahlen. Ich bezog ein gutes Versteck und wartete den ganzen Tag auf die Diebinnen. Sie kamen tatsächlich, und ich sprang aus dem Gebüsch, packte die Jüngere am Haar und wollte sie in unsere Speisekammer sperren, bis meine Mutter von der Arbeit kam und das Urteil sprechen konnte. Die Kleine wehrte sich voller Wut und unter Gebrüll, bis ich nur noch einen Büschel Haare in der Hand hatte, an dem ein Stück Kopfhaut hing. Ich flüchtete nach Hause, schloss mich ein und hörte nach kurzer Zeit Rade schreien, er würde mich umbringen. Das sagte er auch meiner Mutter, die ihm nichts schuldig blieb. Stundenlang flogen Beleidigungen von Fenster zu Fenster. Sie beschimpfte ihn als Gangster aus Kalinovik, er bezeichnete sie als stinkende Schlampe.

In den folgenden zwanzig Jahren grüßte keiner keinen, und die Schwestern kamen nie wieder zum Klauen. Immer wieder wurde es August und September, die Äpfel wurden Jahr für Jahr so schön wie eh, wir wurden größer und sahen uns nicht an, die Eltern wurden alt und vergaßen den Streit nicht. Die Mädchen heirateten und zogen fort, der Ärger blieb.

In den ersten Kriegstagen durchsuchte die Polizei die Wohnung von Rade und Jela und fand zwei Jagdgewehre und eine automatische Waffe. Die Nachbarn erschraken, und Gerüchte machten die Runde, wen Rade wie hatte umbringen wollen. Er verließ die Wohnung nicht mehr. Wahrscheinlich wartete er darauf, dass sie ihn abholten. Jela ging einkaufen und zur humanitären Hilfe und holte Wasser, bis zu dem Tag, an dem zehn Meter vor ihr eine Granate einschlug und ihr den Arm abriss. Damals sahen die Nachbarn Rade zum ersten Mal wieder. In einem Monat um hundert Jahre gealtert, trat er mit einem Schüsselchen Suppe und drei verschrumpelten Zitronen aus der Wohnung. Jeden Tag ging er ins Krankenhaus, den Blick fest auf den Asphalt geheftet vor lauter Angst, seine Augen könnten anderen Augen begegnen.

In diesem Kriegsaugust wurden die Äpfel schöner denn je. So schöne Äpfel hatte es seit dem Paradies nicht mehr gegeben. Ich kletterte in die Spitze des Baums, von dort konnte man die Četnik-Stellungen auf dem Trebević genau sehen. Ich stand über dem Abgrund und pflückte die Äpfel mit der Geschwindigkeit von Dagobert Duck, der seine Dukaten in den Tresor wirft. Als ich zu dem Ast kam, der einen halben Meter vor Rades Fenster wuchs, sah ich ihn im Zimmer stehen. Wie festgefroren hing ich im Baum, während er zurückwich. Ich weiß nicht warum, aber ich wollte nicht, dass er ging.

»Wie geht’s, Onkel Rade?«

»Pass auf, Sohn, das ist hoch, fall nicht …«

»Wie geht es Tante Jela?«

»Ha, sie hält sich mit ihrem einen Arm an dem bisschen Leben fest. Sie soll bald entlassen werden.«

Wir sprachen zwei lange Minuten miteinander. Mit der einen Hand umklammerte ich den Ast, mit der anderen die Tüte mit den Äpfeln. Mich überschwemmte eine Übelkeit, die stärker war als Granaten und gefundene und nicht gefundene Gewehre. Oben in der Krone, unter seinem Fenster, verlor alles, was ich über mich selbst und andere wusste, irgendwie seinen Sinn.

»Weißt du, wenn du den Arm verlierst, denkst du lange, er ist noch da. Das ist die Psyche. Ich bringe ihr ein bisschen was Selbstgekochtes, aber da ist kein Leben drin. Ich sehe die Erbsen, den leeren Suppenteller, und dann sehe ich sie an und sage Jela, und sie sagt nichts. Dann sagt sie Rade, und ich sage nichts. In uns ist gerade noch so viel Leben, dass wir uns ansehen und zu dem Schluss kommen, dass wir nicht leben. Mehr nicht. Ich sehe diese Äpfel, in denen ist so viel Leben. Die geht das alles nichts an, die haben keine Ahnung. Ich darf sie nicht einmal erwähnen …«

Ich beugte mich zum Fenster und hielt ihm die Tüte hin. Er war überrascht und fing an, den Kopf zu schütteln. Ich hatte einen Kloß im Hals und bewegte nur die Lippen. Eine halbe Minute hing ich so da; wenn die Tschetniks mich gesehen haben sollten, haben die sich bestimmt gewundert. Rade zitterte wie einer, von dem wirklich nichts geblieben ist. Nur das Zittern eines unglücklichen Tiers. Er streckte am Ende die Hand aus und konnte wieder nichts sagen.

Am nächsten Tag klopfte Rade an unsere Tür, entschuldigte sich, er wolle nicht stören, und gab uns etwas, das in Papier eingewickelt war. Er machte auf dem Absatz kehrt, ich kam nicht mehr dazu, ihn etwas zu fragen. In dem Papier war ein kleines Glas mit Apfelmarmelade.

Jela kam kurze Zeit danach aus dem Krankenhaus. Die beiden lebten wieder eingeschlossen hinter ihrem Fenster, und Rade ging nur zur humanitären Hilfe aus dem Haus. Einmal stand er hinter meiner Mutter in der Schlange und flüsterte ihr zu: »Danke.« Sie drehte sich um, und er sagte wieder, in den Äpfeln wäre Leben.

In den folgenden Monaten holten ihn Männer in Uniform zweimal ab und brachten ihn wieder zurück. Die Nachbarn beobachteten es durch die Spione, und dann erinnerten sie sich, wahrscheinlich um ihr Gewissen zu beruhigen, an die Gewehre. Einige wärmten die Geschichte auf, dass Rade schließlich jemanden hatte umbringen wollen, und die anderen schwiegen. Der bloße Gedanke an den Mann tat weh. Am einfachsten wäre es gewesen, ihn zu hassen, aber es ging nicht.

Ich weiß nicht, wer Rade und Jela umgebracht hat. Sie schieden leise, eingesperrt in ihre Angst. Vielleicht sage ich jetzt ja etwas Dummes, aber an den Mann erinnere ich mich nur wegen der Marmelade und weil er sich nie, auch nachts nicht, aus dem Fenster lehnte und Äpfel pflückte.